Herausgegeben von Ludwig von Pufendorf für den Förderkreis Brücke-Museum. Mit Beiträgen von Katrin
und Hans Georg Hiller von Gaertringen, Friedrich Kiechle, Magdalena M. Moeller, Ludwig von Pufendorf,
Peter Raue, Leopold Reidemeister, Michael Scharbert und Volker Wahl

Kerber Art, Kerber Verlag Bielefeld, 2018, ISBN 978-3-7356-0488-0, 264 Seiten, 98 farbige und 42
schwarzweiße Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 29 x 25 cm, € 45,00 / CHF 55,26

Die Restitution von Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszene im Jahr 2006 an Anita Halpins, die
Enkelin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess (vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=kirchner+berliner+stra%C3%9Fenszene&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwiUyoqr3
fPdAhVoqIsKHRu8APQQsAR6BAgDEAE&biw=1500&bih=910), hat die Frage aufgeworfen, ob diese
Rückgabe zurecht – weil verfolgungsbedingt – erfolgt ist oder nicht. Alfred Hess (1874 –1931) hatte 1915
die Schuhfabrik seines Vaters übernommen und war geschäftsführender Gesellschafter der Fabrik geworden.
1919 hat er begonnen, Kunst zu sammeln. 1930 geriet das Familienunternehmen im Zuge der
Weltwirtschaftskrise in die Zahlungsunfähigkeit. Die Witwe Tekla Hess hat am 20. Februar 1932 das
inzwischen überschuldete Erbe ausgeschlagen; Alleinerbe wurde der gemeinsame Sohn Hans Hess. Das über
der Schuhfabrik schwebende Vergleichsverfahren konnte nach diversen Verhandlungen und Vergleichen am
19. Mai 1933 durch das Amtsgericht Erfurt aufgehoben werden.

Gestritten wird nun über die Frage, ob der Verkauf von Ernst Ludwig Kirchners Schlüsselwerk von 1913 zur
Jahreswende 1936/37 an den deutschen Sammler Carl Hagemann ohne die NS-Herrschaft „zu diesem
Zeitpunkt, an diesem Ort“ und zu dem verlangten Kaufpreis wirtschaftlich notwendig gewesen wäre und ob
der vereinbarte Kaufpreis von 3000 Reichsmark geflossen ist oder nicht (vergleiche dazu die Presseerklärung
zur Rückgabe des Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner „Berliner Straßenszene“: https://weFriedrich
kiechleb.archive.org/web/20160820181323/http://www.nazi-looted-art.de/kirchner-restitution/ und Ludwig
von Pufendorf, Dokumentarische Chronologie. Eine Einführung, S. 57 – 122, dort insbesondere S. 81 ff. und
S. 103). Für den unter anderem mit Erb- und Restitutionsrecht befassten renommierten Verwaltungsjuristen,
Rechtsanwalt und Vorsitzenden des Freundeskreises des Berliner Brücke-Museums Ludwig von Pufendorf
ist die Antwort eindeutig: Sie war „nicht ein Funken verfolgungsbedingt“ (Ludwig von Pufendorf nach
Dorothee Baer-Bogenschütz, Wieder im Rampenlicht. In: Kunstzeitung Juni 2018 S. 5).

Die von ihm 11 Jahre nach der Versteigerung von Kirchners Hauptwerk am 8. November 2006 bei Christies
in New York vorgelegte akribisch recherchierte Dokumentation zur Provenienz von Kirchners Berliner
Straßenszene, den Umständen ihres Verkaufs, ihrer Bedeutung für das Berliner Brücke-Museum, ihrer
Restitution an Anita Halpins und ihrer Ersteigerung durch den Kosmetikerben Ronald S. Lauder für 30
Millionen Euro will auf grundsätzliche Problemstellungen aufmerksam machen, die bei
Restitutionsverfahren anhängig sind und einen öffentlichen Diskurs verlangen.

Die Probleme fangen für von Pufendorf damit an, dass sich öffentliche Institutionen nicht selten scheuen, die
Herausgabe von Kulturobjekten zu verweigern, weil sie die Auseinandersetzung in den Medien scheuen oder
bei der Herausgabe auf die mediengestützte positive Wirkung etwa bei Wahlen setzten. „Hinzu kommt, dass
teilweise auch die Auffassung vertreten wird, dass jedes Kulturgut, das sich zu Zeiten des NS-Regimes vor
seiner Veräußerung in jüdischem Besitz befunden hat, allein aufgrund des der jüdischen Bevölkerung
zugefügten Unrechts in jedem Fall zurückzuerstatten sei. Dabei wird jedoch nicht nur die
Präzedenzfallwirkung solcher offenkundigen Fehlentscheidungen verkannt, sondern auch, dass wesentliche
schuldzuschreibungsmotivierte moralische Beurteilungskriterien, denen die ethikimmanenten Maßstäbe des
Rechts abhandenkommen sind, zwangsläufig zu neuem Unrecht führen“ und „wiedererstarkten
rechtsradikalen Kreisen neue Nahrung geben“ (Ludwig von Pufendorf S. 7). Im Berliner Verfahren hat nicht
nur überrascht, dass die Entscheidung ohne konkrete, substanziierte Auseinandersetzung mit den historischen
Fakten verteidigt wurde, sondern auch, wie sehr sich die Institutionen unter einen nicht „zu rechtfertigenden
pseudomoralischen Druck setzen“ ließen und sie das in der Washingtoner Erklärung zur Restitution von von
Nationalsozialisten beschlagnahmten Kunstwerken und in ihrer deutschen Adaption vorgesehene
„Mediationsangebot einer Anrufungsmöglichkeit“ zu keinem Zeitpunkt auch nur in Erwägung gezogen
haben (Ludwig von Pufendorf S. 8).

Schließlich hätte darauf bestanden werden müssen, dass die Erbenseite keine für das Verfahren relevanten
Unterlagen zurückzuhalten darf und dass die von ihr unterbreitete Faktenlage zwingend nachrecherchiert
werden muss. „Nichts dergleichen ist indessen geschehen“. Spätestens nach der Erklärung der Erbenseite,
dass es der Antragstellerin und Erbin […] vorbehalten bleiben muss, zu entscheiden, ob und welche
Unterlagen und auch wann diese der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, „hätten alle Hebel in
Bewegung gesetzt werden müssen, sich eigenständig einen Kenntnisstand wie den in der jetzt vorgelegten
Chronologie zu verschaffen. Die Missbrauchsklausel in der Anlage V a bietet dazu folgende Handreichung:
>Hat der Anspruchsteller sich unlauterer Mittel bedient oder vorsätzlich oder fahrlässig unrichtige oder
irreführende Angaben gemacht, veranlasst oder zugelassen (Missbrauch), kann die Herausgabe verweigert
werden.< Von dieser künftig strenger zu handhabenden Klausel auch Gebrauch zu machen, wäre die zwingende Folge gewesen. Die Berliner Straßenszene hinge noch im Brücke-Museum und könnte d a s Glanzstück seiner Jubiläumsausstellung zum 50-jährigen Bestehen sein“ (Ludwig von Pufendorf S. 9). Aus den genannten Gründen soll die vorgelegte Publikation „zu größerer Achtsamkeit gegenüber neuen Missgriffen in der Kulturgüterrestitution mahnen sowie zu genauer Unterscheidung zwischen aufrichtigem Bestreben nach Anerkennung erlittenen Unrechts durch Rückgabe oder Entschädigung und berechnender Instrumentalisierung von Leid beitragen, […] damit durch erwiesenen Missbrauch nicht auch noch ein Schatten auf jene Restitutionen fällt, die auf transparente Weise zu Recht erfolgt sind“ (Ludwig von Pufendorf, a. a. O.). Dass der Kerber Verlag die Herausgabe des Buches übernommen hat, nachdem ein anderer großer deutscher Kunstverlag das Buchprojekt gecancelt hatte, ist ihm hoch anzurechnen. ham, 6. Oktober 2018 Download

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