Eulenspiegel Verlagsgruppe / Verlag am Park in der Edition Ost Verlag und Agentur GmbH, Berlin, 2023, ISBN 978-3-89793-376-7, 402 Seiten, 50 s/w Fotos, Links zu vier Fotogalerien mit Fotos vom Autor,  Broschur, € 24,00

Bernhard Weßlings Publikation ›Mein Sprung ins kalte Wasser‹ kann einmal aus der Sicht des Autors und Unternehmers Weßling gelesen werden. In diesem Lesemodus erscheint die Publikation des 1951 in Herne im Ruhrgebiet geborenen und heute nordöstlich von Hamburg in Klein Hansdorf  lebenden Chemikers, Unternehmers, Kranichforschers, Naturschützers, Sachbuchautors (vergleiche dazu https://www.bernhard-wessling.com), Geschäftsführers eines Demeter-Betriebes, Bio-Bauern und Geschäftsführers eines Hofladens (vergleiche dazu https://www.fr.de/panorama/der-mit-den-kranichen-spricht-91041188.htm) als lebensnahe und kurzweilige Erzählung über die gelungene Rettung seines 1996 gegründeten und später im Bereich der Nanotechnologie weltweit operierenden Unternehmens Ormecon als unerwartete und geradezu märchenhafte  Erfolgsgeschichte. 

Weßling hatte nach jahrelanger Forschung elektrisch leitfähige Polymere entdeckt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Leitfähige_Polymere), daraus anfänglich ohne jegliche Erfahrungen in der Leiterplattenindustrie einen Korrosionsschutz für Leiterplatten entwickelt und diese Technologie unter anderem in dem für Leiterplatten weltweit wichtigsten Markt China durchgesetzt. „Viele wohlmeinende ›Experten‹ hatten mir vorhergesagt, dass wir als kleine Firma in diesem Markt keine Chancen hätten, eine erfolgreiche Markteinführung unseres Prozesses, besonders in China, sei unmöglich und reine Geldverschwendung. Die außerordentliche Qualität unseres Prozesses hat sich dennoch durchsetzen können“ (Bernhard Weßling S. 374). Enorme Probleme mit Kunden und ständige Reklamationen hatten ihn in der Anfangsphase der Einführung des Produkts dazu gezwungen, nach China zu ziehen, geschäftlich zu verhandeln, eine Tochterfirma in China aufzubauen und Chinesisch zu lernen. Er wohnte in der Boomstadt ShenZhen unter Chinesen, arbeitet in der Regel von 8 bis 24 Uhr und in dem in China geforderten Tempo, löste die Probleme durch präzise Analysen der Fehlerquellen, offene und klare Diskussionen, baute sich einen kleinen Stab von Mitarbeitern auf, denen er vertrauen konnte und gewann mit der Zeit selbst das Vertrauen seiner Partner. An Wochenenden und Mittwochabenden spielte er in seiner knapp bemessenen Freizeit Fußball. Er wurde zu einem gefragten Torwart und hat mit der Zeit Freunde gewonnen (vergleiche dazu https://www.bernhard-wessling.com, www.bernhard-wessling.com/china).

Eine zweite Lesart könnte von der Frage ausgehen, wie es Weßling gelungen ist, sich als Deutscher in einem völlig anderen kulturellen Umfeld zu bewegen und sich geschäftlich durchzusetzen. Diese Lesart könnte als Beitrag zur interkulturellen Hermeneutik verstanden werden und dabei helfen, das eine oder andere westliche und das eine oder andere chinesische Vorurteil abzubauen. Weßling hatte 2010 im Internet ein Gedicht gefunden, das die anti-westlichen Gefühle, die zahlreiche Chinesen haben, gut beschreibt. Es soll schon seit 2008 im Internet kursieren und von dem emeritierten Professor Lin LiangDuo geschrieben worden sein (vergleiche dazu und zum Folgenden Bernhard Weßling S. 399 ff.):

„Ein Gedicht für den Westen: Was wollt ihr den wirklich von uns?

Als wir der kranke Mann Asiens waren,

nanntet ihr uns die ›gelbe Gefahr‹.

Als es hieß, dass wir die nächste Supermacht sein werden,

waren wir eine Bedrohung.

Als wir uns verschlossen haben,

habt ihr Opium in unser Land geschmuggelt.

Als wir den freien Handel für uns entdeckt haben,

habt ihr uns beschuldigt, Arbeitsplätze zu stehlen.

Als wir auseinanderbrachen,

seid ihr mit euren Truppen einmarschiert

und wolltet einen Platz an der Sonne.

Als wir die Scherben wieder zusammenfügten,

habt ihr gerufen: ›Free Tibet!‹ und es eine Invasion genannt.

Als wir es mit dem Kommunismus versucht haben,

habt ihr uns gehasst, weil wir Kommunisten waren.

Als wir den Kapitalismus für uns entdeckten,

habt ihr uns gehasst, weil wir Kapitalisten wurden.

Als unsere Bevölkerungszahlen wuchsen,

 hörten wir euch schreien, dass wir den Planeten zerstören.

Als wir das Bevölkerungswachstum bremsten,

hörten wir schreien, dass wir die Freiheit beschränken.

Als wir arm waren,

habt ihr uns behandelt wie Hunde.

Als wir euch Geld geliehen haben,

habt ihr uns für eure Staatsverschuldung verantwortlich gemacht.

Als wir unsere Industrie aufgebaut haben, habt ihr uns als Umweltverschmutzer beschimpft.

Als wir Öl gekauft haben,

habt ihr es Ausbeutung und Völkermord genannt.

Als IHR aber in den Krieg um Öl gezogen seid,

war es ein Kampf für Freiheit.

Als unser Land im Chaos versank,

rieft ihr nach den Gesetzen.

Als wir die Gesetze und Ordnung wieder herstellten,

war es eine Menschenrechtsverletzung.

Als wir uns ruhig verhielten,

hieß es, wir sollten das Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen.

Als wir unsere Meinung sagten, hat keiner zugehört.

Wir sind gehirngewaschene Fremdenhasser, hieß es.

›Warum hasst ihr uns nur so sehr?‹, fragen wir euch.

›Nein‹, sagt ihr. ›Wir hassen euch doch gar nicht.‹

Wir hassen euch auch nicht.

Aber versteht ihr uns?

›Aber natürlich verstehen wir euch‹, sagt ihr.

›Wir haben doch die ARD, das ZDF und den Spiegel.‹

Was wollt ihr wirklich von uns?

Denkt scharf nach, bevor ihr antwortet, denn euch hört man zu.

Genug ist genug. Genug Selbstgerechtigkeit für eine Welt.

Wir wollen eine Welt, einen Traum und Frieden auf Erden.

Der blaue Planet ist groß genug für uns alle.“

Der im weiteren Sinn interkulturellen Lesart könnten Weßlings fußballerische Aktivitäten (vergleiche dazu https://www.bernhard-wessling.com/fussballerabschied) und auch seine gelegentlichen Reisen in China abseits der üblichen Touristenrouten zugeordnet werden. Sie haben ihn unter anderem in das Zhangye-Feuchtgebiet (vergleiche dazu  https://www.bernhard-wessling.com/zhangye_feuchtgebiet) und in das Lijiang Lashi-Feuchtgebiet (vergleiche dazu https://www.bernhard-wessling.com/lashi_feuchtgebiet) geführt.

Eine dritte Lesart könnte von den von dem Schweizer Juristen und Sinologen Harro von Senger (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Harro_von_Senger) erforschten Strategemen ausgehen. Sie könnte unter der Überschrift stehen: „Wer sich austricksen lässt, geht unter“ (Bernhard Weßling S. 322 ff.). Senger hat die chinesische Kunst der List 1988 in seinem Buch ›Strategeme. Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden. Die berühmten 36 Strategeme der Chinesen – lange als Geheimwissen gehütet – erstmals im Westen vorgestellt‹ hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/36_Strategeme und https://www.amazon.de/-/en/Harro-von-Senger/dp/3502156565). Weßling hat zwar nach seinen ersten Kapiteln in China angeblich immer auf Offenheit, klare Rede und gegenseitiges Vertrauen gesetzt. Aber er gesteht dann mit der Zeit doch ein, dass er „schon seit jeher gern auch mal zu einer List greift“, wenn er ein von ihm erstrebtes Ziel anders nicht erreichen kann. „Während ich auch schon früher, vor meiner Zeit in China, eher unbewusst und intuitiv eine List erkannte oder selbst eine anwendete, entwickelte ich im Verlauf der Jahre dort einen bewussteren und systematischeren Umgang mit diesem Phänomen. In meinem Chinesisch-Unterricht und in Gesprächen kam hin und wieder zur Sprache, dass es in China eine seit Jahrtausenden entwickelte ›Kunst der List‹ gebe, und dass vor etwa 500 Jahren ein Kriegsstratege ein Buch herausgegeben habe, in dem ›36 Strategeme‹ beschrieben seien […]. In den mir bekannten Ratgeberbüchern […] fand ich nichts darüber. Ich müsse nur sehr aufmerksam sein, weil die Chinesen so trickreich seien, konnte ich lesen; besonders Taxifahrer und Einzelhändler seien richtig gewitzt“ (Reinhardt Weßling S. 322 f.).

 Erst als Weßling etwas über die Forschungsarbeiten des in Freiburg lehrenden Sinologen Harro von Senger erfuhr, entwickelte er ein etwas tieferes Verständnis dieser ›Kunst der List‹. Danach konnte er das Verhalten seiner Geschäftspartner und sein eigenes den 36 Strategemen zuordnen.

Dass Weßling weder die sonst breit erörterte Tibet-Frage (vergleiche dazu etwa Tobias Leberer, Die Komplexität der Tibetfrage. In: https://www.bpb.de/themen/asien/china/44286/die-komplexitaet-der-tibetfrage/) noch das Tian’anmen-Massaker (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Tian’anmen-Massaker

noch Chinas Klimapolitik (vergleiche dazu Li Suhl, Am Kipppunkt. Chinas Klimapolitik steckt in einer schweren Krise. In: Süddeutsche zeitung Nr. 275 vom 29. November 2023, S 5. Und: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-klimapolitik-interview-1.6310348?reduced=true) noch seine militärische Aufrüstung (vergleiche dazu etwa „Sicherheitslage sei zunehmend instabil und ungewiss“ – Xi kündigt Aufrüstung Chinas an. In ›Wirtschaftswoche‹ vom 8. November 2022: https://www.wiwo.de/politik/ausland/china-sicherheitslage-sei-zunehmend-instabil-und-ungewiss-xi-kuendigt-aufruestung-chinas-an/28795784.html und Jürg Kürsener, China hat bereits mehr Kriegsschiffe als die USA. In: NZZ vom 1.12.2202  https://www.nzz.ch/international/china-und-die-usa-nur-zoegerliche-reaktion-auf-chinas-aufruestung-ld.1589347)

noch Chinas Autoritarismus (vergleiche dazu das Interview ›Hongkong ist der Anfang‹ von Kai Strittmatter mit dem Taiwanesischen Außenminister Joseph Wu in der Süddeutschen Zeitung Nr. 242 vom 20. Oktober 2023 S. 7 und Taiwan heute https://taiwanheute.tw/print.php?unit=118,119,120,121&post=243712) noch Xi Jinpings Weltmachtstreben (vergleiche dazu etwa Christoph Koopmann / Lea Sahey, Pekings langer Arm nach Pirna. In Süddeutsche Zeitung Nr. 224 vom  28. September 2023 S. 3. In: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/china-xi-jinping-afd-maximilian-krah-neue-seidenstrasse-e944737/) noch die Rolle der kommunistischen Partei (vergleiche dazu etwa Steffen Ritter, China. Der große Irrtum. In ZEIT Online vom 20. März 2018: https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/china-nationaler-volkskongress-kommunistische-partei-diktatur-demokratie-usa-europa/komplettansicht) im eigentlichen Sinn diskutiert, ist dann doch verwunderlich. 

Deshalb erscheint es sinnvoll, Weßlings Publikation viertens auch noch von der am 13. Juli 2023 veröffentlichten Chinastrategie der Bundesregierung (vergleiche dazu https://dserver.bundestag.de/btd/20/077/2007770.pdf) und https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2608578/810fdade376b1467f20bdb697b2acd58/china-strategie-data.pdf),  Positionen wie denen der Wirtchaftsethikerin Alicia Henning (vergleiche dazu „Der Wandel durch Handel ist gescheitert“. In: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/china-alicia-hennig-xinjiang-menschenrechte-xi-jinping-lieferketten-unternehmen-deutschland-1.6314404) und des Geschäftsführer und Generalbevollmächtigten der BASF China Jörg Wuttke (vergleiche dazu Jörg Wuttke, China droht am Selbstlob zu scheitern. In.DIE ZEIT Nr. 49 vom 23. November 2023, S.25, In: https://www.zeit.de/2023/49/chinesische-wirtschaft-peking-europa-basf-joerg-wuttke) und den oben skizzierten Problemanzeigen her zu lesen. In dieser Lesart ergibt sich wieder ein völlig anderes Bild. Dass VW und BASF anders als andere Firmen dabei sind, ihr Engagement in China noch einmal zu erhöhen, weil sie dort langfristig die größten Wachstumschancen sehen (vergleiche dazu Florian Müller, Handel. Wie hältst du es mit China? In: https://zeitung.sueddeutsche.de/issues/sz/sz_2023-12-08/page_2.1722241/article_1.6309791/article.html) zeigt, dass Teile der Wirtschaft den von der Bundesregierung angedachten Abbau der Risiken völlig anders beurteilen als diese und deshalb bereit sind, wie Weßling ins kalte Wasser zu springen. Es könnte aber auch sein, dass VW und BASF in Sachen Zwangsarbeit in China falsch beraten worden sind, so der Xinjiang-Forscher Adrian Zens (vergleiche dazu Ben Heubl, Christina Kunkel, Florian Müller. Kritik an VW wegen Xinjiang. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 284 vom 9./10. November 2023. S. 30: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vw-china-vorwurf-zwangsarbeit-1.6316708).

ham, 8. Dezember 2023

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