Patmos Verlag im Schwabenverlag, Ostfildern 2018, ISBN 978-3-8436-1091-9, 188 Seiten, zahlreiche
Schautafeln und Tabellen, Paperback, Format 22 x 14 cm, € 17,00 (D) / € 17,50 (A)

Doppelstudien von Theologie und Psychologie, die aktive Beteiligung an auf drei, vier Semester angelegten
Selbsterfahrungsgruppen und Sigmund Freuds Religionstheorie als Thema theologischer Seminare waren
zwischen 1968 und den ersten 1970er-Jahren zum akademischen Normalfall geworden. Deshalb ist es alles
andere als verwunderlich, dass nach dem Erscheinen der wohlfeilen Taschenbuchausgabe von Erik H.
Eriksons Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie im Jahr 1970 bei Rowohlt
im Tübinger Stift nächtelang über die Frage diskutiert worden ist, ob psychoanalytische Ferndiagnosen zu
historischen Personen zulässig sind oder nicht.
Erik H. Eriksons 1958 in der Erstauflage bei Suhrkamp erschienene Studie war ursprünglich als Kapitel
eines Buches über Gefühlskrisen im ausgehenden Jugend- und beginnenden Erwachsenenalter gedacht. Aber
Luther erwies sich für eine so begrenzte Darstellung dann doch als zu groß. So erweiterte sich das klinische
Kapitel zum historischen Buch. Erikson zeichnet darin nach, warum Luthers gestörte »Über-Ich«-Funktion,
aus der seine Angst vor einem strafenden Gott und seine Suche nach einem gerechten Gott folgt, auf seinem
überdominanten Vaters und seine repressive Erziehung zurückzuführen ist. Er hat damit schon vor 60 Jahren
auf konstituierende Faktoren von religiösen Zwängen hingewiesen. Für das Entstehen religiöser Zwänge
gehören „Misstrauen, übergroße Gewissenhaftigkeit, moralischer Sadismus und ein Beschäftigtsein mit
schmutzigen, vergifteten Gedanken und Dingen zusammen. Bei Luther findet sich das alles“ (Erik H.
Erikson nach Hartmut Becks S. 165). Luthers Bemerkung aus seiner Studienzeit >Je länger wir uns waschen,
je unreiner wir werden< ist der klassische Ausspruch eines von Zwangsvorstellungen Beherrschten (Hartmut Becks ebd.). Eriksons Studie gilt heute als Standardwerk der psychologischen Lutherforschung. Selbst jüngere Lutherforscher wie die renommierte Oxford-Historikerin Lyndal Roper (Luther. Der Mensch Martin Luther, 2016) lassen die 1970er-Jahre-Bedenken hinter sich. Sie begründen dies mit der enormen Fülle an überliefertem Material. Man wisse über Luthers Innenleben mehr als über irgend einen anderen Menschen des 16. Jahrhunderts. Das historisch gesicherte Material mache es möglich, Luthers persönliche Leidensgeschichte und seine Konversion zu einer aufgeklärten, angstfreien Gottesvorstellung im Detail nachzuzeichnen (Lyndal Roper nach Hartmut Becks S. 164). „So gewinnt man, indem man die Erkenntnisse der Psychoanalyse heranzieht, ein umfassendes Verständnis nicht nur für den Menschen Luther, sondern auch für die revolutionären religiösen Grundsätze, denen er sein Leben widmete und für seine Hinterlassenschaften, die noch immer so wirkmächtig sind“ (Lyndal Roper nach Hartmut Becks S. 166). Die lesenswerte Untersuchung des Diplompsychologen Burkhard Ciupka-Schön und des seit vielen Jahren mit religiösen Zwängen befassten Theologen Hartmut Becks setzt mit der Frage ein, was den 1521 vor den Reichstag zu Worms zitieren Martin Luther mit einer fünfunddreißigjährigen Verkäuferin verbindet, die durch Vorstellungen wie die belastet ist, dass durch ihre Schuld ihr Ehemann sterben und Gott sie bestrafen könnte, wenn sie ihrer Kollegin unverschämt begegnet. Die Antwort hat mit der Antwort auf die andere Frage zu tun, ob der Luther zugeschriebene und in die Weltgeschichte eingegangene Auftritt in Worms („Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir Amen“) den wahren Luther zeigt oder ob Luther nicht doch „eher das ängstliche, verschrobene Mönchlein“ war, als das er von seinen zeitgenössischen Gegnern geschildert wurde. „ Aus der Sicht eines religiösen Zwangs erscheint die Angst Luthers vor der Strafe Gottes und dem Höllentod schlimmer als die Angst vor dem realen Feuertod und der Macht des Kaisers“ (Burkhard Ciupka-Schön S.13 f.). Luthers Turmzimmererlebnis und seine Wiederentdeckung der Gnadentheologie hat demnach auch als Mittel zur Überwindung seiner eigenen Ängste und Zwänge gedient. Was aber sind religiös-moralische Zwänge und wie konnte Luther sie überwinden? Nach der klinischen Definition bewegen sich religiöse Zwangsgedanken thematisch um ein schlimmes Fehlverhalten gegenüber Gott. Man stellt sich etwa vor, eine Gotteslästerung oder eine Todsünde zu begehen. Mit diesen Gedanken sind stets negative Formen der Anspannung etwa in der Form eines Gefühls von Schuld und der Angst vor ewiger Verdammnis verbunden. Religiöse Zwangshandlungen dienen dann dazu, dies „negative Anspannungen wie Angst und Schuldgefühle zu neutralisieren […]. Religiöse Zwänge zeichnen sich im Unterschied zu einfachen religiösen Handlungen durch einen Exzess in Bezug auf Umfang und Dauer aus. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden in der Regel jenseits der Öffentlichkeit und jenseits der religiösen Gemeinschaft, der die Betroffenen angehören, ausgeführt. Die mit der Krankheitsentwicklung einhergehende soziale Isolation führt zu einer zunehmenden schleichenden Entkoppelung der zwanghaften Maßstäbe im Vergleich zu den Maßstäben der religiösen Gemeinschaft, die sich in Werten, Zielsetzungen, Bräuchen, Gebeten, Tabus und Ritualen ausdrückt. Die schleichende Entwicklung der Zwänge zum Exzess steht in Wechselwirkung mit einer um Anpassung bemühten Grundpersönlichkeit der Betroffenen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden von den Betroffenen als Produkt des eigenen Verstandes erkannt, was Zwänge von schizophrenen Psychosen, Wahnvorstellungen oder drogeninduzierte Durchgangssyndromen unterscheidet“ (Burkhard Ciupka-Schön S. 24 f.). Luthers Eintritt in das »schwarze Kloster« hat ihm zwar für eine gewisse Zeit den Druck von den Erwartungen des Elternhauses genommen, aber sein Versuch einer klösterlichen Selbsttherapie mittels extremer mentaler und körperlicher Kasteiung führte ihn aufs Ganze gesehen erst recht ins Martyrium: „Luther scheint geradezu in Schuldgefühlen geschwelgt zu haben, als könne er, wenn er es zum Äußersten trieb, eine höhere Stufe des Selbsthasses erleben, der ihn Gott so nahe wie möglich bringen würde. Luther strapazierte seinen Körper bis an die äußerste Grenze, dabei verlor er viel Gewicht und durchlebte Phasen schwerer Depression […]. Alles kreiste um das Entsetzen darüber, direkt vor Gottvater zu stehen, also vor dem Richtergott, und zwar ohne Fürsprecher. Dagegen bestand der ganze Zweck des mönchischen Lebens, wie es Luther erlebte, darin, ein Sicherheitsnetz zu schaffen, in dem die Fürbitte Marias, Gebete in eigener Sache und Exerzitien, um das Fleisch zu bändigen, ihn vor Gottes transzendenter Gewalt schützen. Wenn also Luthers Eintritt in das Kloster ein Rückzug in eine matriarchalische Welt war, warf dieser Rückzug eigene spirituelle Probleme auf“ (Lynda Roper nach Hartmut Becks S. 171). Luther durchforschte sein Inneres, ging jedem Gedanken bis zum letzten Hintergedanken auf den Grund und stellte „alles und vor allem sich selbst auf den Prüfstand. Und kam zu deprimierenden Ergebnissen. Nicht dass er wirklich etwas Böses getan hätte, macht ihn krank, sondern die Ungewissheit, ob die Exerzitien, denen er sich unterwarf, Gott auch wirklich gefielen […]. >Hatte ich meine Buße gesprochen, so zweifelte ich trotzdem, hatte ich
gebetet, so verzweifelte ich ebenfalls<“ (Joachim Köhler nach Hartmut Becks S. 172). Genau deshalb hat er die wahre Reue, die er im Kloster gesucht hat, dort nicht gefunden. Für ihn kam der Umschwung, die Rettung nicht von innen, sondern von außen: Bei einer Bußübung auf den achtundzwanzig Treppenstufen der Laterankirche in Rom beginnt „sein Zweifel am Bußmechanismus und am Ablasswesen“, wahrscheinlich sogar sein Zweifel an der grundsätzlichen Struktur seiner Gottesvorstellung. „Denn in Rom irritiert ihn alles, was für sein System bislang unumstößlich feststand: Mönche in Bordellen, Geschäftemacherei mit gefälschten Reliquien, Schwelgerei der Geistlichkeit. >Der Gipfel der Gottlosigkeit< und >des Teufels Thron< sei Rom für ihn gewesen“ (Martin Luther / Hartmut Becks S. 176 f.). Für Luther bricht eine Welt zusammen. Beim Nachdenken über dem Römerbrief beginnt er zu begreifen, dass Gott nicht Gerechtigkeit fordert, sondern gerecht macht und nicht in, sondern über den Zwängen steht. Damit wird er frei. Weitere Kapitel der Studie beschäftigen sich mit den Grenzen und Unterschieden zwischen Religion und religiösem Zwang, seiner Vielfalt, seiner Häufigkeit, seinem Verlauf und seiner Therapie. ham, 28. Dezember 2018 Download

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