Verlag C. H. Beck, München, 2018, ISBN 978 3-406-72523-4, 538 Seiten, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,7 cm, € 29,95
Von und über Karl Barth ist unendlich viel gesagt und geschrieben worden (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Barth und https://barthresearch.org/barth/index_Duits.htm). Deshalb verwundert es nicht, dass nach seinem Tod fünfzig Jahre ins Land gehen mussten, bis sich die 1967 geborene vormalige Jüngel-Assistentin, damalige Züricher Professorin für Systematische Theologie und heutige Kirchenpräsidentin in Hessen und Nassau Christiane Tietz an eine neue Gesamtdarstellung von Leben und Werk des 1886 in Basel geborenen reformierten Theologen machen konnte.
Barths epochale Bedeutung kommt nach Tietz im Urteil seines Gegners Walther von Loewenich »Gegen Karl Barth sind wir alle nur Zwerge« auf den Punkt. Er hat die Debatten über das eigene Fach hinaus über Jahrzehnte bestimmt. „Er widersprach herrschenden theologischen Überzeugungen, widersetzte sich gesellschaftlichen Stimmungen und bekämpfte politische Entwicklungen. Stets tat er dies mutig und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Barths bleibende Bedeutung, aber auch sein bleibendes Verstörungspotenzial liegt darin, dass er die absolute Andersartigkeit Gottes gegenüber der Welt zur Geltung gebracht hat. In einer Zeit, in der Gott und die Religion kulturwissenschaftlich verstanden, psychologisch gedeutet und politisch instrumentalisiert wurden, hatte dies in der Theologie eine ähnliche Wirkung wie Heideggers Betonung einer grundlegenden Differenz zwischen »Sein« und »Seiendem« in der Philosophie oder der Protest des Expressionismus gegen jeden Naturalismus in der Kunst“ (Christiane Tietz, S. 13).
Tietz setzt mit Barths Herkunft aus einer Familie von Zunftmeistern, Pfarrern und Gelehrten und seinem Bekenntnis zu Basel ein: »Ich bin ein Baseler«. Der unmittelbare Anlass für seine Entscheidung, Theologie zu studieren, war sein Konfirmandenunterricht. Sein Theologiestudium begann er 1904 in Bern und schloss es in Marburg als entschiedener Adept der noch bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs herrschenden ›modernen Schule‹ ab, in der das Christentum nach Anweisung von Schleiermacher und Ritschl einerseits als kritisch zu erforschendes Phänomen, andererseits als Sache eines vorwiegend moralisch gearteten inneren Erlebnisses interpretiert wurde. Als Vikar in Genf begann er, sich mit Calvins Hauptwerk, der Institutio Christianae Religionis und seinen Bibelkommentaren auseinanderzusetzen. In dem von ihm gehaltenen Konfirmandenunterricht stellte er jedem Thema – wie dann später auch in seinen dogmatischen Arbeiten – Leitsätze voran, die er wie ein alter Professor diktierte. Sie sollten nicht auswendig gelernt werden, sondern als Bügel zum Aufhängen für das Gedächtnis dienen.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs und seine Unterstützung durch die Deutsche Theologie waren für Barths weitere theologische Entwicklungen entscheidend. Neues war nach seiner Auffassung nicht vom Krieg und seinem Erleben, sondern nur von Gott her zu erwarten, so wie er im Leben und Wort Jesu zu erkennen ist. Alle anderen Götter sind durch den Krieg feldgrau geworden; die Welt wurde entgöttert. Gott aber ist etwas von Grund auf Anderes als alles andere. Er kann nicht verzweckt werden. Die Hoffnung auf ihn bleibt der Lebensquell des Christen. Als Barth 1911 Pfarrer von Safenwil wird, will er alles in Fragen stellen und auf alle Fragen unvermutete Antworten geben, da Gottes Wort gegen alles steht. Diese Unruhe lässt Barth in den folgenden Jahren nicht mehr los.
Aus der mit seinem lebenslangen Freund Eduard Thurneysen erörterten Frage, wie Pfarrer von Gott reden können, wenn sich Gottes eigenes Wort doch von allem Weltlichen unterscheidet, entsteht seine Auslegung des Römerbriefes, in dessen Zentrum ein neues Hören auf den biblischen Text steht. Ein allein historisch distanzierter Blick auf den biblischen Text ginge nach Barth an der Sache vorbei, um die es im Text geht. „Diese ist die Botschaft von Gott. Gottes Kraft ist umfassend schöpferisch und erlösend. Sie ist »keine von den Weltkräften, die nichts Neues schaffen, sondern uns letzten Endes immer im Kreis herumführen«. Die Menschen aber verwechseln Gott und die Welt, sie verehren sich selbst und ihre kulturelle Leistung anstatt Gott. Gott zu verehren sei aber nötig, denn: »Er will der Erlöser sein. Er will rechthaben durch seine Kraft. Denn nur, was er tut und vollbringt, ist etwas wirklich und entscheidend Neues und Hilfreiches … Der Mensch wird allein durch Gottes Gnade vor Gott gerecht.
Die Kehrseite davon ist, dass alle menschlichen Aktivitäten von Barth ganz auf der Seite des Menschen, in der noch nicht durch Gott erlösten Welt, verortet werden … Religion geht vom Menschen aus, sie benötigt Gott nur als Bestätigung dessen, was der Mensch von sich aus vermag. In der Religion orientiert sich der Mensch an dem, was ihm heilig ist und was er für moralisch richtig hält. Aber er fragt nicht ernsthaft danach, ob dies auch von Gott aus so ist. In der Religion ist »immer schon alles fertig ohne Gott. Gott sollte immer gut genug sein zur Durchführung und Krönung dessen, was die Menschen von sich aus begannen«“ (Christiane Tietz / Karl Barth, S. 104). Staat, Politik, Kirche, Mission, persönliche Gesinnungstüchtigkeit, Moralität, Pazifismus und Sozialdemokratie vertreten nicht das Reich Gottes, sondern in neuen Formen das alte Reich des Menschen.
Seinem sozial angehauchten ersten Römerbrief verdankt Barth seine Berufung als Honorarprofessor für Reformierte Theologie an die Georg-August-Universität Göttingen. Seine Neufassung von 1922 begründete die Dialektische Theologie. Demnach ist Gott nicht historisch auffindbar. „Gott gibt sich in Jesus Christus bekannt als der unbekannte Gott. Gotteserkenntnis ist ein radikal eschatologisches Ereignis, dass quer zur Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit steht“ (Christiane Tietz, S. 141). Gut zehn Jahre später meint Barth am Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler noch, dass ihm die Nazis nichts tun werden, denn er habe ja einen ›Sturmführer‹, der ihm eine providentielle Spezialsendung parallel zu derjenigen von Adolf Hitler zuerkennt.
Aus Barths in den ersten Jahren glücklicher Ehe mit Nelly Hoffmann sind vier Kinder hervorgegangen. 1933 wird dann zum häuslichen Krisenjahr: Barth hatte 1926 in Münster eine Liebesbeziehung mit Charlotte von Kirschbaum begonnen und sie in einer häuslichen »Notgemeinschaft« zu dritt zu leben versucht. Im März 1933 begann seine Frau Nelly, die Möglichkeit einer Scheidung zu erwägen. Auch Barth neigte zu einer Scheidung; letztlich entschied sich Nelly dann aber doch dagegen. 1947 fasst Barth seine Beziehung zu den beiden Frauen und ihre Rolle für seine Theologie so zusammen: »Gerade die Tatsache, welche die größte irdische Wohltat ist, die mir in meinem Leben geschenkt wurde, ist zugleich das strengste Urteil wider mein irdisches Leben. So stehe ich vor Gottes Augen, ohne daß ich ihm auf die eine oder andere Weise entkommen könnte … Es ist durchaus möglich, daß sich daher in meiner Theologie ein Element Erfahrung findet, oder besser gesagt: ein Element von gelebtem Leben. Es wurde mir auf eine sehr konkrete Art verboten, der Legalist zu werden, der ich unter anderen Umständen hätte werden können« (Karl Barth nach Christiane Tietz, Seite 239).
Unter anderem durch seine maßgebliche Mitarbeit an der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934 erhält Barth im März 1934 Rede- und im April 1935 Predigtverbot. Am 21. Juni 1935 wird er in den Ruhestand versetzt und verliert seine Professur in Bonn. Am 25. Juni 1935 wird er zum Professor für Systematische Theologie und Homiletik an der Universität Basel berufen. Mit der in Teilen unbußfertigen Aufnahme der Stuttgarter Schulderklärung ist Barth alles andere als einig. Auch die im Darmstädter Wort gefundenen Formulierungen blieben umstritten. Nach seinem 1947 als Gastprofessor in Bonn verbrachten 50. Semester als Hochschullehrer schreibt er seinen Studenten einen Abschiedsgruß. Auf seiner Hinreise auf einem Rheinschlepper habe er sich noch gefragt, ob er in Bonn nach seinen zahlreichen deutschlandkritischen Äußerungen im Krieg nicht auf eine Mauer von Zurückhaltung und Misstrauen stoßen würde und ob die Jahre in der Hitlerjugend, an der Front, unter Bomben und in der Kriegsgefangenschaft seine Zuhörer nicht so verändert hätten, dass er und seine Studenten sich eigentlich nicht mehr verstehen könnten. Aber er habe dann alles sehr viel leichter, einfacher und schöner gefunden, als er es sich je hätte erträumen können. Wissen, Bildung und Sprachfähigkeit seien zwar zurückgegangen, teilweise begegne noch der Tonfall der Propaganda und die alltäglichen Sorgen seien unübersehbar. Aber die Studenten seien offen und interessiert gewesen für die Theologie. So sei er ein früher Zeuge des Booms von Theologie und Kirche in den Nachkriegsjahren geworden, der Ende der 1950er- und 1960er-Jahre zu einem Höhepunkt der Kirchenmitgliedschaften geführt hat (vergleiche dazu Christiane Tietz, Seite 328).
Ab 1950 setzt er sich gegen die deutsche Wiederbewaffnung ein, ab 1957 gegen die Ausstattung des deutschen und des Schweizer Heeres mit Atomwaffen. 1961/62 hält er seine letzte Vorlesung an der Universität Basel. 1966 zieht Charlotte von Kirschbaum aufgrund einer demenziellen Erkrankung in ein Pflegeheim um. 1967 erscheint Band IV/4 als zwölfter und letzter Teilband von Barths monumentaler Kirchlichen Dogmatik. Am 10. Dezember 1968 stirbt er in seinem Haus in der Baseler Bruderholzallee.
Christiane Tietz sieht sich trotz ihrer grundstürzenden Beschäftigung mit Barth nicht als waschechte Barthianerin. Dazu ist sie viel zu sehr auch von Martin Luthers und Dietrich Bonhoeffers Theologie geprägt. Aber Barths Grundsatz, dass Gott ganz anders als der Mensch und seine Welt ist, hat sie überzeugt. Der Mensch kann auch für sie Gott nicht in sich selbst, sondern nur dort finden, wo Gott sich ihm zeigt, theologisch gesprochen, wo Gott sich offenbart. Dieser Ansatz bei der Selbstoffenbarung Gottes ist auch für ihr eigenes theologisches Denken grundlegend (vergleiche dazu Karl Barth – ein Leben im Widerspruch. In: https://www.feinschwarz.net/karl-barth-ein-leben-im-widerspruch/).
ham, 12. Dezember 2025