Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München, 2020, ISBN 978-3-8270-1420-7, 224 Seiten, Klappenbroschur, Format 21,5 x 13,6 cm, € 18,00 (D) / E 18,50 (A)
Einwanderung gehört zur deutschen Geschichte wie Heringe zur Ostsee (vergleiche dazu und zum folgenden Marcel Berlinghoff, Geschichte der Migration in Deutschland. In: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/252241/deutsche-migrationsgeschichte). Trotzdem galt Deutschland bis ans Ende des 20. Jahrhunderts nicht als Einwanderungsland. Zwischenzeitlich ist Deutschland zum beliebtesten Einwanderungsland in Europa geworden.
Historisch Bewanderte wissen, dass man vor der Gründung des Deutschen Reiches bereits bei einem Umzug von Stuttgart nach Mannheim die Grenzen eigenständiger Staaten überschritten hat und damit am neuen Wohnort als Einwanderer galt. Ältere werden sich noch an die Zwangsmigrationen nach den beiden Weltkriegen und die Anwerbung der rund 14 Millionen Gastarbeiter zwischen Ende der 1950er und Anfang der 1970er Jahre erinnern. Gastarbeiter sollten, wie es schon der Name sagt, nur auf Zeit in Deutschland arbeiten und leben; trotzdem sind 3 Millionen geblieben. Der Anwerbestopp im Kontext der Ölkrise hatte zur Folge, dass vor allem Familienangehörige nachgezogen und nur noch Krankenpflegerinnen insbesondere aus Indien, Südkorea und den Philippinen in die BRD gekommen sind. Die DDR hat in diesen Jahren Verträge mit den ‚sozialistischen Bruderstaaten‘ über die Sendung von Arbeitskräften ausgehandelt. Zwischen den 1970er und 1980er Jahren hatten neben Angehörigen nur noch Hochqualifizierte und Flüchtlinge eine Chance. Zwischen 1988 und 1993 kamen 7,3 Millionen Menschen; 3,7 Millionen sind im Land geblieben.
Seit der Neufassung des Staatsangehörigkeitsrechts vom 1. Januar 2000 können Kinder von ausländischen Eltern unter bestimmten Umständen die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben (vergleiche dazu https://www.bmi.bund.de/DE/themen/verfassung/staatsangehoerigkeit/staatsangehoerigkeitsrecht/staatsangehoerigkeitsrecht-node.html). Mit dem Zuwanderungsgesetz vom 1. Januar 2005 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Zuwanderungsgesetz) ist Deutschland offiziell Einwanderungsland.
„Seit 2010 ist der Wanderungssaldo positiv, das heißt: Mehr Menschen ziehen nach Deutschland als das Land verlassen. Viele von ihnen sind Migrantinnen und Migranten aus krisengeschüttelten Mittelmeerländern des Euro-Raums. So kamen beispielsweise im Jahr 2012 viele Menschen aus Spanien, Griechenland und Italien. Im Jahr 2015 gab es zudem eine äußerst hohe Zahl an schutzsuchenden Menschen, die vor allem aus Konfliktregionen im Nahen und Mittleren Osten sowie in geringerem Maße aus afrikanischen Staaten nach Deutschland geflohen sind“ (Anke Brodmerkel, Einwanderungsland Deutschland. In: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/demografischer-wandel/196652/einwanderungsland-deutschland).
Während es die 1978 in Hannover als Kind jesidischer Einwanderer geborene Fernsehjournalistin, Kriegsberichterstatterin, Gründerin der Menschenrechtsorganisation HÁWAR. help.e.V. (vergleiche dazu https://www.hawar.help/de/) und der Bildungsinitiative GermanDream (vergleiche dazu https://www.germandream.de/ueber-uns/unser-antrieb/) Düzen Tekkal als Privileg betrachtet, in einem Land wie Deutschland leben zu können und vom „deutschen Traum“ spricht, denkt man als autochthoner Deutscher an die Jahre 1933 – 45, den 1939 mit dem Überfall auf Polen ausgelösten Zweiten Weltkrieg, seine 60 bis 80 Millionen Toten (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Tote_des_Zweiten_Weltkrieges) und an die sechs Millionen ermordeten Juden (vergleiche dazu https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/6-millionen-holocaust-opfer-woher-stammt-diese-zahl-100.html). Für Tekkal, die den drohenden Genozid an den Jesiden durch den „Islamischen Staat“ 2014 in dem Film „HÁWAR – Meine Reise in den Genozid“ in der Weltöffentlichkeit bekannt gemacht hat, bleibt Deutschland dagegen das Land, dessen freiheitlich-demokratische Grundordnung schützenswert ist (vergleiche dazu https://www.hawar.help/de/projekt/sensibilisierung-politisches-engagement/dokumentarfilme/dokumentarfilm-hawar/). Es hat es ihr ermöglicht, Bildung zu erwerben und den Beruf zu ergreifen, den sie sich gewünscht hat.
In dem Bild eines engstirnigen, von Ängsten, Grenzen und Mauern geprägten Deutschland findet sie sich nicht wieder. „Das ist nicht das Land, das ich erlebe. Das ist nicht mein Deutschland. Schlimm genug, dass viele diese negative Selbsteinschätzung zu teilen scheinen. Aber ich muss da ja nicht mitmachen. Ich will dem etwas anderes, Positiveres entgegensetzen. Wo ist das Narrativ von einem chancenreichen Deutschland? Von einem Land der Werte, der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung? Von einem Land, in dem sich Träume erfüllen können? … ›Der German Dream ist stärker als die German Angst. Damit der Traum in Erfüllung gehen kann, müssen alte und neue Deutsche weiter gemeinsam daran arbeiten. Mit dem German Dream ist ein Patriotismus verbunden, der sich nicht an der Herkunft der Deutschen, sondern an den gemeinsamen Werten festmacht. Dass dieser Traum eines Tages Wirklichkeit wird, dafür lebe ich‹“ (Düzen Tekkal S. 11 f.).
Aus ihrem Traum ist die Bildungsinitiative German Dream herausgewachsen. Sie verfolgt zwei Ziele: „Zum einen möchte sie eine Debatte darüber anstoßen, wie wir in Zeiten großer Herausforderungen künftig als Gesellschaft zusammenleben wollen. Zum anderen sollen die Werte des Grundgesetzes vor allem jungen Menschen wieder neu nahegebracht werden“ (Düzen Tekkal S. 12). Ihre jetzt vorgelegte Publikation gleichen Namens „enthält persönliche Geschichten von Emanzipation, Gemeinsinn und Engagement, aber auch ganz konkrete Vorschläge zu einer neuen Integrationspolitik oder einer Kritik identitätspolitischer Vereinzelung … Dazu kommen Gespräche … mit Frauen in Führungspositionen wie Magdalene Rogl und Janina Kugel; mit Politikern wie Cem Özdemir und Wolfgang Schäuble, aber auch mit einem 17-jährigen Schüler oder einer in Deutschland lebenden Jesidin, deren Familie dem Völkermord durch den IS zum Opfer gefallen ist“ (Düzen Tekkal S. 12 f.).
ham, 13. August 2021.