300 Jahre Glaube, Geist und Macht: eine Familiengeschichte
Siedler Verlag Verlagsgruppe Random House, München 2015, ISBN 978-3-8275-0013-7, 368 Seiten,
zahlreiche s-w-Abbildungen, eine Landkarte, eine Ahnentafel, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag,
Format 22 x 14,5 cm , € 24,99 (D) / € 25,70 (A) / CHF 35,50
Über evangelische Pfarrhäuser ist schon viel geschrieben, geredet und nachgedacht worden. Zu den
schönsten und häufig zitierten Texten gehört das Gedicht „Pfarrhaus“, das Reiner Kunze 1968 Pfarrer W
gewidmet hat: „Pfarrhaus (für Pfarrer W) / Wer da bedrängt ist, findet / mauern, ein / dach und muß nicht
beten“. Der selbst in einem Pfarrhaus aufgewachsene Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen hat dem
Pfarrhaus 1984 seine 443 Seiten lange Monographie „Das Pfarrhaus. Kultur und Sozialgeschichte“ gewidmet
und schon damals den Niedergang dieser Institution beklagt. Die Jenaer Volkskundlerin und empirische
Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle – Hezinger hat 2013 auf dem Pfarrertrag in Esslingen auf die
kulturelle Leistung evangelischer Pfarrfamilien hingewiesen. Evangelische Pfarrer hätten häufig viele Kinder
gehabt, deren Werdegang vom Umfeld besonders genau beobachtet worden ist. Den Söhnen habe man eine
Ausbildung verschaffen müssen, den Töchtern eine Ausstattung. Christel Köhle-Hezinger: „’Pfarrers Kinder,
Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie‘ – es gibt ja solche und ähnliche Sprichwörter, die besagen: die
Pfarrfamilie saß im Glashaus, ganz ohne Zweifel, sie wurde beäugt, weil man natürlich wissen wollte, ob der
Pfarrer es schafft, dass er nach den christlichen Prinzipien, nach der lutherischen Haustafel, seine kleine
Truppe im Griff hat, ob da was draus wird, oder ob er die gleichen Probleme hat wie jedermann.“
Andreas Gryphius stammt ebenso aus einem evangelischen Pfarrhaus wie Hermann Hesse, Gotthold
Ephraim Lessing, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Albert Schweitzer, Gottfried Benn, Angela Merkel,
Klaus Harpprecht, Rezzo Schlauch und Gudrun Ensslin. Bis ins 20. Jahrhundert habe es eine in der
unterschiedlichen Bildung begründete tiefe Kluft zwischen den Pfarrfamilien und der übrigen Bevölkerung
gegeben. Privatkontakte zwischen Pfarrern, Bauern und Handwerkern gab es kaum. Im 19. Jahrhundert seien
75 % der Pfarrer aus dem Beamtenstand gekommen, 3 % hätten bäuerliche Herkunft gehabt und keiner hätte
einen Fabrikarbeiter als Vater gehabt. Um die Mitte des 18. Jahrhundert sei die Hälfte der Besucher eines
theologischen Seminars miteinander verwandt gewesen. Erst die von Georg Picht ausgerufene
Bildungsreform brachte eine zeitweilige Wende. Die von Köhle – Hezinger erinnerte, durch die soziale
Isolierung in früheren Zeiten verursachte „beschwerliche Melancholie“ bei manchen Pfarrern ist Rezzo
Schlauch und vielen anderen Pfarrerskindern von heute fremd. Er hat sein Elternhaus als „absolut offenes
Haus“ erlebt, in dem immer etwas los und in dem es ihm als Kind nie langweilig war.
Die jetzt von Cord Aschenbrenner vorgelegte Geschichte der deutsch-baltischen Pastorenfamilie
Hoerschelmann macht mit Pfarrhäusern bekannt, in denen neun Generationen von evangelischen Pfarrern
den Kontakt zu den Bauern, Handwerkern, Tagelöhnern und Fischern, die unter ihren Kanzeln gesessen
haben, zumindest gesucht und immer wieder auch gefunden haben. Cord Aschenbrenners Großvater PaulGerhard
Hoerschelmann war zuletzt Superintendent in der Lüneburger Heide. Aschenbrenner hat immer
noch die Stimmen und Schritte der vielen Besucher im Pfarrhaus, das häufige Türklingeln, den Klang der
Glocken von der nah gelegenen Kirche und das „ kaum jemals endende Klappern von Tellern und Töpfen in
der Küche, kurz: Die gemischten Geräusche eines offenen, bürgerlichen Hauses … im Ohr, … wenn es um
Pfarrhäuser geht“ (Cord Aschenbrenner S. 9). Die Geschichte der Familie Hoerschelmann spielte sich
überwiegend in Estland, in Livland und in deutschen evangelischen Pfarrhäusern im Baltikum ab, die es
längst nicht mehr gibt. Paul-Gerhard Hoerschelmann wurde 1931 in Nõmme, einem Vorort von Tallinn
geboren. „ Dort war sein Vater Gotthard Pfarrer. Auch er war in einem Pfarrhaus aufgewachsen, in der
Hauptstadt selbst, die die Deutschen Reval nannten. Und auch dessen Vater und Großvater und Urgroßvater
waren in Estland, einem Land von Fischern und Bauern, Pastoren gewesen. Damit endet die Ahnenreihe
geistlicher Herren noch nicht. Die ersten Hoerschelmanns, die den Beruf des Pastors ergriffen, übten ihr Amt
in Thüringen und Brandenburg aus … Paul-Gerhard von Hoerschelmann … ist Pfarrer in der achten
Generation, ebenso sein Bruder Werner. Sein jüngster Sohn und sein Neffe haben die Familientradition
fortgesetzt und sind ebenfalls Pastoren geworden. Ihrer aller Geschichte, die eng verbunden ist mit der
Institution des Pfarrhauses, soll hier erzählt werden. Diese Geschichte handelt von den Pastoren und ihren
Frauen, den >>Pastorinnen<<, wie die Deutschbalten sagten, von ihren Kindern, den Gebräuchen im Pastorat
und von den Besuchern, die ins Haus kamen … : fürsorgliche Hirten die einen, geistliche Herren die anderen,
Seelsorger dieser und Theologieprofessor jener, vom Rationalismus ergriffene darunter wir auch pietistisch
gestimmte und alle zusammen evangelische Theologen seit bald 300 Jahren“ (Cord Aschenbrenner S. 14 ff.).
Die Wurzeln reichen bis zu dem 1704 in Eisenach geborenen Johann Heinrich Hörselmann. „ Er entstammte
einer Familie von Handwerkern, Gastwirten, Soldaten, Tagelöhnern, die sich seit dem späten 16. Jahrhundert
in der Gegend der Hörselberge, wo auch das Flüsschen Hörsel entspringt, nachweisen lässt … Aus den
Hörselbergen mit ihren bewaldeten Tälern zogen die Hörselmanns, deren Name im Laufe des 17.
Jahrhunderts zu Hoerschelmann wurde, in die Gegend von Eisenach. Achtzehn Hörselmanns verzeichneten
die Kirchenbücher im 16. Jahrhundert in und um Eisenach. Südwestlich der Stadt, nicht weit von der
Wartburg, lebte Claus Hörseemann von Epichnellen … Er starb am 3. Februar 1670 mit 60 Jahren. Der Sohn
dieses Hörselmann hatte einen Sohn Hermann, der sich bereits Hoerschelmann schrieb … Über Hermann
Hoerschelmann weiß man, das er 1690 Anna Catharina Hötzel heiratete und mit ihr sieben Kinder hatte …
Vier der sieben Kinder … waren Mädchen …für die der Vater … eine schulische Bildung kaum für
notwendig gehalten haben wird … Von den drei Söhnen starb der mittlere mit 16 Jahren; der älteste, Johann
Justinus, wurde Pfarrer … Auch der jüngste Sohn, Johann Heinrich, studierte Theologie“ (Cord
Aschenbrenner S. 25 f.).
Aschenbrenners aus der Innensicht eines Familienangehörigen geschriebene Geschichte der
Hoerschelmanns will zwar keine wissenschaftliche Arbeit über das evangelische Pfarrhaus und auch keine
systematische Genealogie sein. Aber sie führt dann doch in angenehmer Zurückhaltung vor, was den Geist
eines evangelischen Pfarrhauses ausgemacht hat, warum Pfarrerskinder anders waren und wie Pfarrer
Dörfer, Städte und auch die Geschichte der Deutschbalten mitprägen konnten. Wir verbinden mit dem
Pfarrhaus „ein Haus, das eher groß ist als klein und jedem offen steht, eine große Kinderschar, einen üppigen
Pfarrgarten, Hausmusik, Bücher, Tischgebet und Tischgespräche, eine resolute Pfarrfrau und einen
selbstgewissen Pfarrherrn … Manches mag eher Selbstbild als Realität gewesen sein, doch sicher ist: Das
evangelische Pfarrhaus ist nicht mehr, was es einst war … So lässt sich die Geschichte dieser Pfarrerdynastie
auch als Abgesang verstehen, denn sie ist vorwiegend ein Blick zurück auf einen fast mystischen Ort des
deutschen Protestantismus“ (Cord Aschenbrenner S. 22 f.).
ham, 17.15. 5. 2015
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