UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz und München 2015, ISBN 978-3-86764-627-7, 270 Seiten, 30 Tabellen,
6 Abbildungen und Diagramme, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, Format 22,2 × 15,6 cm, € 38.00

Nach einem im Mai 2015 veröffentlichen Bericht der OECD wächst der Abstand zwischen Arm und Reich in
vielen Ländern. „Demnach öffnet sich der Spalt zwischen den Topverdienern und den Armen in den
Industrieländern immer weiter, in vielen Staaten ist er nach der globalen Finanzkrise breiter geworden als je zuvor. Deutschland weicht von diesem Muster ab“ – „aber nur vordergründig“ … „Die oberen zehn Prozent in der Einkommenshierarchie verfügen hierzulande über knapp siebenmal soviel Geld wie die untersten zehn Prozent. In Durchschnitt der OECD liegt das Verhältnis bei eins zu zehn. In Deutschland sind die Einkommen noch immer gleichmäßiger verteilt als in den USA, in Großbritannien, Italien oder Frankreich. Und geringfügig hat sich die Lage in der Bundesrepublik auch schon verbessert. Im Jahr 2005 litten nach OECD-Berechnungen 9,1 Prozent der Bundesbürger unter relativer Einkommensarmut. Zuletzt waren es 8,4 Prozent“ (Kolja Rudzio, Stillstand trotz Aufschwung. In: http://www.zeit.de/2015/22/ungleichheit-armut-reichtum-oecd). Man sei also auf dem richtigen Weg, so Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel.

Die neueste Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des IMK-Instituts der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sieht es anders: „ Danach hat sich die Schere der
Einkommensverteilung in Deutschland in den vergangenen Jahren eher weiter geöffnet. Die verbreitete
Annahme, die Einkommensungleichheit sei nach 2005 zurückgegangen, halten die Forscher
für ,nicht plausibel’ und eine Fehleinschätzung. Diese sei vor allem auf Lücken bei der statistischen
Erfassung von Kapitaleinkommen zurückzuführen, also Zinsen, Dividenden oder Spekulationsgewinnen, die
vor allem wohlhabenden Haushalten zufließen“ (Alexander Hagelüken, Thomas Öchsner, Ungleichheit wird
noch größer. In: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/einkommen-ungleichheit-noch-groesser-1.2717340). Milliardäre und Millionäre nehmen ungern an Befragungen teil. Deshalb sind ihre Einkommen in Statistiken wie dem sozioökonomischen Panel (SOEP) zu selten berücksichtigt. „So besitzt der reichste Haushalt laut SOEP nach Abzug von Schulden nur 50 Millionen Euro – als ob es in Deutschland keine Familie Quandt (BMW), Albrecht (Aldi), Schwarz (Lidl) oder Otto (Otto-Versand) gäbe. Als Beleg führen die Wissenschaftler in ihrer Studie eine Steuerstatistik an: Das Taxpayer-Panel enthält anonymisierte Daten von 27 Millionen Menschen … , die eine Einkommensteuererklärung abgeben. Hier sind Haushalte mit sehr hohen Einkommen viel realistischer abgebildet … Das einkommensstärkste Zehntel der Haushalte erzielte dem SOEP zufolge 2010 durchschnittlich etwa 6000 Euro an Kapitaleinkommen. Nach der Steuerstatistik waren es jedoch 50.000 Euro, also fast zehnmal soviel. Berechnet man den Ungleichheits-Koeffizienten Gini auf Basis der Steuerstatistik, steigt auch zwischen 2005 und 2008 die Ungleichheit der Einkommen. Nur 2009 schloss sich die Schere ein bisschen … ,Wir rechnen mit einem signifikanten Zuwachs seit 2010’, sagt Markus Grapka, der am Berliner DIW-Institut seit Jahren das Thema erforscht“ (Alexander Hagelüken, Thomas Öchsner, a.a.O).

Nach Boike Rehbein und seinem Forschungsteam verdecken die oben skizzierten, vor allem in der Politik
und in den Medien mit Zahlen und Statistiken ausgetragenen Diskussionen um Arm und Reich aber eher die Ursachen der sozialen Ungleichheit, als dass sie zu ihrer Erklärung beitragen können. Rehbein und sein Team schlagen statt dessen vor, auf die Lebensverhältnisse der Menschen zu schauen, deren Strukturen zu analysieren und zu fragen, ob sich nicht von Pierre Bourdieus Vorstellung von zu einem Habitus verfestigten Handlungsmustern und von Ressourcen wie Geld, sozialen Netzwerken, körperlichen Fähigkeiten und wertvollem Besitz her auf eine Generationen übergreifende Fortschreibung von Klassenstrukturen schließen lässt. „Wir stellen die These auf, dass soziale Ungleichheit auf Strukturen beruht, die von Menschen produziert und reproduziert werden … Wir haben rund 300 qualitative, lebensgeschichtliche Interviews von 30 bis 120 Minuten Dauer geführt … und im Team mittels Sequenzanalyse ausgewertet. Abschließend haben wir ein repräsentatives Sample von 61 qualitativen Interviews und eine quantitative Erhebung erstellt. Die quantitative Erhebung umfasst knapp 3000 Fälle und ist großenteils repräsentativ … Die beiden leitenden Thesen … lauten, dass soziale Ungleichheit in Deutschland auf der Existenz unsichtbarer sozialer Klassen beruht und durch Klassifikation reproduziert wird. Als soziale Klasse bezeichnen wir zunächst eine Gruppe,
die keinen Zugang zu den zentralen Tätigkeiten der höheren Klassen hat und ihre Tätigkeiten von den
niedrigeren Klassen abgrenzt. Als Klassifikation gilt die symbolische Bewertung von Menschen und ihren Merkmalen. Soziale Ungleichheit definieren wir zunächst als ungleichen Zugang zu gesellschaftlich wertgeschätzten Tätigkeiten und Gütern. Nicht in allen Gesellschaften ist ein Bildungstitel, ein Abend in einem exklusiven Club … und der Besitz einer teuren Armbanduhr erstrebenswert. Wenn jedoch die Wertschätzung allgemein verbreitet und der Zugang beschränkt ist, haben unterschiedliche soziale Gruppen unterschiedliche Chancen des Zugangs … Die Theorien sozialer Ungleichheit haben … angenommen, dass die kapitalistische Transformation einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bewirkte. Die wesenhafte Gleichheit der Menschen sollte entweder sofort oder kontinuierlich politisch und sozial umgesetzt werden. Ungleichheit scheint in dieser Form von Gesellschaft durch den Markt zu entstehen … Die kapitalistische Transformation hat im Hinblick auf die sozialen Strukturen jedoch keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit erzeugt.

Mit der Einführung der Demokratie … waren nicht alle Menschen auf einen Schlag gleich, sondern nur eine kleine Minderheit partizipierte am Staat. Sklaven, Ausländer sowie teilweise auch Arbeiter und Bauern waren aus der Demokratie ausgeschlossen und wurden erst später nach und nach integriert. Das Defizit an Kapital und Habitus konnten ihre Nachfahren größtenteils bis heute nicht ausgleichen. Das beruht darauf, dass der Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen nicht aktiv begegnet wird, sondern dass sie sich vielmehr fortschreibt, indem alle Klassen eigene Kulturen mit eigenen Habitusformen haben, die in die vorkapitalistische Zeit zurückreichen, auch wenn sie einem ständigen Wandel unterworfen sind … “ (Boike Rehbein et al. S. 9 ff.). Die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit „vollziehen sich vorrangig symbolisch, gesellschaftlich und vorbewusst. Die Ungleichheit beruht auf einer inkorporierten Wertehierarchie. Mit der Abwertung anderer Menschen und ihrer Eigenschaften geht der Ausschluss von der vollen Mitgliedschaft in der eigenen Gruppe durch die Begrenzung des Zugangs zu Tätigkeiten und Positionen in der Gruppe einher … Die Macht und die Bewertungen der Gruppe werden historisch an die nächste Generation weitergegeben. Das ist in kapitalistischen Gesellschaften unsichtbar, weil sie an der Oberfläche aus gleichen Individuen besteht … Die soziale Klasse ist nicht der erklärende Faktor, sondern die Erklärung besteht im Verhältnis von Lebensbedingungen zu Klassifikation und Rekrutierung, vermittelt
durch den Habitus“ (Boike Rehbein et al. S. 14 f.).

Rehbein und sein Team unterscheiden die Marginalisierten, die defensiven Kämpfer, die aufstrebenden
Kämpfer, die Etablierten und die Enthobenen. Die Marginalisierten scheinen „keinen konstruktiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Diese Bewertung bestimmt in hohem Maße das Selbstbild dieser Klasse. Eine Arbeitsstelle ist für den Großteil der Marginalisierten ein Traum … Das negative Selbstbild impliziert, dass man keine Arbeit hat, nichts zur Gesellschaft beiträgt. … ,Für diese Gesellschaft sind Menschen Müll’ … Die Abwertung durch die anderen Klassen … geht mit dem Verlust an Würde einher. Die Marginalisierten finden sich damit ab, entwürdigt zu sein, oder kämpfen dagegen an … In jedem Fall ist die Trennlinie der Würde eine entscheidende Bestimmung der Klassenlage … Auf die Sinnlosigkeit des Alltags … weisen viele der Marginalisierten hin. Es fehlt eine Aufgabe.“ (Boike Rehbein / Jesse Souza S. 55 f.). „Die Kämpfer leben oberhalb der Trendlinie der Würde. Mindestens ein Mitglied der Kernfamilie geht einer Berufsarbeit nach und trägt daher etwas zur Gesellschaft bei … Wir bezeichnen diese Klasse als Kämpfer, weil sie zur Berufsarbeit gezwungen sind und sie um Leistung und Verdienst täglich kämpfen müssen. Arbeit ist für sie kein Bestandteil eines kreativen Lebensentwurfs, sondern notwendig, um Würde und Überleben zu sichern … ,Mir ist wichtig, dass ich meine Miete zahlen kann, mein Essen zahlen kann.’ Arbeit ist Pflicht, und man träumt vom Lottogewinn. Dennoch ist man stolz auf die eigene Arbeit, alles dreht sich um sie“ (Boike Rehbein / Jesse Souza S. 56 f.).

Auch bei den Etablierten wird das Selbstbild über die Arbeit bestimmt. „Arbeit wird jedoch nicht als
kostbares, kaum erreichbares Gut und auch nicht als fremdbestimmte Pflicht interpretiert, sondern als
sorgfältig zu gestaltendes Element eines Lebensprojekts … Die Tätigkeit darf … nicht beliebig sein sondern sie muss den eigenen Wünschen und ethischen Bedingungen entsprechen … Die Etablierten betrachten das Arbeitsleben als eine Welt kaum begrenzter Möglichkeiten, die es sorgfältig auszuwählen und zu ergreifen gilt. Tatsächlich können sie die Möglichkeiten wahrnehmen, die … als besonders interessant und wertvoll gelten … Diese privilegierte Lage übertragen sie auf alle Mitglieder der Gesellschaft, die das meritokratische Ideal zum großen Teil ebenfalls internalisieren und ihre Arbeitslosigkeit oder untergeordnete Position als Resultat des eigenen Scheiterns interpretieren … Die unteren Schichten werden aus dieser Perspektive nicht in erster Linie als würdelos klassifiziert, sondern als beschränkt und ungebildet“ (Boike Rehbein / Jesse Souza S. 59f.). Aus der Sicht der Etablierten kann man sich mit den unteren Schichten nicht unterhalten. Damit wird die Bildung und die mangelnde Expressionsfähigkeit zur Trennlinie. Bloße Arbeit zum Gelderwerb wäre für die Klasse der Etablierten zu wenig. Man hat ein kreatives Verhältnis zur Arbeit. Und Bildung, Kunst und Kultur gehören zum Leben hinzu. Aber den Etablierten ist klar, „dass es noch höhere Schichten gibt“. Man bezweifelt, dass ihre Position verdient ist und man beurteilt sie wie die Unterschicht skeptisch. „ ,Oberschicht im Sinne von reich finde ich einfach langweilig und ja, die unter mir, ja vielleicht nehme ich die gar nicht so wahr oder ich weiß nicht’ “ (Boike Rehbein / Jesse Souza S. 61f.). Die Enthobenen müssen sich dagegen nicht mehr beweisen. Sie haben schon immer alles errungen. Sie „schließen ihr Studium an einer Elitehochschule ab, aber die Eltern der Enthobenen spenden das Vermögen dieser Schulen. Die Etablierten verwenden einen Teil ihrer Einkünfte für Kultur und Wohltätigkeit … und engagieren sich für Stiftungen, aber die Enthobenen gründen und leiten die Stiftungen. Die Etablierten sind Anwälte und Ärzte, aber den Enthoben gehören die großen Anwaltskanzleien und Krankenhäuser … Den Enthobenen ist der Wert der Arbeit bewusst, aber … (M)an kann es sich nicht nur materiell leisten, gar nicht zu arbeiten, sondern muss diesen Zustand auch nicht rechtfertigen … Die Enkelin eines einflussreichen Norddeutschen gibt unverblümt zu: ,Ich war eigentlich immer recht faul’. Es reicht ihr, eine Stiftung zu leiten. Hausarbeit und Kindererziehung werden in diesen Kreisen ohnehin von Bediensteten erledigt. Dennoch wird die eigene Position meritokratisch gerechtfertigt … Leistung wird jedoch eher als naturalisierte Eigenschaft, als Bestandteil der Persönlichkeit betrachtet. Eine ,Leistungsbereitschaft’ geht hier mit ,Führungsqualitäten’ einher, über die die unteren Schichten angeblich nicht verfügen. Wie die Etablierten schreiben sie sich eine höhere Sensibilität, höhere Ziele und eine höhere Kultur zu. Sie erwachsen jedoch nicht aus Mühen, aus einem Studium, aus dem … Druck zu lernen, sondern sind gleichsam angeboren, ebenso wie das Vermögen, das von Arbeit enthebt“ (Boike Rehbein / Jesse Souza S. 62f.).

Im Schlusskapitel unterstreichen Rehbein und seine Mitstreiter, dass der in der deutschen Bevölkerung
allgemein verbreitete meritokratische Mythos entscheidend dazu beiträgt, die soziale Ungleichheit
fortzuschreiben. „Wir kritisieren den meritokratischen Mythos, weil die soziale Umgebung und insbesondere das Elternhaus die wichtigste Rolle für die mögliche Leistung spielen. Je nach sozialer Herkunft steht nur ein bestimmtes Spektrum an Möglichkeiten offen. Die meritokratische Weltsicht ist jedoch nicht nur eine falsche Beschreibung der Wirklichkeit, sondern sie ist für die Produktion und Reproduktion der Ungleichheit zwischen den Klassen konstitutiv. Sie macht Wertunterschiede zwischen den Menschen, für die diese selber verantwortlich sein sollen, und leugnet dadurch, dass diese Unterschiede schon vor jeder individuellen Leistung bestehen. Auf diese Weise werden die Menschen in Klassen eingeteilt, die jeweils einen bestimmten, selbst zu verantwortenden und in ihrer Persönlichkeit verankerten Wert haben …Die Meritokratie … deutet beständig ein soziales Privileg in individuelles Talent um. Dabei sind das für eine Unternehmensgründung erforderliche Kapital, die für den Schulerfolg notwendige Beherrschung der deutschen Sprache, die für den Erwerb eines lukrativen Arbeitsplatzes vorausgesetzten sozialen Beziehungen und der Einfluss der Eltern ungleich verteilt, bevor jede Konkurrenz auf einem Markt beginnt“ (Boike Rehbein et al. S. 248 f.). In der Folge können Untersuchungen zu Bildung, Gesundheit, Armut, Arbeitsmärkten und sozialer Mobilität zwar wichtige Beiträge zum Verständnis der Gesellschaft leisten, aber sie erfassen die sozialen Strukturen nicht. „Die Widerlegung der meritokratischen Denkweise und die Analyse der tatsächlichen Klassenstruktur“ gehen deshalb deutlich über Untersuchungen zu Bildung, Arbeitsmärkten, sozialer Mobilität und zum wachsenden Abstand zwischen Arm und Reich hinaus. Sie sind erste „Schritte zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit“ (Boike Rehbein et al. S. 249).

ham, 3.11.2015
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