Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2024, ISBN 978-3-374-07668-0, 336 Seiten, 21 x 14 cm, Paperback, 68,00 EUR
Der 1941 geborene Repetent und Studieninspektor am Evangelischen Stift in Tübingen, Systematiker und spätere Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten legt mit seiner in 20 Kapiteln vorgetragenen theologischen Sehschule »Gesehen werden und Sehen« ein schon lange fälliges Gegenstück zur an ‚Sprachhandlungen‘ (Oswald Bayer) orientierten Wort-Gottes-Theologie vor (vergleiche dazu https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783374076697/gesehen-werden-und-sehen?sgo=150000). Sprachhandlungen „sind biblisch immer auch mit Sehhandlungen verknüpft. Durch Sehen, Gesehen-Werden und Ansehen geschieht etwas an dem und mit dem, was gesehen und angesehen wird, wie auch mit dem Sehenden selbst. Das gilt schon für die einfache Wahrnehmung, die nicht nur rezeptiv, sondern auch aktiv tätig ist. Handeln durch Sehen und An-Sehen verleiht Gewicht und Bedeutung oder nimmt sie. Sehhandeln ist implizit oder explizit zumeist mit einem latenten oder expliziten Urteil verknüpft. Das ist bedeutsam in einer Welt, in der Sehen und Gesehen-Werden seit je eine elementar wichtige und Gewicht verleihende Rolle spielen, die sich in einer Zeit der Dominanz der Seh-Medien verstärkt. Wer, wie die aktuelle Floskel lautet, ‚weg vom Fenster‘ des Gesehen-Werdens ist, welchem auch immer, läuft Gefahr, als nicht existent zu gelten“ (Edgar Thaidigsmann, S. 13).
Das Psalmwort „bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Licht sehen wir das Licht“ (Ps 36,19) und das Wort aus dem Prolog des Johannesevangeliums „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit […] voller Gnade und Wahrheit“ bilden die Pole, um die Thaidigmanns Nachdenken über die Erkennbarkeit Gottes, des Menschen und der Welt schwingt. In der Auslegung von Moses Begehren, Gottes Herrlichkeit zu sehen (2. Mose 33, 18 – 23), wird sich der Systematiker sicher, dass man Gott nur von hinten und im Rückblick auf das Geschehene sehen und erkennen kann. „In der ‚Felskluft‘ hat Mose keinen Blick auf den vorübergehenden Gott und keine Übersicht […]. Wahrnehmbar und erkennbar ist die Präsenz Gottes nur in dem, was von ihm gegenwärtig ausgerufen wird. Das angemessene Verhältnis dazu ist Vertrauen und Glaube. In der Lebenswirklichkeit sichtbar wird Gott im erzählenden Hintennach-Sehen und Lesen der Spur seines Weges mit Mose und Israel“ (Edgar Thaidigsmann S. 110).
In der Auslegung des Lieds vom Gottesknechts als eines Knechts ohne Gestalt und Schöne (vergleiche dazu Jesaja 53, 2 b) kommt Thaidigsmann auf heute geläufige Definitionen des Schönen zu sprechen, so auch auf Kants Definition, dass schön ist, „was ohne Interesse gefällt“, und auf Adornos Präzisierung. Kant „grenzt damit die Erfahrung von Schönem von der Ausrichtung auf Interessen ab. Adorno hingegen merkt an, dass das Schöne, das ‚ohne alles Interesse‘ gefällt, ein höheres Interesse wecken könnte, das eigensüchtige Interessen überbietet und außer Kraft setzt. Wenn Adorno präzisiert, dass ‚das ästhetische Objekt‘ ‚vom Betrachter Erkenntnis [fordert], und zwar eine von Gerechtigkeit‘, dann wäre unter dieser Gerechtigkeit eine solche zu verstehen, die nicht jedem das Seine nach Verdienst gibt, vielmehr den Begriff der Gerechtigkeit revolutioniert und den Menschen das ihrer Würde als Menschen Zustehende zukommen lässt. So verstanden deutet sich mit dieser Erfahrung des Schönen, das ohne Interesse und doch im Sinn eines höheren Interesses gefällt, eine Revolutionierung der Wahrnehmung und des in ihr wirksamen Urteils an“ (Edgar Thaidigsmann, S. 205).
Martin Luther zieht in der Erläuterung zu seiner 28. These zur Heidelberger Disputation von 1518 die Konsequenz, dass die Sünder schön sind, weil sie von Gott geliebt werden. Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es. Demnach geht es vor Gott nicht um das Streben nach den höchsten Lebensmöglichkeiten und das Erlangen des am meisten Begehrten, sondern darum, dass der Mensch sich an der ihm von Gott her zukommenden Liebe genug sein lässt. „Durch ‚Gnade und Wahrheit‘ (Joh 1,14) greifen Leben und Licht, die von der Quelle des Lebens ausgehen, an den Grund menschlichen Lebens, seines Sehens und Erkennens, Redens und Handelns. Sich in den Horizont dieses Lichts zu begeben und [sich] in ihm wahrzunehmen, befreit Menschen zu neuer Lebendigkeit. ‚Die Wahrheit wird euch frei machen‘, heißt es Joh 8,32. Es ist die Wahrheit, die nicht ohne Gnade, und die Gnade, die nicht ohne Wahrheit ist. Beides zusammen gibt ein erfüllendes ‚Genug‘“ (Edgar Thaidigsmann, S. 315).
Das Sehen und Erkennen Gottes im Nachhinein zieht sich durch die biblischen Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments (vergleiche dazu und zum Folgenden Edgar Thaidigsmann, S. 321 ff.). Hagar „nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat“ (1. Mose 16,13). Hintennach sieht und erkennt auch Paulus den gekreuzigten Jesus von Nazareth im Licht und Glanz des Gottes Israel als Lebendigen und Rettenden. Erst im Nachhinein und beim Brotbrechen erkennen die beiden Jünger Jesu, dass der Fremde, der ihnen unterwegs begegnet ist, der Auferstandene ist. Das Angesicht des vorangehenden Gottes bleibt nicht nur Mose, sondern auch denen verborgen, die die Gefangennahme Jesu und seine Kreuzigung gesehen haben. „Gott selbst ist nicht zu sehen, doch die Kraft des Geistes, die von dem Gekreuzigten und Auferstandenen ausgeht, bewirkt, dass Menschen sich in ihrer Welt neu zu sehen und zu verstehen lernen und mit anderen anders umgehen, als es der Drang zu selbstgerechtem Urteilen vorgeben will […]. Nicht etwas anders oder jemanden anderen sehen die Augen, die im Licht der lösenden und zurechtbringenden Güte Gottes sehen und urteilen, wohl aber sehen sie anders, und ihr Urteilen und Reden vollzieht sich anders“ (Edgar Thaidigsmann, S. 323).
Edgar Thaidigmanns im Gespräch mit Philosophen wie Kant, Hegel, Heidegger, Kierkegaard, Lessing, Levinas und Nietzsche, Psychoanalytikern wie Sigmund Freud, Erik H. Erikson und Léon Wurmser, Soziologen wie Max Weber und Andreas Reckwitz, Dichtern und Lyrikern wie Goethe, Brecht, Celan, Philippe Jaccottet, Sibylle Lewitscharoff und Fernando Pessoa, bildenden Künstlern wie Walker Evans und zeitgenössischen Theologen nicht immer leicht zu lesende Sehschule bewegt sich auf der Höhe der Zeit und zeigt, dass informierte Theologie auch heute einen gewichtigen Beitrag zum Menschen-, Welt- und Gottesverständnis leisten kann.
ham, 25. November 2024