Über den 1986 in Moskau geboren und 2008 mit 22 Jahren als Meisterschüler von der Kunstakademie
Düsseldorf abgegangenen deutsch-russischen Maler Yury Kharchenko und sein Werk ist schon viel
Wegweisendes und Weiterführendes gesagt und geschrieben worden. So hat Harald Frisch daran erinnert,
dass Kharchenkos Bildwelt sein eigenes Leben auf der Leinwand spiegelt, „mal überrealistisch leuchtend,figurativ verfremdet, mal verschlungen und abstrakt verwoben in abgedunkelten Kraftfarben in der Tiefe forschend“ (1) . „Religion interpretiert er dabei weniger aus dem Glauben, sondern mehr als sein geistiges,seelisches Gerüst, um Freiheit für neue transzendente Interpretationen in der Malerei zu gewinnen“(2). Kay Heymer hat Kharchenkos Anknüpfung an den amerikanischen abstrakten Expressionismus hervorgehoben und festgehalten, dass er wie dieser in seiner Bildsprache „nicht darstellen, sondern Form und Farbe freisetzen“ will, „um seine Werke mit spiritueller Kraft aufzuladen, weil er wie seine Vorgänger unbeirrt an die Integrität einer transzendentalen Malerei glaubt… Seine Arbeiten konzentrieren sich auf die formalen und emotionalen Möglichkeiten der Malerei. Sie ist sowohl gegenstandslos als auch gegenständlich – sie zeigt einfache Formen wie die Häuser, die das Grundgerüst bilden, oder wie Silhouetten von Figuren, die sich im Dickicht und Gestrüpp der dunklen Gittergerüste seiner Bildräume verbergen. Die Bilder… stimulieren die Sinne und wecken… im Betrachter starke Gefühle… Eine entscheidende Qualität dieser Gemälde ist ihre Individualität. Das Archaische an ihnen zeigt sich im Vertrauen auf die personifizierte Energie in jedem einzelnen Bild“(3). Barbara J. Scheuermann schließlich unterstreicht, dass Kharchenkos Malerei als Ausdruck seiner persönlichen Spiritualität gelesen werden kann und dass seine Bilder für die Verschmelzung von Geist und Materie stehen. „The aim is to find a universally valid expression for the spiritual through the medium of painting, because, to return … to the words of Hegel: <
Bei allem, was schon über Kharchenkos Bildwelt gesagt und geschrieben worden ist und bei allem, was man über sie noch sagen und schreiben wird, sollte klar bleiben, dass kein Schreiben und Sagen die direkte Begegnung mit den Originalen ersetzt. Jedes Sagen und Schreiben bleibt mit Notwendigkeit unscharf, weil die in jedes Sagen oder Schreiben eingeschriebene Logik mit der Eigenlogik der Bilder interferiert , die vom Betrachter eingenommene Perspektive jede Aussage mitkonstituiert und jeder Perspektivenwechsel zu anderen Ergebnissen führt. Vor den Originalen können die Unschärfen und die differierenden Aussagen vernachlässigt werden, weil unmittelbar klar wird, dass sich alle und auch die sich widersprechende Aussagen aus dem komplexen Zusammen- und Wechselspiel zwischen den Bildern, der Situation und der von den Betrachtern gewählten Perspektiven und Wertungen ergeben. Deshalb legt es sich nahe, auch Yury Kharchenkos Bilder wie anfänglich fremde und später und mit der Zeit vertraute Gäste zu behandeln und mit ihnen in ein lange währendes Gespräch einzutreten. Man muss vor diesen Gästen nicht wie Abraham bei der Terebinte von Mamre auf die Knie fallen, braucht kein zartes, schönes Kalb zu schlachten, muss es nicht zubereiten und sollte es ihnen auch nicht vorzusetzen (5) . Aber man sollte sich auf die Eigensprache- und Logik dieser Gäste einstellen, ihnen zutrauen, dass sie im Wechselgespräch Wesentliches zu sagen haben und respektieren, dass sie auch noch bei wachsender Vertrautheit für eine eigene Welt stehen.
Im lange währenden Gespräch mit Kharchenkos Malerei könnte sich deren aufregend ausdifferenzierte
Farbigkeit und ihr subtiles Spiel mit Licht und Farben als der Versuch herauskristallisieren, den Betrachter in ihre ihm zugleich fremde und nahe Welt hineinzulocken und in ihr wie in einer Frühlings- oder Herbstlandschaft spazieren zu gehen. Vielleicht würde er sich in diesen Landschaften an Obertonkonzerte erinnern und an die Vielzahl der Töne, die in jedem einzelnen Ton angelegt sind. Er würde in dem Überschwang der Farb- und Obertöne auf – und ausatmen können und in ihren delikaten Abstufungen und Übergängen mitschwingen wollen. Wahrscheinlich würden sich mit der Zeit Erinnerungen an Bilder von Meistermalern wie Tizian, Vermeer, Turner und Chagall und ihren Umgang mit dem Gefüge von Form, Licht, Farbe und Fläche einstellen und der Betrachter würde versuchen, deren Lösungen mit denen von Kharchenko zu vergleichen. Im Wechsel von hervor-und zurücktretenden Formen und deren Auflösung und im Wechsel von Licht- und Dunkelzonen könnte sich Mark Rothkos Epiphanie der Farbe und seine Vorstellung von <
Großformaten von Kharchenkos Werkgruppe „12 Stämme von Israel“ würde womöglich Barnett Neumanns
Vorstellung von Farbräumen aufscheinen, die sich wie Kuppeln über den Betrachter wölben und das Sublime als gegenwärtig erleben lassen. Newman hatte 1948 das natürliche menschliche Verlangen nach dem Erhabenen, nach absoluten Emotionen unterstrichen und gefragt, wie in einer Zeit ohne Legenden und
Mythen eine sublime Kunst realisiert werden kann. In seiner Antwort hatte er signalisiert, dass wir nach seiner Auffassung „nicht angewiesen sind auf die abgenutzten Requisiten einer verloschenen und
antiquierten Legende. Wir schaffen Bilder, deren Realität selbstverständlich ist und die ohne Stützen und Krücken oder Assoziationen mit veralteten Bildern, erhabenen oder schönen, auskommen… Anstatt
Kathedralen aus Christus, den Menschen oder dem >>Leben<< zu machen, schaffen wir Bilder aus uns
selbst und unseren eigenen Gefühlen. Das Bild, das wir hervorbringen, ist so einleuchtend, wirklich und konkret wie eine Offenbarung, ein Bild, das von allen, die es nicht durch die nostalgischen Brillengläser der Kunstgeschichte anschauen, verstanden werden kann“(8).
Kharchenko wertet die Bedeutung der Mythen deutlich positiver, wenn er in seiner
philosophischpoetologischen Annäherung an die Wahrheit in der Malerei (9) an den jüdischen Brauch
erinnert, alte Ereignisse wie die Tempelzerstörung oder den Auszug aus Ägypten bei Festen und im täglichen Gebet zu reaktualisieren. „Die jüdischen Gebete sind über 2500 Jahre alt unverändert bis heute geblieben. Es ist eine Spur dessen, was damals war, am Berg Sinai bis hinein in die Vergangenheit der Weltschöpfung. So erinnert - aktualisiert man täglich die Spuren, das macht das Jüdische Denken aus“(10). Kharchenkos Malerei könnte eine eigenständige und freie, von ihm selbst gewählte und verantwortete Form der Aktualisierung dieser Spuren sein. Eine Spur, die Abrahams Antwort auf den Anruf des Herrn „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will“(11) im säkularen Kontext weiterträgt und im Medium der Malerei vergegenwärtigt.
Anmerkungen: (1) Harald Frisch, Leitgedanken. In: Yury Kharchenko, Innenwelten. Katalog zur Ausstellung Yury Kharchenko vom 26. 4. bis 1.6.2013 in der Kunsthalle FRISCH, Berlin, Bielefeld 2013, S.5 (2) Harald Frisch, ebd. (3) Kay Heymer, Yury Kharchenko´s Häuser. In: Yury Kharchenko, Innenwelten, a.a.O S. 11 (4) Barbara J. Scheuermann, The spiritual on canvas. In: Yury Karchenko, Painting, extra Verlag Berlin 2012, S. 19 (5) Vgl. dazu Genesis 18, 1-16 (6) Vg. dazu Oliver Wick, >>Do they negate each other, modern and classical? Mark Rothko und die Sehnsucht nach Tradition. In: Mark Rothko, Retrospektive. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Hypo-Kulturstiftung München vom 7.2. bis 27.4. 2008 und in der Hamburger Kunsthalle vom 16.5. bis 24.8.2008, München S. 19
(7) Oliver Wick, ebd. (8) Barnett Newman, >>Das Erhabene ist jetzt<<. In: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert Band II 1940-1991, herausgegeben von Charles Harrison und Paul Wood, Ostfildern-Ruit 1998, S. 701 (9) Vgl. dazu Yury Kharchenko, Die Wahrheit in der Malerei. Das Manuskript wurde dem Verfasser
vom Autor als PDF zur Verfügung gestellt (10) Yury Kharchenko, ebd (11) 1. Mose 12,1 in der Übersetzung der Zürcher Bibel
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