Paradoxien eines ärztlichen Postulats in der Behandlung Schwerstkranker
Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2020, ISBN: 978-3-11-070628-4, 265 Seiten, 1 s/w und 13 farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 24,5 x 17,5 cm, € 39,95
Häusliche Abendmahlsfeiern mit Sterbenden im Kreise ihrer Angehörigen gehören zu den beeindruckendsten Erfahrungen aller Beteiligten. Aber sie sind selten geworden. Obwohl 55 % der Deutschen angeben, am liebsten zu Hause sterben zu wollen, sterben bis zu 75 % vor allem in Institutionen: Untersuchungen zeigen als Orte des Sterbens mit 50 % das Krankenhaus, 20 % Pflegeeinrichtungen, 24 % zu Hause, 5 % Hospize und 1 – 2 % Palliativstationen. Damit ist das Krankenhaus in Deutschland der häufigste Sterbeort wie in anderen Industriestaaten auch. Zwar wurden in den letzten 30 Jahren neben Hospizen auch Palliaitvstationen in Krankenhäusern aufgebaut. Aber um die 50 % sterben auf Normal- und Intensivstationen eines Akutkrankenhauses. Da der Tod mit der wachsenden Zahl chronisch verlaufender Erkrankungen immer seltener plötzlich eintritt, wird die Sterbebegleitung auf Normal- und Intensivstationen zu einer wachsenden Herausforderung.
Herkömmlich ist die Aufgabe der Sterbebegleitung den Angehörigen und dem Gemeindepfarrer zugefallen. Daneben haben die Kirchen die Krankenhausseelsorge auf- und ausgebaut und professionalisiert (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Krankenhausseelsorge, https://www.ekd.de/Krankenhausseelsorge-24397.htm und https://www.katholisch.de/artikel/23512-wie-die-krankenhausseelsorge-zukunftsfaehig-bleiben-will).
Gleichwohl können Klinikleitungen und Ärzte nicht länger über die Widersprüche hinwegsehen, die sich aus dem Mit- und Gegeneinander der rasanten Entwicklungen in den diagnostischen und therapeutischen Techniken, der Fokussierung auf Heilung, der gleichzeitigen Zunahme chronisch Kranker und der Professionalisierung der Palliativversorgung ergeben. Dazu kommen die gesellschaftliche Forderung nach einer würdevollen und individuellen Sterbebegleitung auch im ökonomisierten Gesundheitswesen und schließlich Patienten, die in die Entscheidungen, ob und wie sie behandelt werden sollen, einbezogen werden wollen. Diese widersprüchlichen Entwicklungen haben die Psychoonkologin Asita Behzadi zu der Frage geführt, wie die medizinischen Akteure die Behandlungspraxis erleben und wie sie mit den Widersprüchen zwischen gesundheitspolitischen Überlegungen, öffentlichem Skandalisieren der Behandlung schwerkranker und sterbender Patient*innen und der Behandlungspraxis umgehen. Diese Fragen führten Behzadi zu ihrer 2019 abgeschlossenen Dissertation, die der angezeigten Publikation zugrunde liegt.
Ihrer qualitativen Studie geht von 30 Interviews mit Ärztinnen und Ärzten aus 13 verschiedenen Fachdisziplinen und einer Gruppendiskussion mit den Ärzten aus, die auf Normal- und Intensivstationen in zwei städtischen Krankenhäusern mit je einer Palliativstation arbeiten. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Sterbende oder Langlieger den medizinischen Enthusiasmus der Ärzte verunsichern. Die ökonomisierte Durchlaufmedizin erschüttert die ärztlichen Ideale von Zeit und Raum für die Sterbebegleitung. Was zutage tritt, ist ein moralisches und psychisches Unwohlsein in der erlebten Behandlung Sterbender. Die „verunsicherte, weil uneindeutige, Behandlungssituation wird in der Palliativ-Dimension und in heterogenen Sterbebildern deutlich. Um den zentralen Behandlungsauftrag der Akutbehandlung bzw. Heilung im Krankenhaus aufrechtzuerhalten, lassen sich verschiedene ärztliche Strategien erkennen: eine begriffliche Erweiterung der Akut- und/oder Heilungsorientierung um eine ›formal kurative‹ Behandlung, eine diffuse, vermeidende oder einseitig auf Heilung ausgerichtete ärztliche Aufklärung von Patient*in und Angehörigen trotz Verschlechterung der Erkrankungssituation, eine Priorisierung von kurativen vor palliativen Patient*innen bei der Aufnahme, eine schnelle Verlegung Schwerstkranker oder Sterbender aus dem eigenen Arbeitsbereich oder aber die paradoxe Nicht-Nutzung eines Palliativkonsildienstes trotz formuliertem Unterstützungsbedarf.
Das ärztliche Entscheiden wird auch für Sterbesituationen als zentraler Behandlungsauftrag angesehen. Patient*innenverfügungen werden für die Entscheidungsfindung als wenig hilfreich erlebt, anders als die Einschätzung der Pflegenden, die eine Therapiezieländerung oftmals einleitet. Die Sterbebegleitung und die Unterstützung der nun zunehmend in Erscheinung tretenden Angehörigen, nicht aber Therapieentscheidungen, werden im Aufgabenbereich der Pflegekräfte verortet. Die komplexen Entscheidungssituationen verweisen auf Hierarchien und eine starke Personengebundenheit, d. h. auf individuelle und strukturelle Handlungsspielräume. In der Schlüsselkategorie, dem ›ärztlichen Postulat vom Sterbendürfen im Krankenhaus‹, formiert sich eine Theorie der Praxis, welche die widersprüchlichen Forderungen und Begründungen für die gegenwärtige medizinische Behandlung schwerstkranker und sterbender Patient*innen im Krankenhaus aufgreift. Der vorrangig intradisziplinäre und organisationsbezogene Appell der Ärzt*innen verweist auf eine diffuse Bewusstheit in der Behandlung Sterbender und auf eine stark hierarchische Organisation des deutschen Gesundheitswesens“ (Asita Behzadi S. 226 f.).
Die ethische und soziale Einforderung des ›Sterbendürfens im Krankenhaus‹ erscheint weniger als eine Aufforderung an Patient*innen, ihre Sterberolle anzunehmen. Vielmehr werden Ärzt*innen
sichtbar, die um die Anerkennung der palliativen Versorgungsform ringen, die im Krankenhaus längst stattfindet und endlich auch von den leitenden Ärzten und der Klinikleitung anerkannt und als Aufgabe angenommen werden sollte.
„Das Postulat vom Sterbendürfen erweist sich in der Praxis darüber hinaus in bemerkenswerter Weise als prognostisches Instrument für individuelles und organisatorisches Handeln in der Begegnung mit Schwerstkranken. Es erscheint … daher lohnend, das Postulat hinsichtlich Kommunikations- und Interaktionssituationen zwischen Behandlern, Patient*innen, Angehörigen und Organisationen weiter auszudifferenzieren und als Vermittlung zwischen Theorie und Praxis nutzbar zu machen“ (Asita Behzadi S. 223).
ham, 8. Januar 2021