Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Bd. 42

Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-86218-159-9, 288 Seiten, 320 historische und aktuelle Abbildungen, Hardcover, Fadenheftung, 27,2 x 21,5 cm, € 40,00

Wer in Württemberg an den Hamburger Architekten, Hochschullehrer und langjährigen Herausgeber der Zeitschrift ›Kunst und Kirche‹ Friedhelm Grundmann und seine zwischen 1952 und 2011 realisierten Kirchenneu- und Umbauten, U-Bahnhöfe, Wohn- und Geschäftshäuser denkt (vergleiche dazu und zum folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhelm_Grundmann), hat sogleich auch den zuerst in Stuttgart und dann in Güglingen ansässigen Architekten Heinz Rall vor Augen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Rall): Beide wurden in den 1920er Jahren geboren; beide haben neben ihren Profanbauten und ihrem Engagement für den öffentlichen Raum zahlreiche Kirchen und Gemeindehäuser gebaut und renoviert und beide sahen sich der gemäßigten Moderne und der Förderung von Kunst im Stadtraum und in der Kirche verpflichtet. Heinz Rall (vergleiche dazu Enrico De Gennaro (Hrsg.), Heinz Rall – Kirchenbauten. Ein subjektiver Blick auf Architektur und Licht von elf ausgewählten Kirchen, 2020) ist 2006 mit fast 86 Jahren in Güglingen verstorben, Friedhelm Grundmann 2015 mit 90 Jahren in Hamburg.

Die jetzt vorgelegte Publikation ›Turm und Tunnel. Friedrich Grundmann baut für Kirche und U-Bahn‹ vereint die scheinbar widersprüchlichen Gattungen, die der Hamburger in über 50 Jahren allein und zusammen mit Partnern geschaffen hat. Über Hamburg hinaus bekannt wurde Grundmann mit seiner 1961 realisierten Schalenkonstruktion über dem Hamburger U-Bahnhof Lübecker Straße, die er mit seinem Büropartner Horst Sandmann und dem Bauingenieur Stefan Polónyi entwickelt hatte (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/U-Bahnhof_Lübecker_Straße). Es folgten zahlreiche prominente Aufträge im norddeutschen Raum. „Die Spannweite reichte von städtebaulich markanten Neubauten wie der Simeonkirche in Hamburg-Hamm (1965/66) ⟨vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_des_heiligen_Nikolaus_(Hamburg)#/media/Datei:Ehem._Simeonkirche_Hamburg-Hamm.jpg⟩ bis zur Neuordnung der mittelalterlichen Dome in Lübeck (mit Horst Sandmann, 1962 – 1973) und Greifswald (mit Otto E. Rehder, 1982 – 2989)“ ⟨Daniel Bartezko, Karin Berkemann, Frank Schmitz S. 8; vergleiche dazu https://de.wikiz.com/wiki/Lübecker_Dom und https://www.moderne-regional.de/der-greifswalder-dom/⟩. „Mit der Erneuerung des nachkriegsmodernen Bus- und U-Bahnhofs Wandsbek Markt (mit Mathias Hein, 2000 – 2005) schloss sich der Kreis zu seinen beruflichen Anfängen“ (a. a. O.; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhelm_Grundmann#/media/Datei:Wandsbek_Busbahnhof.jp).

Der mit vier Fotoessays des Frankfurter Architekturfotografen Gregor Zoyzoyla (vergleiche dazu https://gregorzoyzoyla.com) und zahlreichen weiteren Abbildungen reichlich ausgestattet Band setzt mit einem Kurzüberblick über Friedhelm Grundmann und seine diversen Büropartner und einer Kurzcharakteristik seiner Kirchen- und U-Bahn-Bauten aus den vier Werkphasen zwischen 1956 und 2015 ein. Daniel Bartezko fasst die vier Phasen unter dem Stichwort „Kontinuität“ zusammen: „Kontinuität in Grundmanns Sinn ist …wortwörtlich zu verstehen – nicht als Festhalten, sondern als fortlaufender Lernprozess. Dieser prägte sein Schaffen durchgehend, und so war sein berufliches Selbstverständnis einerseits in den wesentlichen Zügen konstant, er selbst hinterfragte es jedoch beständig. Neue Ideen, Entwicklungen, Gestaltungsideen kamen regelmäßig in Grundmanns Œuvre vor. Seine zunächst bewusst reduzierte, moderne Formensprache der ersten Jahre der Selbständigkeit wurde nach der Trennung von Horst Sandmann 1963 spielerischer, erweitert durch Sichtbeton und Pop-Art-Elemente. Ablesbar etwa am eigenen Wohnhaus, dessen weiß geschlämmte Backsteinfassade er mit zuerst blauen, später roten Fensterrahmen belebte (vergleiche dazu https://www.architekturarchiv-web.de/images/haus-grundmann.jpg) oder der Nathan-Söderblom-Kirche in Reinbek (1966/67), die stilistisch so nahe am Brutalismus steht wie keine andere seiner Kirchen (vergleiche dazu https://metropolregion-hamburg.photos/photo/nathan-soederblom-kirche-reinbek-architekt-friedhelm-grundmann-erbaut-1966-ESa1B9L49w). 

In den 1970er Jahren trugen viele Grundmann-Bauten schließlich fantasievoll-organische Dekore auch nach außen. So die 1972/73 errichtete Zachäuskirche in Hamburg-Langenhorn (vergleiche dazu https://www.kirche-hamburg.de/gemeinden/ev-luth-kirchengemeinde-st-juergen-zachaeus-hamburg-langenhorn/veranstaltungen/details/gottesdienst-all-euere-sorge-werft-auf-gott.html) und das Gemeindezentrum Mümmelmannsberg (1974 – 1976) in Hamburg-Billstedt (vergleiche dazu https://www.kirche-in-steinbek.de/muemmelmannsberg/), beide künstlerisch von Hans Kock ausgestaltet. In den 1980ern durften die Spätmoderne und sogar eine Prise Postmoderne in den Grundmann-Kosmos einziehen – diese allerdings fein getarnt beim Bauen im Bestand, etwa in der Bahnsteigbeleuchtung des denkmalgerecht sanierten Hamburger U-Bahnhofs Mundsburg (1983 – 1985; vergleiche dazu https://www.moderne-regional.de/mit-der-u-bahn-zu-friedhelm-grundmann/). Die 1990er Jahre gerieten schließlich eher zur selbstreflexiven Werkphase, führten vielfach zurück zu seinen gestalterischen Wurzeln. Nicht nur, dass das Büro Grundmann + Hein einige Projekte aus der Ära mit Horst Sandmann grundlegend überarbeitete: Bei anderen Umbauten und Sanierungen begegnete Friedhelm Grundmann statt gotischen Kirchen oder Bahnhöfen der 1910er / 20er Jahre nun häufig den nachkriegsmodernen Werken seiner Zeitgenoss:innen. Darunter Gebäude, die er selbst entworfen hatte und auch solche, für die er seinerzeit unterlegene Wettbewerbsentwürfe eingereicht hatte. Die Formensprache der frühen 1960er griff er häufig wieder auf“ (Daniel Bartezko, Das neue Alte. Die Kirchen- und U-Bahn-Bauten des Büros Grundmann + Hein von 1992 bis 2015, S. 144 f.).

Im zweiten Teil der Publikation beschreibt Jörg Schilling die Wohn- und Gewerbebauten von Friedhelm Grundmann, darunter auch das 1983 bis 1984 auf nur 49 Quadratmeter Grundfläche gebaute Haus Schwebel in Marburg, einen durch eine Wendeltreppe verbundenen fünfgeschossigen „Wohnturm“ mit zwei Zimmern pro Stockwerk, der mit unspektakulären Mitteln in den Bestand integriert werden konnte. Nur im ostersten Geschoss öffnet sich die Fläche in einen Raum mit zwei Balkonen. Matthias Ludwig erinnert an Grundmann als Schreibenden und Lehrenden und Rüdiger Joppien widmet sich den künstlerischen Innenausstattungen der Kirchen von Friedhelm Grundmann und Horst Sandmann. Der dritte Teil ist der von Catharina Grot erarbeiteten Werkliste gewidmet.

Für Heinz Rall sollte der Kirchenraum ›ein Raum der Stille und Geborgenheit sein‹, für Friedhelm Grundmann ein individueller ›Ort der Zuflucht‹, aber auch ein Schutzraum, ein Grenzraum und ein Bewegungsraum. „Fragt man nach einem gemeinsamen Begriff für moderne Kirchen und U-Bahnhöfe, dann bietet sich der Schutzraum an. Nicht umsonst dienten viele U-Bahntunnel zusätzlich als Bunker. Nicht umsonst war genau dies der Spitzname vieler Nachkriegskirchen. Auch Grundmann stellte jene Eigenschaft 1967 in den Mittelpunkt: ›Die Kirche ist Schutzdach für eine begrenzte Anzahl von Menschen, die zwischen den Seitenwänden geborgen, sich vor dem Altar zum Gottesdienst versammeln‹“ (Karin Berkemann, Kirchenbauten. Die Anarchie des Klappstuhls. S. 40). Dort und auch sonst brauchen Menschen „gute Farben und Proportionen, seien es nun 1000 U-Bahn-Fahrer oder 100 Kirchenbesucher“ (Friedhelm Grundmann, 2014).

ham, 20. September 2022

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