Schirmer/Mosel Verlag, München, 2024, ISBN 978-3-8296-0758-2, 480 Seiten, 251 Farbtafeln, 162 Abbildungen, Großformat 37 x 25 cm, in Leinen gebunden, Sonderpreis zum 50. Verlagsjubiläum € 50,00 (D), / € 51,50 (Ö) / CHF 57,50
Unter den vielen Büchern, Einzel- und Sammelbänden, Katalogen, Zeitschriften, Zeitungsartikeln, Videos und CDs, die zum Werk des 1932 in Dresden geborenen Gerhard Richter erschienen sind, gehört Armin Zweites groß angelegte Monographie zweifellos zu den bedenkens- und lesenswertesten (vergleiche dazu etwa https://www.buecher.de/rubrik/buecher/richter-gerhard/01150434/, https://gerhard-richter-archiv.skd.museum/ueber-uns/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Richter). Richters langjährige Wegbegleiter bettet das von großer motivischer Komplexität, außerordentlicher formaler Vielfalt und überraschenden Stilbrüchen geprägte Werk des heute in Köln lebenden Großkünstlers in die Zeit-, Kultur- und Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhundert ein, verortet die von ihm besprochenen Werkgruppen und Einzelbilder in der Stil- und Gattungsgeschichte und arbeitet ihre spezifische Eigenart im Vergleich mit und in Abgrenzung zu bisher vorliegenden Hauptwerken heraus. Dadurch geht seine Publikation weit über die Kunstkritik hinaus und wird zu einem wissenschaftlich fundierten Dokument der Kunst-, Kultur- und Zeitgeschichte. Man kann mit Niklas Luhmann davon sprechen, „dass die Institutionalisierung von Kunst es erforderlich macht, die Kunstwerke untereinander ›Diskurse‹ führen zu lassen. Kunst zitiert Kunst, kopiert sie, lehnt sie ab oder rezipiert und erweitert sie. Jedenfalls reproduziert sie sich in einem über das Einzelwerk hinausreichenden Referierzusammenhang ständig neu“ (Niklas Luhmann nach Armin Zweite S. 8).
Zweite setzt mit Richters Dresdener Zeit, seiner zwischenzeitlich wieder teilweise freigelegten Diplomarbeit ›Lebensfreunde‹ von 1956, seiner Ausreise aus der DDR im Frühjahr 1961, seinem als Nummer 1 in sein Werkverzeichnis aufgenommenen ›Tisch‹ von 1962 und Werken wie den ›Sargträgern‹ und den ›Fußgängern‹ von 1963, der ›Frau mit Schirm‹ von 1964, der ›Große Sphinx von Gise‹ und ›Tante Marianne‹ von 1965 ein (vergleiche dazu und zum Folgenden https://gerhard-richter.com/de/exhibitions/gerhard-richter-bilder-19621985-113), die er nach fotografischen Vorlagen gemalt hat. Richter kritisiert dabei das Medium Fotografie zugleich „als positivistisch, indem er es aus der Reproduzierbarkeit löst, in Handarbeit verwandelt und damit verfremdet“ (Armin Zweite S. 38) In Arbeiten wie ›Frau mit Schirm‹, die die erschütterte Jackie Kennedy nach der Ermordung ihres Manns festhält, „zeigt er etwas, was das Foto nicht zeigt, jedoch auf eine unbestimmte Weise beinhaltet. Erst durch Richters Malerei wird erfahrbar, dass etwas Undenkbares – das Attentat und der Tod des Präsidenten – die eigentliche Realität ist“ (Armin Zweite a. a. O.). Wie in dieser geht es auch in allen weiteren Arbeiten um die Frage, wie Wirklichkeit im Medium der Kunst dargestellt werden kann.
Zweite gliedert seinen Band nach einer Zwischenbemerkung über den Buchtitel nach chronologischen und gattungsspezifischen Kriterien und thematischen Zusammenhängen. Richters häufig wiederholter und für seine gesamte Produktion maßgeblicher Satz ›Das Denken ist beim Malen das Malen‹ verweist auf seine dezidierte Trennung der malerischen Praxis von aller theoretischen Konzeption, „die es vor Beginn der eigentlichen praktischen Tätigkeit zwar geben kann, die aber im Vollzug des Malens selbst keine entscheidende Rolle mehr spielt, weil sich … die künstlerische Vorstellungswelt erst im physischen Prozess herausbildet und realisiert. Sehr verkürzt verweist Richters Formulierung auf einen komplexen Vorgang von reflektieren, sehen, machen, entscheiden, korrigieren, verwerfen, erneut ansetzen usw., wobei die einzelnen Phasen sich überlagern und durchdringen, allerdings immer unter dem Vorzeichen, dass die physische Aktion, also das Malen selbst immer den Vorrang hat und ästhetische oder inhaltliche Entscheidungen, so wichtig sie auch sind, zeitlich nachgeordnet bleiben“ (Armin Zweite S. 83).
Richters seit 1966 entwickelte Farbtafeln (vergleiche dazu https://www.flickr.com/photos/24151359@N04/8008720402) kulminieren in ›4900 Farben‹ (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/videos/abstracts/4900-colours-cr-901-103) und in seinem ›Domfenster‹ für das Südquerhaus des Kölner Doms (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Richter-Fenster). Seine Vermalungen und grauen Bilder setzen sich mit der Frage auseinander, „ob nicht unser Sehapparat vielleicht Bilder liefert, die möglicherweise nur Illusionen darstellen“ und daher keine zutreffende Vorstellung von der wahren Beschaffenheit der Realität vermitteln (Armin Zweite S. 104. Vergleiche dazu Gerhard Richter, ›Rot-Blau-Gelb‹, 1972. In: https://gerhard-richter.com/en/art/paintings/abstracts/red-blue-yellow-48/red-blue-yellow-5943 und Gerhard Richter, ›Vermalung (braun)‹, 1972. In: https://gerhard-richter.com/de/art/paintings/abstracts/inpainting-45/inpainting-brown-5864). Seine seit 1967 entstehenden Glasscheiben und Spiegel können unter anderem auch als Auseinandersetzung mit dem Minimalismus und Postminimalismus verstanden werden (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/art/other/glass-and-mirrors-105/?p=1&sp=32). Seine seit Mitte der 1960er-Jahre zusammengetragene und später unter dem Namen ›Atlas‹ bekannt gewordene Sammlung von Fotografien, Zeitungsausschnitten und Skizzen (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/art/atlas) wurde von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München angekauft und wird dort bis heute ergänzt (vergleiche dazu https://www.facebook.com/watch/?v=1802225550136416). Ebenfalls im Lenbachhaus sind seine ›Zwei Skulpturen für einen Raum von Palermo‹ zu finden (vergleiche dazu https://www.lenbachhaus.de/blog/gerhard-richter-zwei-skulpturen-fuer-einen-raum-von-palermo-1971). Seine 1971/1972 im Deutschen Pavillon in Venedig gezeigten ›48 Porträts‹ (vergleiche dazu https://www.stern.de/kultur/gerhard-richter-wird-90—das-sind-seine-bedeutendsten-werke_31612286-31612126.html) sind im Museum Ludwig in Köln untergekommen.
Unter seinen Porträts ist Richters nach einem Foto von 1978 geschaffenes Bild seiner Tochter ›Betty‹ eines der wiederholt ausgestellten und häufig reproduzierten (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/betty). „Den anschaulichen Charakter des Gemäldes bestimmt eine lapidare, geradezu klassisch anmutende Dreiecks-Komposition. Man erblickt eine weibliche Gestalt, wobei die leichte Drehung um die eigene Körperachse offen lässt, ob die nur zur Hälfte sichtbare Figur sitzt und Arme und Hände die angedeutete Bewegung abstützen. Einfache Geometrie und magistraler Farbklang fesseln die Aufmerksamkeit des Betrachters unmittelbar. Bildbestimmend ist der rotweiß geblümte Morgenrock oder Bademantel, der vorn den Blick auf ein roséfarbenes Hemd freigibt. Darüber erhebt sich im Zentrum des Ganzen Bettys Kopf mit den matt glänzenden blonden Haaren, deren Strähnen im Nacken über der rückseitigen Kapuze so zusammengebunden sind, als würden sie in der dunklen Einfaltung verschwinden“ (Armin Zweite S. 296).
Unter den zwischen 2. und 7. Mai 1989 von Richter gemachten ›Sechs Fotos‹ von sich selbst zeigt ihn die Aufnahme ›c – 4.5.1989‹ in der Hocke (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/art/editions/six-photos-may-27-1989-c-4-may-1989-12763/?p=1&sp=32&pg=16). Der „ernste Blick geht nach außen, er trägt ein grob gestreiftes Hemd. Alles in allem ist es eine Sequenz von großer Trostlosigkeit und Verunsicherung. Man assoziiert Isolation, Verzweiflung oder Gefangenschaft und registriert das allmähliche Verschwinden des Akteurs in der Dunkelheit eines Raums, der den Charakter eines Verlieses annimmt. Niemals zuvor, so Hubert Butin, hat Richter in Selbstdarstellungen so ausdrücklich die eigene psychische Befindlichkeit zum Ausdruck gebracht. Warum das so ist, lässt sich nur mutmaßen. Die Arbeiten entstanden zwei Jahre nach der Präsentation des Gemäldezyklus ›18. Oktober 1977‹ … 1983 hält Richter in seinen Notizen Folgendes fest: ›Kunst hat es im Wesentlichen mit Not, Verzweiflung und Ohnmacht zu tun … und diesen Inhalt vernachlässigen wir oft, indem wir die formale, ästhetische Seite zu isoliert wichtig nehmen. Dann sehen wir … die Form als das den Inhalt Fassende … Dabei hat der Inhalt keine Form (wie ein Kleid, das man wechselt), sondern ist Form (die nicht wechselbar ist). Not, Verzweiflung, Ohnmacht können nicht unästhetisch dargestellt werden, denn ihre Ursache ist die Verletzung der Schönheit (Vollkommenheit)‹ … Bilder sind für Richter keine Modelle für eine bessere Welt. Sie können jedoch ein Trost sein, ›wenn sie genügend Geheimnis besitzen und ähnlich rätselhaft sind wie das Leben selbst. Allein die Annäherung an diesen Zustand löst Glücksgefühle aus ‹ … 1982 hatte er von der ›immer stärker werdenden Faszination z.B. so vieler alter schöner Bildnisse‹ geschwärmt und behauptet: ›Die Kunst ist höchste Form von Hoffnung‹. Weniger in seinen Selbstbildnissen als in den Porträts seiner Familie kann man das nachvollziehen“ (Armin Zweite / Gerhard Richter S. 303 ff.).
Richters Gemäldezyklus ›18. Oktober 1977‹ wurde der Öffentlichkeit vom 12. Februar bis zum 9. April 1989 im Museum Haus Esters in Krefeld vorgestellt und ist heute im MoMA in New York zu finden (vergleiche dazu https://www.moma.org/collection/works/79037). „›18. Oktober 1977‹ umfasst 15 Bilder unterschiedlicher Größe. Ihr Thema ist im Wesentlichen der Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in der Naht vom 17. auf 18. Oktober 1977 im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim und die Beerdigung auf dem dortigen Waldfriedhof. Ulrike Meinhof war nach ihrem Suizid im Mai 1976 in Berlin beerdigt worden. Bei den Genannten handelt es sich um Mitglieder der ›Rote Armee Fraktion‹ (RAF), einer linken Terrorgruppe, die ab den späten 60er Jahren durch eine Reihe von Gewalttaten die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und ihre Sicherheitsorgane herausforderte. Alle Gemälde des Zyklus beruhen auf fotografischen Vorlagen. Bei der Vorbereitung seiner Werke hat Richter viele Publikationen zu Rate gezogen, Reportagen und Darstellungen in Büchern und Zeitschriften gelesen, Archive besucht, darunter auch die der Polizei. Auf der Basis umfangreicher Materialien und Bilddokumenten hat er schließlich eine Auswahl von Motiven getroffen und zwischen März und November 1988 seine Gemälde geschaffen. Dabei unterlegte Richter der scheinbaren Evidenz von Fotografien, die ja die Teilnahme am abgebildeten Geschehen verspricht, seine Zweifel gegenüber jeder Konstruktion oder Rekonstruktion von Geschichte. Seine Bilder beziehen ihre Kraft zu einem guten Teil aus der Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt fotografischer Dokumente. Die Unschärfe der Darstellung trägt dem Vorbehalt insofern Rechnung, als die Gemälde nicht primär Fakten vergegenwärtigen, sondern von Unsicherheit, Zweifel, Sinnverweigerung und vor allem Trauer gekennzeichnet sind …
Seine Motivation, sich künstlerisch mit diesen Geschehnissen auseinanderzusetzen, hat Richter in einem Brief vom November 1988 an Stefan Germer folgendermaßen beschrieben: ›Anfang der 60er Jahr von der DDR kommend, weigerte ich mich natürlicherweise, Verständnis für die Ziele und Methoden der RAF aufzubringen. Ich war zwar von der Energie, von dem kompromisslosen Willen und dem absoluten Mut der Terroristen beeindruckt, aber ich konnte dem Staat seine Härte nicht verdenken: Staaten sind so, und ich hatte andere, erbarmungslosere erlebt.‹
Die 15 Bilder sind als ein Werk zu verstehen. Den Darstellungen liegt kein chronologischer Ablauf und auch keine in sich schlüssige Geschichte zugrunde … Da es offensichtlich kein Narrativ gibt, wird man sich am ehesten auf eine formale Ordnung verständigen können, so wie sie Richter selbst im Layout seines Œuvrekatalogs festgelegt hat. Es sind die Formate der Gemälde, die die Gesamtstruktur der Serie definieren. Auf drei kleinere Bilder … folgt ein steiles Hochformat …, an das sich ein kleineres Querrechteck anschließt … Die Sequenz wiederholt sich in umgekehrter Reihenfolge: ›Erschossener‹ …, ›Zelle‹ … und drei Mal ›Gegenüberstellung‹ … Symmetrie bestimmt auch die restlichen fünf Gemälde. Jeweils zwei kleine Formate (einerseits ›Jugendbildnis‹ und ›Plattenspieler‹ … und andererseits zweimal ›Festnahme‹) … umrahmen das große ›Begräbnis‹ … ›Tote‹ zeigt das verschwommene Profil Ulrike Meinhofs, die so flach auf einer Decke ohne Kopfstütze liegt, dass man ihr bleiches, zurückgeworfenes Gesicht mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund nur schemenhaft wahrzunehmen vermag … Für die zweite Darstellung wählte Richter ein etwas kleineres quadratisches Format … Die dritte Version fällt im Format um zwei Drittel kleiner aus als die erste Fassung des Sujets … Hier nun sind die Kontraste noch weiter abgemildert und sich andeutende Auflösungsprozesse eine Nuance weitergetrieben. Was sich abzuzeichnen beginnt, ist ein allmähliches Verblassen des Spezifischen bzw. eine sachte Tilgung des Unverwechselbaren …
Auch in dem Bild ›Erhängte‹ … erscheint alles verschwommen, wobei sich eine schwärzliche Zone bedrohlich über die gesamte Höhe des linken Bildrands erstreckt und dabei eine deutliche Schräge ausbildet, mithin eine Störung signalisiert. Was entfernt an einen schweren Mantel oder Vorhang erinnert, wirkt allerdings wie ein Repoussoir und lenkt den Blick ins Innere einer buchstäblich bodenlosen Gefängniszelle. In einem abgerundeten Element rechts der Bildmitte lässt sich der schemenhafte, mit einem dunklen Pullover bekleidete Oberkörper von Gudrun Ensslin vermuten. Ein kleiner heller Fleck deutet auf ihr Gesicht, während die herabbaumelnden Arme und Beine der Toten sich nur erahnen lassen. Tektonisches Gitterwerk des großen Zellenfensters im oberen Bereich und fahle Irrlichter in den unteren Partien umgeben die kaum erkennbare Gestalt der Gehängten und zehren sie aus. Insgesamt evoziert das trostlose Ensemble einen gespenstischen Eindruck, der das Schreckliche ins Diffuse verbannt und ihm damit etwas von seiner beängstigenden Wirkung nimmt.
›Erschossener‹ … zeigt den toten Andreas Baader wie im Schwebezustand. Sein Körper nämlich bildet einen flachen, aber durchaus gespannten Bogen, der vom linken zum rechten Bildrand reicht, wobei die Skala der Töne von tiefem Dunkel- zu bleichem Hellgrau verläuft. Die in Untersicht gegebenen Gesichtszüge sind, da restlos verschwommen, ohne jeden Ausdruck und unterscheiden sich kaum vom geknitterten Stoff des Hemds. Deutlich erkennbar sind der abgewinkelte Arm und seine linke Hand. Beide Kurven von Körper und Arm kreuzen sich im Kopf des Toten und enden in den kantigen Elementar rechten Bildrand und der Blutlache neben dem Kopf. Baader hatte sich mit einem Revolver erschossen, wobei lange unklar war, wie die Waffe ins Gefängnis gelangen konnte. Die zweite Version der Darstellung … wirkt demgegenüber entdramatisiert. Der Bogen des Körpers ist flacher. Die Details verlieren an Deutlichkeit und die Kontraste sind abgemildert. Wie bei ›Tote‹ ist die Identität zurückgenommen und die Tatsache des Todes ins Allgemeinmenschliche und Unausweichliche verwandelt.
Das Bild ›Zelle‹ … ist genauso groß wie das Pendant ›Erhängte‹ … Das ›Jugendbildnis‹ … hat identische Maße wie ›Tote‹ …, nur ist aus dem Quer- ein Hochformat geworden. Das Bild der jungen Ulrike Meinhof nimmt … eine Sonderstellung ein. Offensichtlich handelt es sich um eine professionelle Porträtaufnahme, die Richter verwenden konnte. Inszeniert sind nicht nur die Zuwendung über die Schulter und die lässige Haltung der linken Hand, sondern vor allem die leichte Neigung des Kopfes und die perfekte Ausleuchtung von Gesicht und Haaren …
Nur unkenntlich größer ist das Bild des ›Plattenspielers‹ … Gertrud Kochsieht in dem Bild deneinzigen direkt politisch zu verstehenden Kommentar des Zyklus. Der abgestellte Plattenspieler – ein gemaltes Ready-made – soll demnach nicht nur das Verhältnis der Terroristen zu ihrer Biographie und zur Moderne bezeichnen, sondern auch das der Moderne zu den Medien der Reproduktion. Aber damit ist nicht nur etwas sehr Allgemeines bezeichnet, das für viele Werke Richters zutrifft. Dass der Maler mit der Darstellung des prall gefüllten Bücherregals – über 900 Bände sollen es allein in Baaders Zelle gewesen sein – und des Plattenspielers auf kulturelles Bewusstsein und Wissensbegierde verweist, liegt auf der Hand, wobei beim Plattenspieler ein anderer Aspekt hinzukommt. In dem Gerät hatte Baader die Pistole versteckt, mit der er sich erschossen haben soll.
›Beerdigung‹ … ist mit einem Format von 200 x 320 cm das mit Abstand größte Gemälde der Serie. Das der Malerei zugrunde liegende Foto zeigt eine große Menschenmenge vor dem Hintergrund eines Waldrands, der in der oberen Zone der Darstellung zu ahnen ist. Die drei hellen Flecken in der unteren Partie und links von der Mitte sind als die Särge von Baader, Ensslin und Raspe zu identifizieren. Sympathisanten, Freunde, Mitläufer, Neugierige, Familienangehörige, Medienvertreter – sie alle nehmen Anteil und bilden eine undifferenzierte Trauergemeinde, die groß und unüberschaubar weit über das Bild hinaus vorstellbar erscheint. Des Terrorismus und seiner Opfer wird hier nicht gedacht, sondern jener, die in ihrer Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. So jedenfalls lautet die offizielle Version aufgrund der Obduktionen und kriminaltechnischen Untersuchungen. Offensichtlich aber waren viele, die sich auf dem Friedhof einfanden, der Überzeugung, die Gefangenen seien selbst einem unaufgeklärten Verbrechen zum Opfer gefallen und womöglich liquidiert worden“ (Armin Zweite S. 327 ff.). Von letzterem war auch Ilse Ensslin, die Mutter von Gudrun Ensslin, ein Leben lang überzeugt. Helmut Ensslin, ihr Vater, hat sich im persönlichen Gespräch eher zurückgehalten.
Wie auch immer, der Gemäldezyklus „›18. Oktober 1977‹ ist ein epochales Monument, dessen ästhetische Komplexität und inhaltliche Vielschichtigkeit sich nicht sofort erschließt, aber in den Malereien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine markante, unübersehbare Position besetzt und als eines der Schlüsselwerke dieser Phase anzusehen ist. Kann man ihm etwas an die Seite stellen? Im Rahmen der deutschen Kunst vielleicht nur die große Arbeit von Joseph Beuys mit dem Titel ›Das Ende des 20. Jahrhunderts‹“ (Armins Zweite S. 335. Vergleiche dazu auch https://www.pin-freunde.de/foerderungen/erwerbungen/kunstwerk/das-ende-des-20-jahrhunderts-1/).
Am Beginn von Richters „Ausschnitten“ spielen die Fotografie und der Ready-made-Gedanke eine wichtige Rolle – und damit auch am Beginn seiner abstrakten Bilder. „Richter legt nämlich den von ihm mit ›Ausschnitt‹ bezeichneten Werken jeweils Details wie zufällig gemischte Farben zugrunde, wie sie sich bei Proben auf der Palette ergeben. Solche bunten und verschmierten Konglomerate fotografierte er ab, vergrößerte sie anschließend, grenzte ein rechteckiges Feld aus, um dieses anschließend in ein stattliches Format zu transformieren … Wie beim Ready-made ist die Wahl entscheidend. Die Bestimmung des abzumalenden Bereichs und des Maßstabs macht aus dem Zufall einen gelenkten Zufall, der dadurch eingeschränkt wird, dass bei der definitiven Umsetzung auf der Leinwand alle Konturen verwischt bzw. so aufgelöst werden, dass die für Richter charakteristische Unschärfe gewahrt bleibt. ›Ausschnitt (rot-blau)‹ … ist 1970 datiert und basiert auf dem Foto einer Farbprobe als Teil einer Raumskizze im Atlas … (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/details-4/detail-red-blue-4583?categoryid=19&p=1&sp=32&pg=3). ›Ausschnitt (Makart)‹ … entstand 1971 (vergleiche dazu https://gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/details-4/detail-makart-5788). Der raffiniert elegante Schwung und die plastische Wirkung des Strudels und die plastische Wirkung des Strudels sowie starke Kontraste von hellen und dunklen Partien… verleihen dem Bild eine suggestive und dynamische Wirkung, die man sowohl räumlich als auch zeitlich zu erfassen vermag. Der Verweis auf einen der bedeutendsten österreichischen Salonkünstler des 19. Jahrhunderts, Hans Makart (1840 – 1884), attestiert dem Werk eine ironische Komponente, die Richter vielleicht auch deshalb notwendig erschien, um den formalen Zusammenhang mit einer seiner Teyde-Landschaften (WV 287/1) und der zugehörigen Skizze nicht allzu offenkundig werden zu lassen“ (Armin Zweite S. 350. Vergleiche dazu die ›Teyde- Landschaft‹ von 1971 https://gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/landscapes-14/teyde-landscape-5774).
Einen Höhepunkt erreicht Richter in seinen Abstraktionen mit den vier 300 x 300 cm großen mit ›Bach‹ betitelten Gemälden von 1992 (vergleiche dazu https://sis.modernamuseet.se/objects/2071/bach-14). Auch Richters kontrovers diskutierter Birkenau-Zyklus geht auf authentische Fotografien zurück, die 1944 heimlich vom Sonderkommando der jüdischen Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nahe Gaskammer und Krematorium aufgenommen wurden. Sie gelten als die einzigen fotografischen Dokumente des Holocaust, in denen die Ermordung und Verbrennung jüdischer Menschen in Auschwitz
festgehalten ist. Publiziert wurden sie erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (vergleiche dazu https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/birkenau-von-gerhard-richter).
Für Zweite wäre es falsch, „in die ›Birkenau‹-Bilder Abwehr und Indifferenz hineinzulesen. Diese Gemälde wollen nichts ausdrücken, keine Beteiligung, keine Trauer oder Erschütterung, sie selbst sind in ihrer materiellen, farbigen und formalen Substanz Reaktion, Beteiligung, Einmischung und Transformation. Wer die Gemälde betrachtet, kann in ihnen im Wissen um die historischen Hintergründe und das Verbrechen mehr sehen als auf den ›Bildern trotz allem‹. Die vielfältigen Aspekte der Malerei steigern die Zahl der Perspektiven und machen Richters Darstellungen damit womöglich sogar anschlussfähiger als es die Fotos je sein können“ (Armin Zweite S. 369). Seit 9. Februar 2024 ist Richters Zyklus ›Birkenau‹ in dem von dem Künstler für seinen Zyklus entworfenen Museum in der polnischen Stadt Oswiecim unweit der Gedenkstätte für das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ausgestellt (vergleiche dazu https://www.deutschlandfunkkultur.de/gerhard-richter-museum-nahe-der-gedenkstaette-auschwitz-eroeffnet-100.html und https://www.auschwitz.org/muzeum/aktualnosci/). „Richter habe mit dem Museum einen »synagogalen Raum geschaffen«, sagte der Initiator des Projekts, Christoph Heubner dem Evangelischen Pressedienst. Dass dieses Gesamtensemble nun seinen Platz an dem Ort seiner Vorgeschichte finde, nur wenige Kilometer von den Krematorien und Aschefeldern Birkenaus entfernt, sei für Überlebende von Auschwitz-Birkenau ›ein dauerhaftes und machtvolles Signal gegen das Vergessen und ein Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität‹, das der Künstler ihnen und ihren ermordeten Familien entgegenbringe“ (https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/gerhard-richters-birkenau-zyklus-bei-auschwitz-ausgestellt/. Vergleiche dazu weiter Helmut Friedels Video zum Zyklus von 2016 in https://gerhard-richter.com/en/videos/exhibitions/gerhard-richter-birkenau-256).
Richters Werk umfasst einen Zeitraum von nahezu sechs Jahrzehnten. Deshalb kann selbst Zweites 480 Seiten umfassende monumentale Monografie nur eine Auswahl seiner Werke wiedergeben. Ein Teil der von ihm besprochenen Arbeiten ist über den Link https://gerhard-richter.com/de unter dem Stichwort ›Home‹ zu finden und nahezu alle weiteren unter demselben Link unter dem Stichwort ›Kunst‹, darunter 8738 Bilder, 298 Aquarelle und 695 Zeichnungen.
ham, 10. März 2024