Mit einem einführenden Text von Héloïse Conésa und einem poetischen Essay von Yann Queffélec
SCHIRMER/MOSEL VERLAG, München, 2024, ISBN 978-3-8296-0974-6, 168 Seiten, 108 Tafeln in Farbe und Duotone, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 28,7 x 32,5 cm, € 38,00 (D) / € 80,20 (Ö) / CHF 90,00
Wer die ehemalige Benediktiner-Abtei Mont-Saint-Michel ⟨vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Mont-Saint-Michel_(Abtei)⟩ auf der nach dem Erzengel Michael benannten gleichnamigen felsigen Insel im Wattenmeer der Normandie schon einmal besucht hat, wird sich über die variantenreiche Fülle der zu allen Jahreszeiten und Gezeiten aufgenommenen Farb- und Schwarzweiß-Aufnahmen der Abtei und der sie umgebenden Meereslandschaft freuen: Mit den im Auftrag des französischen Centre des Monuments Nationaux zur Tausendjahrfeier vorgelegten Aufnahmen bestätigt der 1967 in Stuttgart geborene und heute in Düsseldorf lebende Fotograf einmal mehr, dass er zu den eigenständigsten Meisterschülern von Bernd Becher gehört, sich wie dieser einer Plattenkamera bedient und sich wie Hilla und Bernd Becher für das 19. Jahrhundert interessiert, aber sich früh von deren sachlich-dokumentarischem Stilgelöst hat.
Esser „zog es vor, sich in die Tradition der Malerei zu stellen: vom Klassizismus eines Nicolas Poussin oder Claude Lorrain über die Romantik eines William Turner bis zum Naturalismus eines Jean-François Millet. In fotografischer Hinsicht offenbaren seine Werke den Einfluss des Piktoralismus der Gebrüder Hofmeister aus Hamburg oder des Künstlerbundes ›Wiener Kleeblatt‹ (Heinrich Kühn, Hugo Henneberg und Hans Witzke). Die Realität kann nicht mehr der einzige Gegenstand der Fotografie sein; es bedarf der Interpretation durch ein Individuum, dessen Temperament die Darstellung im gleichen Maße bestimmt wie die Realität selbst […]. Obwohl er wie Bernd und Hilla Becher und Basilico mit einer Großformatkamera arbeitet, kommt sie nicht zu dokumentarischen Zwecken zum Einsatz, sondern wirkt an der Komposition der Landschaftsgestaltung im Mattglas mit. Esser optiert für einen Blick, der komponiert und nicht posiert, der ein Bild macht, keine Aufnahme.
Im Übrigen geht er vor wie ein Maler, der in sein Skizzenheft zeichnet, wie die monochrome Bearbeitung seiner Bilder zeigt: Während das Schwarzweiß, lange Zeit die ›einzige‹ Farbe der Fotografie, an Bleistiftskizzen erinnert, wirken seine gelben und blauen Monochrome wie Übertragungen von Aquarellen. Bei Esser dient die Farbigkeit nicht dazu, die dem Mont anhaftenden Widersprüche zu betonen“, sondern mehr plastischen Zwecken. Esser wählt Schwarzweiß wegen seiner skulpturalen Volumen-Wirkung. „Die blauen und gelben Monochrome filtern die nicht nur für Aquarelle charakteristische verwässerte, feuchte Erscheinung, sondern auch die der diesigen Luft, die den Mont-Saint-Michel benetzt. Die Farben Blau und Gelb evozieren auch zwei europäische Lichtarten: das warme, goldbraune Licht des Südens und das kühle, silbrige Licht des Nordens – und zwei Tageszeiten, den Morgen und den Abend als Widerhall des Morgen- und Abendlandes. Insofern spiegeln sie auch das charakteristische Dazwischen des Mont in der Mitte des Parcours der Pilgerstätten des heiligen Michael wider“ (Héloïse Conésa S. 157).
In ›Mont-Saint-Michel‹ erhebt sich die in diesem Jahr von wohl drei Millionen Touristen besuchte Abtei wie eine überirdische menschenleere Erscheinung aus dem in Variationen von Gelb, Sepia und Blau getönten Wattenmeer. In den zumeist in Duotone wiedergegebenen Aufnahmen der Abtei kann man in sonst unzugängliche Kellerräume steigen und darüber sinnieren, wie viele und welche Weine dort einst gelagert waren (vergleiche dazu https://www.instagram.com/elger.esser/?locale=no und https://vandergrintengalerie.com/en/product/elger-esser-mont-saint-michel-schirmer-mosel-verlag-2024/). „Die Vorstellungskraft tut sich schwer, sich beim Mont einen Begriff von den Baustellen zu machen, die er gekannt, von den Handwerks- und Gelehrtenberufen, die er versammelt hat, vom Talent, das entfaltet wurde, um den rechten Winkel und den Goldenen Schnitt in die Schiefheit eines Felsens einzupflanzen, der dem Chaos entsprungen ist […]. Bei dem Aussehen, das er sich im Laufe der Zeit zugelegt hat, könnte man vom Mont sagen, dass er zu dem geworden ist, der er ›ist‹“ (Yann Queffélec S. 163).
Die Aufnahmen der Publikation zusammengefassten Aufnahmen werden bis bis zum 15. Juni 2024 in Elger Essers Ausstellung ›Mémoire Celeste‹ in der Abbaye du Mont-Saint-Michel gezeigt. Ein erneuter und natürlich auch ein erster Besuch könnte sich deshalb doppelt lohnen (vergleiche dazu https://www.culture.gouv.fr/de/regionen/DRAC-Normandie/Aktuell/Ausstellung-Erinnerung-Celeste-in-der-Abtei-Mont-Saint-Michel-1.-April-bis-15.-Juni-2024).
ham, 23. Mai 2024