Katalog zu den Ausstellungen EKSTASE vom 29.09.2018 – 24.02.2019 im Kunstmuseum Stuttgart und vom 04.04. – 04.08. 2019 im Zentrum Paul Klee, Bern, herausgegeben von Ulrike Groos, Markus Müller, Anne Vieth, Martin Waldmeier, Nina Zimmer mit Beiträgen von Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt, Ulrich Pfisterer und den HerausgeberInnen
Prestel Verlag, München 2018, ISBN 978-3-7913-5822-2, 256 Seiten, über 200 farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 28,9 x 22,7 cm, € 45,00 (D) / € 46,30 (A) / CHF 61,00
Ekstase, griechisch ékstasis, meint die Verzückung, das Aussichherausgetretensein, das Außersichsein, den rauschhaften Zustand höchsten Lebensgefühls. Gemeint ist damit ein Zustand, in dem das normale Wahrnehmungsvermögen verändert, reduziert, ausgeschaltet oder erweitert erscheint und eine andere Wahrnehmung an die Stelle der normalen tritt. Ekstasen gehören zu den ältesten und zugleich erstaunlichsten Phänomenen europäischer wie außereuropäischer Kulturen; sie sind ursprünglich im rituell-religiösen Kontext verortet und seit der Antike fester Bestandteil der westlichen Gesellschaftstheorien. Mutmaßlich liegt der Sehnsucht nach bewusstseinserweiternden Erfahrungen ein elementares menschliches Streben zugrunde. Die mit ekstatischen Bewusstseinszuständen einhergehenden Gefühle hinterlassen einen bleibenden Eindruck; für manchen scheinen das in Ekstasen Erlebte eine größere Bedeutung zu haben als die normale Realität.
Seit der Antike wird über die Nähe zwischen transzendierender ekstatischer und ästhetischer Erfahrung nachgedacht. „In der Regel ist die im Kunstwerk aufblitzende >ästhetische Ekstase< eine vermittelte und selten eine unmittelbare Form ekstatischen Erlebens. Darstellungen von christlichen Heiligen in Ekstasen etwa sind Abbilder des Zustands der glückseligen Entgrenzung. Ihre visuelle Wirksamkeit wird in religiösen Kontexten genutzt, um zur Andacht und Hingabe an Gott zu animieren. Gemeinsam mit anderen Stimulanzen, wie religiösen Gesängen, Litaneigebeten oder Weihrauch, können diese Bilder Momente der Selbstentäußerung befördern“ (Ulrike Groos, Anne Vieth, Markus Müller S. 22). Das wohl berühmteste Beispiel einer religiösen Ekstase, Gian Lorenzo Berninis Skulptur Verzückung der Heiligen Theresia in der Cornaro-Kapelle von Santa Maria della Vittoria in Rom ist im Katalog und in der Ausstellung immerhin mit Berninis Kopfstudie für diese Skulpturengruppe von 1646/47 vertreten (vergleiche dazu im Katalog S. 70 und 72 und https://de.wikipedia.org/wiki/Verzückung_der_heiligen_Theresa#/media/File:Ecstasy_of_St._Teresa_HDR.jpg). Carsten Höllers Light Wall, 2000/2017, 388 x 1080 x 150 cm geht dagegen über das Abbild des Zustands einer glücklichen Entgrenzung hinaus und wirkt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=carsten+h%C3%B6ller+light+wall&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwj0q7am9vbeAhUQaVAKHWucDRsQsAR6BAgAEAE&biw=1677&bih=910#imgrc=8u--Ieu2vqEY2M:) „unmittelbar auf das Empfinden des Betrachters ein. Denn das Blinken der Glühbirnen in einer Frequenz zwischen 7 und 12 Hertz ist stimulierend, es >induziert optische und akustische Halluzinationen<. Darin birgt die Arbeit das Potential, den Rezipienten in einen veränderten Bewusstseinszustand zu führen. Allerdings haben bisherige Installationen gezeigt, wie unterschiedlich die Reaktionen der Besucher auf das Werk ausfallen können: von Kopfweh und fluchtartigen Impulsen bis zu Heiterkeit, meditierendem Verweilen oder ekstatischem Tanz“ (Ulrike Groos, Anne Vieth, Markus Müller S. 22). Für mich gehört Höllers Arbeit zu den herausforderndsten der Ausstellung. EKSTASE und der sie begleitende Katalog beleuchten die spirituellen, politischen, psychologischen, sozialen, sexuellen und ästhetischen Implikationen des Begriffs im Spiegel der Kunst und drüber hinaus die Veränderung des Begriffs im Laufe der Kulturgeschichte. Neben dem orgiastisch-rauschhaften Erleben im antiken Dionysos-Kult stehen das auf höchste Intensität gesteigerte Erleben in der mystischen Vereinigung mit Gott, Candomblé, Schamanismus, Ekstasen in der Jugendkultur bei Rock- und Pop-Konzerten, im Sport, beim Tanz, im Rausch und unter Drogen und im Liebesakt. Lovis Corinths Malerei Heimkehrende Bacchinantinnen (vergleiche dazu http://www.kunstmarkt.com/pagesmag/kunst/_id299445-/marktberichte_grossbildansicht.html?_q=%20) steht neben Dan Grahams Video Rock my Religion (vergleiche dazu https://vimeo.com/8796242), Andreas Gurskys C-Print Dortmund (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=andreas+gursky+dortmund+2009&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwis7MPplffeAhUjtosKHTyYAMIQsAR6BAgFEAE&biw=1677&bih=910), Otto Dixs Bildnis der Tänzerin Anita Berger (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1677&bih=910&tbm=isch&sa=1&ei=8ZX-W-_2AorEwQKBuKnwDg&q=Otto+Dix+Bildnis+der+T%C3%A4nzerin+Anita+Berger&oq=Otto+Dix+Bildnis+der+T%C3%A4nzerin+Anita+Berger&gs_l=img.12...33874.47718. .49605...0.0..0.52.99.2......0....1j2..gws-wiz-img.....0.52u4Spe6mhA#imgrc=zirPMVdEIbF27M:) und Egon Schieles Gouache Mädchen mit entblößtem Unterleib (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1677&bih=910&tbm=isch&sa=1&ei=I5b-W6esKNHIwAKOjLWwDg&q=Egon+Schieles+M%C3%A4dchen+mit+entbl%C3%B6%C3%9Ftem+Unterleib+&oq=Egon+Schieles+M%C3%A4dchen+mit+entbl%C3%B6%C3%9Ftem+ Unterleib+&gs_l=img.12...112560.115614..117264...0.0..0.48.48.1......0....1j2..gws-wiz-img.....0.8TtNHE529rc#imgrc=0Dw4-9Je9VXOzM:). Dass Ulrike Groos der Installation Dream House von La Monte Young und Marian Zazeela in Stuttgart annähernd ein Drittel der gesamten Ausstellungsfläche eingeräumt und dafür in Kauf genommen hat, dass es in der Ausstellung in den beiden anderen Stockwerken teilweise sehr beengt zugeht (vergleiche dazu https://www.google.de/search?tbm=isch&sa=1&ei=eHf9W9WAEoLLwQKVhZDwAw&q=Dream+House+von+La+Monte+Young+und+Marian+Zazeela&oq=Dream+House+von+La+Monte+Young+und+Marian+Zazeela& gs_l=img.12...0.0..391924...0.0..0.0.0.......0......gws-wiz-img.3hxwsrdfAYU), zeigt, wie hoch sie die Arbeit einschätzt: Für Groos ist Dream House „eines der beeindruckendsten Musikwerke des 20. Jahrhunderts“: „In dem von magentafarbenem Licht und Musik durchfluteten Raum verändern sich die Klänge und musikalischen Eindrücke je nachdem, ob man steht, liegt, sitzt oder sich im Raum bewegt. Auch die eigene Atmung, das Sprechen oder Schweigen können die akustische Wahrnehmung beeinflussen. Die im Raum verteilten Generatoren erzeugen einander überlagernde Sinuswellen, die sich zu harmonischen oder cluster-ähnlichen Klängen verdichten können, mit Loops und bordunartigen Haltetönen – so wie altindische Gesänge beschrieben werden, in denen die Haltetöne >den Eindruck eines ununterbrochenen Durchatmens< vermitteln und eine wichtige >Einstimmung< auf alles Folgende bieten. Voraussetzung all dessen ist, dass der Betrachter, der zugleich Hörer ist, in diese die verschiedenen Sinne ansprechende Umgebung eintaucht, sich auf den Raum und seine Veränderungen einlässt und einstimmt, um mit ihm zu harmonieren. Mit einem Gespür für die Ruhemomente, für die Verlangsamung und Auflösung der Zeit wird dieser Ort zu einem Meditationsraum. Die Wahrnehmung der Klänge und des Lichts können sich zu einer geistigen und spirituellen Trance bis zur Ekstaseerfahrung steigern“ (Ulrike Groos S. 223 und 225). Langjährig Meditierende berichten, dass ihre Ekstaseerfahrungen vom jeweiligen Ort unabhängig sind. Auf lärmumtosten Verkehrsinseln von mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen können demnach dieselben Ekstaseerfahrungen gemacht werden wie in abgelegenen Klosterräumen, auf Baumwiesen, am Meer oder eben in Klang- und Lichtinstallationen wie Dream House. ham, 27. November 2018 Download< /a>