Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Funk
Psychosozial-Verlag, Gießen, 2020, ISBN 978-3-8379-2958-4, 219 Seiten, Broschur,
Format 21 x 14,8 cm, € 19,90
Erich Fromms Besteller ›Die Kunst des Liebens‹ und ›Haben oder Sein‹ kennen die meisten. Weniger bekannt ist, dass Fromm einen wichtigen Beitrag für eine interdisziplinäre Wissenschaft vom Menschen geleistet hat. Rainer Funk, der letzte wissenschaftliche Mitarbeiter von Fromm und sein Nachlass- und Rechteverwalter hat in der Publikation ›Erich Fromm, Wissenschaft vom Menschen‹ 34 für Fromms Menschenbild zentrale Texte zusammengestellt, die seine Vorstellung verdeutlichen. Für das Menschenbild von Fromm ist die Einsicht entscheidend, dass sich jeder Mensch einer sozialen Gruppe zugehörig fühlen muss, um dem Gefühl der Isolierung zu entkommen. Deshalb muss dieses Bezogensein bei der neuronalen und psychischen Entwicklung fest in einer eigenen neuronalen Netzwerkbildung verankert sein.
„Was also innerlich eine gesellschaftliche Gruppierung zusammenhält und ein soziales Identitätserleben ermöglicht, muss in inneren Bildern und Strebungen des Menschen repräsentiert sein. Fromm hat diese psychische Strukturbildung mit dem psychoanalytischen Begriff des ›Sozialcharakters‹ (oder ›Gesellschaftscharakters‹) zu fassen versucht. Der Sozialcharakter veranlasst viele einzelne Menschen, die eine Lebenspraxis teilen, dazu, so zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie es die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Erfordernisse des Zusammenlebens verlangen. Es muss also in jedem einzelnen Menschen auch zu psychischen Antriebskräften und Strebungen kommen, die diesen gemäß der gesellschaftlichen Gruppe verhalten lassen, so dass das, was eine Gesellschaft psychisch zusammenhält (oder auch zerbrechen lässt), in den sozialcharakterlichen Strebungen ihrer Mitglieder erforscht werden kann“ (Rainer Funk S. 8). Mit dem Begriff des Sozialcharakters entwarf Fromm eine wesentliche Brücke zwischen Soziologie, Sozialpsychologie und Charakterkunde. Diese Verbindung wird im ersten Kapitel mit entsprechenden Texten illustriert.
Der Charakter – Fromm unterscheidet zwischen dem autoritären, dem narzisstischen, dem nekrophilen und dem Marketing-Charakter – gilt ihm als Ersatz für die fehlenden Instinkte. Im Unterschied zu Freud sieht Fromm das Unbewusste nicht in der Angst vor dem Vater und seiner Kastrationsdrohung begründet, sondern in der Angst vor der Ächtung, Isolierung und Einsamkeit. „Wer Unbewusstes erlebt, erkennt sich selbst als menschliches Wesen; er weiß, dass er alles Menschliche in sich trägt, so dass ihm nichts Menschliches mehr fremd ist. Er kennt den Fremden und liebt ihn, weil er sich selbst kein Fremder mehr ist“ (Erich Fromm S. 127).
„Seelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit zu lieben und etwas zu schaffen, durch die Loslösungen von den inzestuösen Bindungen an Klan und Boden, durch ein Identitätserleben, das sich auf die Erfahrungen seiner selbst als dem Subjekt und dem Urheber der eigenen Kräfte gründet, durch das Begreifen der Realität innerhalb und außerhalb von sich selbst, das heißt durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft“ (Erich Fromm S. 151).
Mit am spannendsten ist Fromms Auffassung von Religion. Unter Religion versteht er „jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem Einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet“ (Erich Fromm S. 184). (– Man kann dieses Verständnis und seine generalisierende Unterscheidung zwischen autoritären und humanistischen Religionen teilen oder mit guten Gründen kritisieren; aber diese Auseinandersetzung wäre an anderer Stelle zu führen.–) „In Frankfurt am Main in einem orthodox lebenden jüdischen Elternhaus groß geworden, wollte Fromm zunächst Talmudlehrer werden, wandte sich dann aber mit 26 Jahren von seiner Mutter- bzw. Vaterreligion ab, um von da an jede Praxis einer persönlichen Gottesbeziehung als Götzendienst zu denunzieren. Er selbst verstand sich nicht als Atheist … und auch nicht als Agnostiker … Fromm verstand sich vielmehr als Nicht-Theist: Im Nicht-Theismus … ist das Freisein von jedem Wissen und jeder Vorstellung von Gott zwingende Voraussetzung für religiöse Erfahrung. Es ging Fromm um eine säkulare, nicht-atheistische Spiritualität und Religiosität“ (Rainer Funk S. 12 f.). „Humanistische Religion … bewegt sich um den Menschen und seine Stärke. Der Mensch muss seine Kraft der Vernunft entwickeln, um sich selbst, seine Beziehung zum Mitmenschen und seine Stellung im Universum zu verstehen. Er muss die Wahrheit erkennen, sowohl hinsichtlich seiner Grenzen, als auch seiner Möglichkeiten. Er muss seine Kräfte der Liebe für andere, aber auch für sich selbst, zum Wachsen bringen und muss die Solidarität mit allen lebenden Wesen erfahren. Er braucht Prinzipien und Normen, die ihn zu diesem Ziele führen.
Religiöse Erfahrung bei dieser Art von Religion heißt Erfahrung des Einsseins mit dem All, gegründet auf die Bezogenheit zur Welt, wie sie jemand in Denken und Liebe erfasst. Das Ziel des Menschen in einer humanistischen Religion besteht darin, seine größte Stärke, nicht seine äußerste Ohnmacht zu erreichen; Selbstverwirklichung ist Tugend, nicht Gehorsam. Glaube bedeutet Sicherheit der Überzeugung, die auf der eigenen Erfahrung im Denken und Fühlen aufbaut, nicht aber in der Annahme von Lehrsätzen, auf Grund der Achtung vor dem, der sie vorgibt. Die vorwiegende Stimmung ist Freude, während sie in autoritären Religionen in Leid und Schuld besteht. Insofern humanistische Religionen theistisch sind, ist Gott das Symbolfür des Menschen eigne Kräfte, die er in seinem Leben zu verwirklichen sucht, und nicht ein Symbol für Gewalt und Herrschaft, also für Macht über den Menschen“ (Erich Fromm S. 189).
Der Band schließt mit Fromms Credo eines Humanisten. In diesem Credo finden sich folgende Bekenntnisse:
„> Ich glaube, dass … der Mensch ein sich seiner selbst bewusstes Leben ist.
> Ich glaube, dass der Mensch das Ergebnis einer natürlichen Evolution ist …
> Ich glaube, dass die Natur des Menschen in einem Widerspruch zu fassen ist, der in den Bedingungen
der menschlichen Existenz wurzelt und eine Suche nach Lösungen notwendig macht.
> Ich glaube, dass der Mensch bei jeder Antwort, die er auf diese Widersprüche gegeben wird, nur die
Möglichkeit hat, entweder vorwärts oder rückwärts zu gehen.
> Ich glaube, dass der Mensch grundsätzlich die Wahl hat zwischen Leben und Tod, zwischen Kreativität
und destruktiver Gewalt, zwischen Wirklichkeitssinn und Illusion, zwischen Objektivität und Intoleranz,
zwischen brüderlicher Unabhängigkeit und einer Bezogenheit auf Grund von Über- und Unterordnung …
> Ich glaube, dass man dem Tod die Bedeutung des Endes von Wachstum und ständiger Wiederholung
zuschreiben kann …
> … Die regressive Orientierung entwickelt sich … in der Nekrophilie, im Narzissmus und in der inzest-
haften Symbiose.
Mit Nekrophilie meine ich die Liebe zu allem, was mit Gewaltanwendung und Destruktivität zu tun hat;
der Wunsch, zu töten; die Bewunderung von Macht; das Angezogensein von Totem, von Selbstmord, von
Sadismus; der Wunsch, Organisches mit Hilfe von ›Ordnungschaffen‹ in Anorganisches zu verwandeln
…
Mit Narzissmus meine ich, dass der Mensch aufhört, ein lebendiges Interesse an der Außenwelt zu zeigen
und eine starke Bindung an sich selbst, an seine eigene Gruppe, an den eigenen Klan, die eigene Religion,
Nation, Rasse usw. zu entwickeln …
Mit inzesthafter Symbiose meine ich die Tendenz, an die Mutter und ihre Ersatzfiguren – das Blut, die Fa-
milie, den Stamm – gebunden zu bleiben …
> Ich glaube, dass der Mensch, der sich für das Vorwärtsgehen entscheidet, eine neue Einheit finden kann,
indem er alle menschlichen Kräfte zur vollen Entfaltung bringt … in der Biophilie, in der Liebe zur
Menschheit und Natur und in Unabhängigkeit und Freiheit.
> Ich glaube, dass die Liebe sozusagen der ›Hauptschlüssel‹ ist, mit dem sich die Tore zum Wachstum des
Menschen öffnen lassen.“ (Erich Fromm S. 196 ff.).
ham, 7. November 2022