Herausgegeben von Udo Di Fabio und Johannes Schilling
C.H.Beck Paperback 6261, Originalausgabe

Verlag C.H.Beck, München, 2017, ISBN 978-3-406-70078-1, 215 Seiten, 9 Abbildungen, 2 Karten,
Klappenbroschur, Format 20 x 12,5 cm, € 16,95 (D) / € 17,50 (A)

Martin Luther konnte bei der Veröffentlichung seiner 95 Thesen gegen den Ablass am 31. Oktober 1517
unmöglich wissen, dass Max Weber 400 Jahre später ein Loblied auf die protestantische Ethik singen und
seine Annahme einer im Geist des Kapitalismus waltenden protestantischen Sonderethik weltweit rezipiert
werden würde. Auf den Tag genau 500 Jahre später hat Marc Beise Webers Hypothese im Wirtschaftsteil der
Süddeutschen Zeitung (SZ) unter der Überschrift Macht der richtige Glaube reich? diskutiert und verworfen
(vergleiche dazu Marc Beise, „Macht der richtige Glaube reich?“ In: SZ Nr. 250 vom 30./ 31.10./1.11.2017
S. 19).

Wirtschaftshistoriker, so Beise, könnten bei ihren umfangreichen sozialhistorischen Studien keinen Hinweis
darauf finden, dass Protestanten wirtschaftlich erfolgreicher sind als Katholiken. Der Wirkmechanismus des
Protestantismus sei nicht der Glaube, „sondern praktische Bildungspolitik. Luther war es ein Anliegen, dass
jeder Christ die Bibel selber lesen“ kann. „Daher haben protestantische Territorien früh Volksschulen
gefördert und die Schulpflicht eingeführt“ (Marc Beise a.a.O.). Es gebe also keinen „zusätzlichen
protestantischen ›Geist‹, keine besondere ›Arbeitsethik, die die Protestanten produktiver machen würde. Der
einzige Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten“ sei „nur, dass Letztere die Schulbildung
gefördert“ und die protestantischen ›Landesherren‹ frühzeitig die Rahmenbedingungen für die ›öffentlichen
Güter‹, also für die öffentliche Wohlfahrt, die Unterstützung der Armen und Kranken und letztlich auch für
die ›religiösen Dienstleistungen‹ in den ›Landeskirchen‹ geschaffen hätten. Damit seien nach der neueren
Forschung die richtigen Rahmenbedingungen für Bildung, Sozialordnung und Religion für Wachstum,
Wohlstand, Frieden und wirtschaftlichen Erfolg wesentlich und nicht die Frage der Staatsreligion (Marc
Beise a. a. O.).

Der von dem früheren Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio und dem Kirchengeschichtler
Johannes Schilling herausgegebenen Band Die Weltwirkung der Reformation untersucht die Spannung
zwischen der der Reformation zugeschriebenen weltgeschichtlichen Wirkung und der detaillierten
historiographischen Forschung im größeren Kontext. Die Reformation, so die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD), sei „›ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung‹, das ›nicht allein Kirche und
Theologie, sondern das gesamte öffentliche Leben verändert und bis in die Gegenwart (mit)geprägt‹“ habe.
Insbesondere der christliche Freiheitsbegriff stehe „›in enger Beziehung zur europäischen
Freiheitsgeschichte‹. Neben dem Bildungsimpuls, der von der Reformation ausgegangen sei, habe sie zudem
›zur Ausbildung der modernen Grundrechte‹ und zu einem veränderten ›Verhältnis von Kirche und Staat‹
beigetragen wie auch Anteil an der Entstehung ›des modernen Demokratieverständnisses‹ gehabt. Luther sei
eine kraftvolle Symbolfigur, die ›einerseits zum Widerspruch herausfordert‹, andererseits mit ›Beharrlichkeit,
Wagemut und Überzeugungskraft zur Identifikation einlädt‹.

Der Deutsche Bundestag nimmt diese außerordentlich weitreichende und daher historiographisch strittige
Wirkungsgeschichte nicht nur auf, sondern sieht im Reformationsjubiläum sogar die Möglichkeit, ›die
christliche Verwurzelung sowie die Beiträge des christlichen Glaubens und der Kirche zur sozialen
Verantwortung, zur Ausbildung moderneren Grundrechte und den Grundlagen der Demokratie‹ zu
thematisieren […]. Die EKD-Beauftragte Margot Käßmann resümiert […]: ›Am Ende ist der Bogen bis zur
Aufklärung zu spannen.‹ Freiheit, Toleranz, Bildung, Menschenrechte und Demokratie – ausnahmslos
Sinnstiftungen, die die Reformation zur elementaren Voraussetzung, wenn nicht sogar zu einer Art Urknall
der europäischen Moderne stilisieren. Historiographisch sind solche Ursprungsnarrative weder hinreichend
gesichert noch überzeugend“ (Ulrike Jureit, Reformation als Konfliktgeschichte, Beobachtungen zum
Reformationsgedenken 2017, S. 198).

Jureit geht statt dessen davon aus, dass die religiösen Erneuerungsbewegungen des 16. Jahrhundert, zu denen
neben den anderen protestantischen Reformern Johannes Calvin, Ulrich Zwingli, Thomas Münzer und
Philipp Melanchthon auch die katholischen Reformstrebungen des Spätmittelalters gehörten, ebenso wie das
nachfolgende Zeitalter der Konfessionalisierung spezifische Gewalt-, Ordnungs- und
Vergesellschaftungsdynamiken aufgewiesen haben, „die es nahelegen, hier von einer europäischen
Konfliktgeschichte mit globaler Wirkung zu sprechen. Für eine solche Perspektive erweist sich die
Interdependenz von Ordnung und Konflikt als ebenso elementar wie zwiespältig. Unterscheidet man […]
konflikttheoretisch zwischen jenen Auseinandersetzungen, ›die ein positives Nebenprodukt von Integration
zurücklassen, und jenen, die die Gesellschaft zerreißen‹, dann ist Letzteres zweifellos eine adäquate und in
mehrfacher Hinsicht zutreffende Beschreibung für das, was 1517 in Wittenberg seinen Anfang nahm: Dass
der Mensch nicht durch Papst, Kirche oder Klerus, sondern unmittelbar zu Gott in Beziehung steht und in
diesem Gott-Mensch-Verhältnis auch seine ihm nicht weltlich zuerkannte, sondern gottgegebene Würde
begründet ist – diese Theologie sprengte die damalige christliche Welt unwiderruflich auseinander“ (Ulrike
Jureit S. 203). Die Sprengkraft dieser Neuorientierung hat sich unter anderem in den Religions-,
Konfessions- und Staatenbildungskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts und den durch sie notwendig
gewordenen neuen Konfliktlösungsstrategien gezeigt: „Europa war infolge der Reformation darauf
verwiesen, die in religiöser Feindschaft gründende Gewalt einzuhegen, die entstandene Pluralität religiöser
Bekenntnisse rechtlich zu sichern wie auch den beginnenden Prozess der Säkularisierung politisch zu
gestalten. Die internationale Forschung geht mittlerweile davon aus, dass von der konfessionellen
Konkurrenz des 16. Jahrhunderts entscheidende Impulse für die europäische Rechtsentwicklung
ausgingen“ (Ulrike Jureit S. 205).

Unter den weiteren Beiträgern des Bandes setzt sich Thomas Kaufmann in seinem historischen Überblick
über die Reformation mit dem Verlauf und den Folgen der Reformation in Deutschland, Schweden,
Dänemark, Norwegen, England, Frankreich und in Ostmitteleuropa auseinander. Detlev Pollack begründet,
warum sich der im späten Mittelalter und in der Reformation angelegte Modernitätsschub, also die
funktionale Differenzierung, die Individualisierung und die Einrichtung von sozialen Wettbewerbsarenen erst
mit den politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen im nachkonfessionellen Zeitalter durchsetzt.
Dorothea Wendebourg zeichnet die zwei Wege der weltweiten Verbreitung des Protestantismus durch
Koloniengründung, religiös motivierte Flucht, Auswanderung und durch Mission nach. Udo Di Fabio
schließlich erörtert, dass und wie die Reformation in die Dialektik der Neuzeit eingebunden ist. „Mit Luthers
Thesen wurde eine alte, längst strauchelnde Welt erschüttert, aber noch nicht Freiheit, Gleichheit und
Demokratie auf ein schnurgerades Gleis von Modernisierung und Aufklärung gesetzt. Der Umbruch war
gewaltig und gewalttätig, auf eigentlich allen Seiten. Die Einheit von Vernunft und Glauben, die von
politischer Herrschaft und rechtsstaatlicher Demokratie sind das Ergebnis eines langen und schmerzhaften
Weges. Luther und Machiavelli stehen für die immer prekäre Koevolution von politischer Herrschaft und
religiöse Glauben. Getrennt und doch zusammengehörig in einem festen Gefüge von staatlich garantierter
Toleranz und einer Bürgerfreiheit, die ihre Grenzen und Bedingungen kennt“ (Udo Di Fabio S. 165).

ham, 31.10.2017

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ham, 31.10.2017

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