Publikation zur Ausstellung zum 70. Geburtstag von Erwin Wurm in der ALBERTINAmodern, Wien, vom 13.9.2024 bis 23.2.2025 mit einem Vorwort von Klaus Albrecht Schröder und Texten von Antonia Hoerschelmann, Konrad Paul Liessmann und Lydia Eder
Hirmer Premium, Hirmer Verlag, München, 2024, ISBN: 978-3-7774-4378-2, 320 Seiten, 240 Abbildungen in Farbe, Hardcover mit Prägung, Farbschnitt, Format 26 x 23 cm, € 49,90 (D)/€ 51,30 (A)
Ob sich Erwin Wurm noch an unseren Besuch im Sommer 1993 in seinem Wiener Atelier erinnert, ist offen. Wir hatten damals die Ausstellung „Die Energie-Frage“ des in Wien und im Weinviertel lebenden österreichischen Malers und Bildhauers Bernd Fasching vorbereitet und bei dieser Gelegenheit auch Erwin Wurm besucht. Wurm hat an seinen Staubskulpturen gearbeitet und uns auch seine bemalten Holz- und Blechskulpturen gezeigt. Ich habe danach mit der Frage gerungen, ob ich Wurm zu einer Ausstellung im Hospitalhof Stuttgart einladen sollte und mich dann dagegen entschieden, weil der Hospitalhof damals noch keine geeigneten Präsentationsmöglichkeiten besaß und die Staubskulpturen im Foyer durch die hohen Besucherzahlen bei den abendlichen Vorträgen hochgradig gefährdet gewesen wären.
Bei der Durchsicht des zu seiner Retrospektive in der ALBERTINAmodern (vergleiche dazu https://www.albertina.at/albertina-modern/ausstellungen/erwin-wurm/) erschienenen Katalogs habe ich jetzt wahrgenommen, dass Wurm schon 1989 an seinen Pullover- und Hosenobjekten, Textilinstallationen und Handlungsanweisungen für Pullover gearbeitet hat. Deshalb kommen mir Zweifel, ob meine damalige Entscheidung richtig war. Nach dem heutigen Stand hätten diese Arbeiten problemlos gezeigt werden können. Aber wir sind zu meinem Bedauern nicht auf sie zu sprechen gekommen und vorbei ist vorbei.
Dass Wurms damaliges und sein weiteres Schaffen von Klaus Albrecht Schröder in seinem Vorwort zum spektakulär gestalteten Katalog allein in den Perspektiven der Vergeblichkeit, der Sinnlosigkeit und der Absurdität gelesen wird, geht mir allerdings zu weit. Wurm hat in seinem Lebenswerk immerhin den Begriff der Skulptur sensationell erweitert, in seinem Narrow House alltägliche Probleme wie zu kleinen Wohnraum (vergleiche dazu https://www.koeniggalerie.com/blogs/public-projects/erwin-wurm-narrow-house-le-havre), in seinen Fat Cars Gier und Warenfetischismus(vergleiche dazu https://autorevue.at/blog/erwin-wurm-fat-cars) und in seiner in Wien erstmals gezeigten ländlichen Schule (vergleiche dazu https://www.castyourart.com/erwin-wurm-schule.html) einengendes Denken angeprangert, auf Humor statt auf Belehrung gesetzt und sich mit seinen One Minute Skulptures (vergleiche dazu https://www.erwinwurm.at/artworks/one-minute-sculptures.html) weit über die Kunstszene hinaus Bekanntheit verschafft. Überdies hat er sich nicht gescheut, seinen überdimensionierten Pullover als Fastentuch in den Stephansdom in Wien und damit in den Kontext von Religion und Ritual zu stellen (vergleiche dazu https://wien.orf.at/stories/3035579/ und das Für und Wider zu einer „Philosophie des Absurden“ in https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_des_Absurden).
Wurm hat in seinen Anfängen aus Weggeworfenem und Aufgegebenem allüberall Vorzeigbares und aus Staub bis heute Sehens- und Nachdenkenswertes geschaffen. Er hat die Grenzen der überkommenen Begriffe von Skulptur, Performance, Fotografie und Gemälde in Frage gestellt, Statik und Bewegung in Kunstwerken neu definiert, die gewohnte Wahrnehmung der uns umgebenden Realität zur Seite gekippt und ist mit der Zeit zu einem der erfolgreichsten und bekanntesten Gegenwartskünstler geworden.
ham, 15. Oktober 2024