C.H.Beck Wissen, Verlag C.H.Beck, München, 2021, ISBN 978-3-406-76412-7, 129 Seiten, mit 2 Karten, Softcover, Format 18 x 11,9 cm, € 9,95
Die Kirchen in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR waren schon bald nach dem Ende des Dritten Reichs mit dem atheistischen Marxismus-Leninismus konfrontiert, der ein Verschwinden der Religion postuliert und Religion als Opium des Volkes gesehen hat. Andreas Stegmann – er lehrt an der Humboldt-Universität Berlin Kirchengeschichte – zeichnet die Folgen für den Weg der Kirchen in der DDR in stringenten Kapiteln über die Bewältigung der Kriegsfolgen, die Herausforderungen durch den Aufbau des Sozialismus, die Zeit zwischen dem Mauerbau und 1968, die kirchlichen Aufbrüche in den siebziger Jahren und die Jahre der Friedensbewegung und der Friedlichen Revolution nach. Er kommt zu dem Schluss, dass die Kirchen die Parteiendiktatur der SED überstehen und zu ihrer Überwindung beitragen konnten, weil viele Christen bejahten, was der zweite der 1963 von den evangelischen Landeskirchen veröffentlichten „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirchen“ feststellt: »Gott will den neuen Menschen, der nach ihm geschaffen ist. Darum hat er uns in Christus mit sich versöhnt. Er hat die durch den Abfall verlorene Würde des Menschen erneuert und unserem Leben Sinn und Erfüllung gegeben. Darum mahnt er uns, von gottlosen Bindungen zu lassen, die Macht der Versöhnung mit unserem eigenen Leben zu bezeugen und unseren Mitmenschen in allen Bereichen ihres Lebens zu dienen.«
„Der Dienst des durch den Christusglauben erneuerten Menschen erfordere, ›in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen zu prüfen, was Gott von uns will, und […] das nach seinem Willen Gute zu tun. […] In der Freiheit unseres Glaubens dürfen wir nicht von vornherein darauf verzichten, in der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu unterscheiden zwischen dem gebotenen Dienst an der Erhaltung des Lebens und der gebotenen Verweigerung der atheistischen Bindung.‹ Und diese Verweigerung wurde auch ausdrücklich formuliert: ›Wir handeln im Ungehorsam, wenn wir im Gottesdienst Gott als den Herrn unseres Lebens bekennen, uns aber im täglichen Leben dem Absolutheitsanspruch einer Ideologie unterwerfen und uns der allumfassenden Geltung von Gottes Gebot entziehen‹
Damit war – im Sinne des ersten Gebotes: ›Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir‹ … – die Grenze markiert, bis zu der Christen sich auf den SED-Staat einlassen konnten. Diese Grenze blieb vielen Christen bewusst und beeinflusste bei nicht wenigen auch das Handeln. Man kann es … auch so formulieren: Politischer Totalitätsanspruch und religiöser Ganzheitsanspruch sind nicht miteinander vereinbar. Denn der christliche Glaube hat einen geistigen Referenzpunkt außerhalb des totalitären Systems, er verbindet die Glaubenden zur Kirche als einer alternativen Gemeinschaft und wird im alltäglichen Leben der Glaubenden als eine besondere soziale Praxis anschaulich. Das galt auch für die Christen in der DDR“ (Andreas Stegmann S. 112 f.). Die Vorstellung, dass der neue Mensch ein Gottesgeschenk ist und die Überzeugung, dass er ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnis ist und sich in der klassenlosen Gesellschaft einstellt, schließen sich aus.
Die Antworten auf die Frage, ob die Friedlichen eine Protestantische Revolution war, gehen auseinander (vergleiche dazu Ellen Überschär, Die Protestantische Revolution in der DDR. Welche Rolle spielte die evangelische Kirche? Vom Sprachraum der Freiheit zum politischen Akteur. In: https://www.ekd.de/protestantische-revolution-in-der-ddr-ellen-ueberschaer-50178.htm). Für Stegmann war die Friedliche Revolution keine »Protestantische Revolution«, aber sie war mit dem landeskirchlichen Protestantismus eng verbunden. „Dass es zu ihr kam, beruht auf anderen Entwicklungen, aber wie sie sich vollzog, hängt mit dem Engagement der ostdeutschen Christen zusammen.
Möglich wurde die Friedliche Revolution durch die Zuspitzung der Blockkonfrontation in den achtziger Jahren. Beim verzweifelten Bemühen, militärisch mit der NATO Schritt zu halten, verzettelte sich die Sowjetunion in unlösbare Konflikte und beanspruchte wirtschaftliche Ressourcen im Übermaß. Die Folge war eine wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung im Ostblock. Die Proteste der polnischen Gewerkschaft Solidarność machten deutlich, dass es ein gefährliches Unruhepotential gab, auf das die Sowjetunion mit gewaltsamer Unterdrückung reagierte“ (Andreas Stegmann S. 99). Der Versuch Michael Gorbatschows, das Imperium durch innere Reformen zu retten, schlug fehl. „Die von ihm angestoßenen Reformen konnten den Zerfall der Sowjetmacht … nicht aufhalten. Das war der SED-Spitze von Anfang an klar: Sie hatte verinnerlicht, dass der Sozialismus sich nur mit Gewalt gegen die Bedrohung von außen und die Kritik von innen halten ließ … Als Gorbatschow auch die Breschnew-Doktrin preisgab, also die Maßgabe, dass die Sowjetunion militärisch gegen abtrünnige Ostblockstaaten vorgeht, wusste man in Ost-Berlin, dass die Existenz der DDR auf dem Spiel stand. Denn es war letztlich die sowjetische Militärmacht, die die SED-Herrschaft sicherte. Die SED setzte dagegen in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre auf Reformverweigerung und verstärkte Repression. Sie wollte das vierzigjährige Republikjubiläum im Herbst 1989 als das siegreiche Beharren der von allen Seiten angegriffenen sozialistischen Revolution feiern. Und tatsächlich gelange es ihr bis in das Jubiläumsjahr hinein, die Lage unter Kontrolle zu halten.
1989 aber wurde nicht das Jubeljahr der sozialistischen Umwälzung, sondern das Jahr der Friedlichen Revolution gegen den Staatssozialismus. Der erste wichtige Schritt auf dem Weg zur Friedlichen Revolution waren die Proteste gegen die gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 … Eines der Kirchengebäude, in denen sich politischer Protest formierte, war die Leipziger Nikolaikirche. Hier gab es jeden Montag Friedensgebete, die eigentlich mit Blick auf die Bedrohung des Weltfriedens eingeführt worden waren, 1988/89 aber für andere Zwecke in Anspruch genommen wurden. Eine Gruppe fiel besonders auf: die Ausreiseantragsteller … Veranstaltungen wie die der Leipziger Friedensgebete boten den Ausreiseantragstellern, die zum größten Teil keine Kirchenmitglieder waren und wenig mit Religion angefangen konnten, die Möglichkeit, sich im geschützten Raum zu versammeln und ihre Forderungen vorzutragen … Im Sommer und Frühherbst 1989 wurden … diese Kreise von Ausreiseantragstellern zu einer der Keimzellen der revolutionären Proteste – und damit die Kirchen zu Sammel- und Ausgangspunkten der Opposition“ (Andreas Stegmann S. 99 ff.). Ab September 1989 verwandelten sich oppositionelle Zirkel in politische Parteien und stellten so das Machtmonopol der SED offen infrage.
„Die revolutionäre Dynamik aber wurde weder von kirchlichen Gremien entfesselt noch von Oppositionsgruppen, die sich zu politischen Parteien erklärten, sondern entstand auf der Straße. Dabei spielten kirchliche Veranstaltungen wie Friedensgebete oder die Mahnwachen eine Rolle, indem sie zu Kristallisationskernen der revolutionären Volksbewegung wurden. In Leipzig gab es seit September 1989 großen Zulauf zu den montäglichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Die … boten Raum, grundlegende Veränderungen einzufordern. Dabei waren die Friedensgebete selbst unpolitisch – indem sie aber die Menschen versammelten und ihnen eine Perspektive eröffneten, die über die unerträglichen Verhältnisse hinauswies, wurden sie zu einem Katalysator der revolutionären Bewegung. Als der Staat gegen die Leipziger Friedensgebete vorging, solidarisierten sich andernorts Christen, etwa in der Form der Mahnwache an der Ost-Berliner Gethsemanekirche … In vielen anderen Kirchen gab es Andachten und Gebete … Den Durchbruch markierte der 9. Oktober 1989: Ausgehend von vier Leipziger Kirchen formierte sich am Abend … des Leipziger Innenstadtrings ein Demonstrationszug von etwa 70 000 Protestierenden, denen die Sicherheitsorgane machtlos gegenüberstanden und die mit ihrer schieren Masse das Ende der SED-Herrschaft ankündigten …Entscheidend für den Erfolg … war, dass die Proteste friedlich waren und friedlich blieben. Es war keine politische Programmatik und keine revolutionäre Gewalt, die die Kraft der Bewegung ausmachen, sondern das einfache Faktum, dass hier die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit der SED brach und einen demokratischen Neuanfang einforderte. Wenn es überhaupt ein Programm der Revolution gab, dann den einfachen Satz: Wir sind das Volk.“ (Andreas Stegmann S. 102 f.)
ham, 11. Juni 2021