>> … und zurück deutet der kommende Gott. <<
Friedrich Hölderlin, Brod und Wein
Fundus - Bücher 204 herausgegeben von Harald Falckenberg, Peter Weibel und Dirk Luckow
Philo Fine Arts, Hamburg 2013, ISBN 978-3-86572-689-6, 272 Seiten, 21 s-w -Abbildungen,
Personenregister, Hardcover, Format 16,5 x 10,3 cm, € 26,00
Immer wenn der streitbare, 1947 in Basel geborene, in Karlsruhe an der HFG lehrende und heute in Berlin
lebende Kunsthistoriker und Medientheoretiker Beat Wyss zur Feder greift, kann man Relevantes lernen. Der
Text, der dem angezeigten Fundusband zugrunde liegt, ist auf 29. Mai 2002 datiert; er lag elf Jahre lang in
der Schublade, trägt die Überschrift „Bin ich Antisemit?“ und steht an der Stelle des sonst üblichen Vorworts.
Der nach jahrelangem Warten entstandene Großessay handelt von „Renaissance als Kulturtechnik“.
Wyss war 2002 von der FAZ gebeten worden, über den Einfluss jüdischer Denker auf die
Nachkriegsgeneration zu schreiben. Die Redaktion der Zeitung wies seinen Text zurück und überwies ihm
das vereinbarte Honorar „gleichsam als Schweigegeld“ (Beat Wyss S. 7). „Die Wiedervorlage geschieht aus
Nachträglichkeit im doppelten Sinn. Einmal im Freud´schen Sinne einer Umschrift von Vergangenem;
nachtragend bin ich aber auch ganz persönlich als Autor eines Zeitungsartikels, dessen Veröffentlichung aus
politischen Rücksichten verweigert worden war … Michael Naumann, damals Chefredakteur von Die Zeit,
um sein Urteil über den abgelehnten Zeitungsartikel gebeten, verhielt sich bedeckt und schrieb zurück, es sei
in diesen Text zu viel hinein gepackt. Diese Kritik ließ ich gelten und nahm mir vor, bei Gelegenheit die
überladene Kolumne durch einen Kommentar auszugleichen. So entstand … der vorliegende Versuch über
die Wiederkehr … Der Essay folgt … Spuren von Wiederholung, Wiedergeburt und Heimkehr … (Er)
versteht sich als Beitrag Zur Theorie der Verspätung mithin zur Kulturtechnik der Renaissance“ (Beat Wyss
S. 7, 16 ff.).
Wyss setzt mit verschachtelt aufeinander bezogenen Thesen ein. Kulturkritik verdankt sich nach seinem
Verständnis dem logozentrischem Denken, das einen guten und vollkommen Ursprung annimmt, der im
Verlauf der Geschichte korrumpiert wird. Das Medium der Kulturkritik ist die Schrift. Kulturkritik gerät in
einen Selbstwiderspruch, wenn sie mündliche Akteure wie Sokrates, die Vorsokratiker und Jesus schreibend
tradieren und zugleich die Kritik abwehren will, dass sie die mündliche Rede falsch verstanden und
überliefert habe. Die logozentrierte Kulturkritik löst den Selbstwiderspruch nach Wyss gnostisch. Die
Kunstkritik sehnt sich „zurück ins Ungeschiedene, ins noch nicht Aufgeschriebene, in den Mutterleib“ (Beat
Wyss S. 22). „Was ist Gnosis? Die reine Lehre im Kampf gegen den Abfall. Wer sie befolgt, widerfährt die
Erlösung in Form einer Wiederkehr: Ins Paradies, ins Nirwana, in ein Nichts, das mit Gott
zusammenfällt“ (Beat Wyss S. 23). Nach Kapiteln unter anderem über die im Kirchenjahr gezähmte Zeit,
die säkulare Gnosis und die von Walter Benjamin und Aby Warburg vertretenen Auffassungen von
Renaissance skizziert Wyss seine Theorie der Verspätung: „ Aus historischer und philosophischer Sicht
können einige Regeln über die Umstände beschrieben werden, unter denen ein Neues das Alte ablöst, es
überbietet oder ergänzt. Experimentierfeld der Zukunft ist für die Theorie die Vergangenheit. Aus dem
Kaffeesatz der Geschichte ergeben sich die Muster, wie und warum Neues je entstanden ist. An die erste
These, wonach das Neue mit dem Alten verknüpft sei nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung, schließt
eine zweite: Die kausale Beziehung von alt und neu geschieht im Muster der Nachträglichkit. Das Modell
stammt aus der Psychoanalyse und erklärt, wie das Neue auf das Alte folgt, und warum ein Altes kein
anderes Neues ermöglicht hat, als genau dieses“ (Beat Wyss S. 222). Neues zu setzen ist nach Wyss Sache
der Künstler; dafür braucht es nicht notwendig Theorie. „Das Gespür für das Neue ist das grundlegende
Talent, das den Künstler ausmacht“ (Beat Wyss, a.a.O). Aber der Kunsthistoriker und Theoretiker braucht
den Abstand zu seiner Quelle, zum Bild, wenn er verstehen will. „Bilder sind keine wesenhaften
Wahrheitsspeicher, sondern Projektionsflächen der deutenden Subjekte. Es ist die Gemeinschaft der
Beobachteten und Urteilenden, die das Gedächtnis um die Bilder unermüdlich vermehrt. Die Bedeutung
eines Kunstwerks verdankt sich aber nicht nur dem Tiefsinn gescheiter Kommentare und Analysen, sondern
… auch der Reproduktion. Die Natur eines Originals entfaltet sich erst vor dem Hintergrund seines
unablässig Kopiert- und Zitiertwerdens“ (Beat Wyss S. 224 f.). Im anachron erfahrenen Bild schlägt dieses
als „stehendes Jetzt! … ein Loch in die Zeit“ (Beat Wyss S. 225), lässt den Betrachter verweilen und ihn
seine Versuche fortsetzen, es nachträglich zu verstehen. „Aber ist die Suspendierung von Zeit, wie sie im
Kunstwerk, jener Maschine der Vergegenwärtigung, erfahren werden kann, wirklich ana-chron? … Die
konventionelle Leserichtung von Geschichte stellt … das Alte an den Anfang. Die existenzielle Tatsache
verhält sich … umgekehrt. Ich bin schon da, bevor es mir dämmert, dass es Dinge gegeben haben könnte, die
vor mir da waren. Am Anfang ist meine Gegenwart. Die heuristische Leserichtung von Geschichte verläuft
von Jetzt nach Einst. Nicht anachron, sondern kata-chron wird Vergangenheit messbar … Der
historiografische Akt gräbt sich archäologisch voran in frühere Zeitschichten … Das katachrone Verständnis
von Historik entspricht dem psychoanalytischen Begriff der Nachträglichkeit. Beide Verfahren zielen auf
eine Umkehrung bei der Beschreibung von zeitlicher Kausalität. Das chronologische Modell ist
mechanistisch in dem Sinne, als angenommen wird, die früheren Ereignisse beeinflussten linear die späteren.
Das katachrone Modell macht aber ein interaktives Verhältnis stark im Sinne einer Gegenübertragung. Es
sind die aktuellen Ereignisse, welche die Sicht auf die früheren Ereignisse bestimmen …“ (Beat Wyss S. 226
f.)
In der Renaissance wird der Mechanismus der nachträglichen Bearbeitung zum Programm der Erneuerung
der Kunst … „Veraltete Formvokabulare, technische Verfahren, die ihren Zenit überschritten hatten,
erloschene Symbole finden im Kunstsystem ein Asyl der Reflexion und einen >>Denkraum der
Besonnenheit<< … zum Schutz vor der Gewalt, welche die Praxis den Dingen zufügt im Prozess des
Fortschritts. Künstlerische Innovation beruht auf Nachträglichkeit. Jeder neue Stil ist >Renaissance< …Das
Neue wird … wieder erkennbar als Déjà-vu“(Beat Wyss S. 246).
ham, 27.5. 2015
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