C. H. Beck Wissen, Verlag C. H.Beck, München, 20204, ISBN 978-3-406-82276-6, 128 Seiten, 25 Abbildungen, Softcover, Format 18 x 11,8 cm, € 12,00

Andreas Puff-Trojans Publikation ›Der Surrealismus‹ erinnert an das vor einhundert Jahren im Oktober 1924 von André Breton veröffentliche Erste Manifest des Surrealismus und bildet das ganze Sektrum des Surrealismus souverän ab, – vom Wort und Bild bis hin zu Film und Fotografie.

„Die künstlerische Moderne des 20. Jahrhunderts ist ohne die Avantgarde-Formationen Futurismus, Dadaismus und Surrealismus nicht vorstellbar. Die Gemälde surrealistischer Künstler wie Max Ernst, Salvador Dalí oder René Magritte erzielen heute auf den Kunstmärkten Höchstpreise. Sammler legen gerne eine zweistellige Millionensumme in Euro für ein Werk dieser Maler auf den Tisch. Literarische Werke vor allem von André Breton und Louis Aragon sind in viele Sprachen übersetzt worden. Originalausgaben sind auf dem Antiquariatsmarkt gesuchte und oft teure Objekte. Gut besuchte Surrealismus-Ausstellungen in den großen Museumshäusern dieser Welt unterstreichen diese Tendenz, wobei es aufgrund der enormen Versicherungssummen der Bilder zusehends schwieriger wird, solche Expositionen zu realisieren. Man kann das Ironie des Schicksals nennen. Denn die Surrealisten waren allesamt antikapitalistisch eingestellt, viele von ihnen liebäugelten mit dem russischen Kommunismus, manche wurden zu strikten Parteigängern. Das ist allerdings den Zeitumständen geschuldet. Die Ära des Surrealismus reicht von 1924 bis zum Ende der 1930er Jahre“ (Andreas Puff-Trojan, S. 7 f.).

Im Unterschied zu den Futuristen, die die Zerstörung von Museen, Theatern und Bibliotheken forderten, um in der Stunde Null beginnen zukönnen, und zu den Dadaisten, die bei ihren Skandalaufführungen das Bürgertum samt seinem traditionellen Kunstverständnis in den Boden stampfen wollten, waren die Surrealisten Traditionalisten. Man durchsuchte die europäische und außereuropäische Kunstgeschichte, um surrealistische Elemente zu finden und zu dokumentieren.

„Die selbstbewusste Aneignung von Tradition ist ein Markenzeichen des Surrealismus. Doch noch etwas ist wichtig: Der Surrealismus ist nicht nur eine Kunstrichtung, sondern auch eine Lebenshaltung. Das gemeinsame Umherschweifen in Paris, Diskussionen und unzählige Treffen in Cafés sollten die Gruppe zusammenschmieden. Man wollte ein anderes, neues Leben führen, das sich der Traumebene nicht verschließt, eines, das im Alltag das ›Wunderbare‹ (›le merveilleux‹) zu finden versteht. Dazu gehört auch die Liebe zwischen Mann und Frau. Die Frau war für die Männer im Surrealismus Geliebte und ›Femme inspiratrice‹, also Muse“ (Andreas Puff-Trojan, S. 8). Und es gab nicht wenige Künstlerinnen. 

Paris war das Zentrum der Surrealisten. In Brüssel gab es einen Kreis um René Magritte, im Prag der 1930er Jahre einen Kreis mit Toyen und Karel Teige an der Spitze. Im deutschsprachigen Bereich kam der Surrealismus erst nach 1945 auf. Spuren surrealistischer Kunstauffassung finden sich unter anderem bei Paul Celan, Ernst Jünger oder Friederike Mayröcker und Malern wie Rudolf Schlichter, Richard Oelze und der Wiener Schule des Phantastischen Realismus um Ernst Fuchs und Rudolf Hausner. „In Kunst und Literatur der Gegenwart werden immer wieder Elemente des Surrealismus aufgegriffen. Damit ist er fester, unumstößlicher Teil der Kunst- und Literaturwelt“ (Andreas Puff-Trojan, S. 9).

Nach Breton haben die ›objektive Vernunft‹, die ›Logik des Denkens‹, Positivismus und Technik, die das Alltagsleben und auch die Kriege beherrschen, den Menschen in einen Käfig gesperrt, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Phantasie, Einbildungskraft, Wahnsinn und die Tiefe und Dichte des Traums könnten aber womöglich einen Ausweg zeigen. Breton glaubt an die zukünftige Auflösung der gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeiten in einer Art absoluten Realität, in der Surrealität. Und deshalb beruht der Surrealismus nach seinem Manifest „›auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traums, an das zweckfreie Spiel des Denkens.‹ Der Surrealismus ist eine ›croyance‹, also ein ›Glaube‹ (eine ›Konfession‹) an das ›Wunderbare‹. Die Künstler der Gruppe sind es, die die ›Geheimnisse der surrealistischen magischen Kunst‹ sichtbar machen, ohne das Geheime im Sinne der Logik des Reealen (gänzlich) zu lüften – so wie die Dichte des Traums es verbietet, diesen komplett zu entschlüsseln“ (Andreas Puff-Trojan, S. 20). Die Bildbeziehung zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Surrealität und Realität manifestiert sich in einer Radikalmetapher, deren Bildbereiche möglichst weit voneinander entfernt sein sollen. 

Bretons Radikalmetapher lässt sich gut an Salvador Dalís Hummer-Telefon von 1936 (vergleiche dazu https://salvadordaliprints.org/de/hummertelefon/) und seinem Table Solair von 1935 (vergleiche dazu https://www.salvador-dali.org/fr/oeuvre/catalogue-raisonne-peinture/obra/425/table-solaire) verdeutlichen. Der Hummer, der den Hörer des Telefons ersetzt, und das Telefon sind in der Alltagslogik weit voneinander entfernt. In Dalis Sonnentisch korrespondieren zwar die Wüstenlandschaft und der Mann auf dem Dromedar; aber man fragt sich, was die Büste, vor der der Dromedar steht, die Boote und der Bistrotisch in der Wüste sollen. 

„Auch wenn Breton in seinem Manifest von 1924 nicht auf die bildende Kunst eingeht, so gelten die Kernpunkte surrealistischen Kunstschaffens sowohl für die Schriftsteller als auch für die Maler: Die ›Ahnen‹ werden ermittelt; es wird nach surrealistischen Elementen in der Literatur- und Kunstgeschichte geforscht. Es geht im Surrealismus prinzipiell gegen die ›Herrschaft der Logik‹. Dem stellt Breton die geistige Produktivität der Phantasie, der Einbildungskraft, des Wahn-Sinns, der Traumarbeit und des Unbewussten gegenüber. Diese Formen der Kreativität haben auch Anteil an der Wirklichkeit, es kommt zur Symbiose in der ›Surrealität‹. Bretons Radikalmetapher wiederum folgt dem ›Prinzip der Ideenassoziation‹. Das ergibt literarisch wie bildnerisch kommunizierende Bildbeziehungen, die das logische Denken nicht evozieren kann. In diese Richtung zielt auch das Automatische Schreiben, dessen Pendant das Automatische Zeichnen ist […]. Dieses Verfahren soll ins Unbewusste vordringen. Das alles ergibt ›le merveilleux‹, das Wunderbare in Kunst und Leben“ (Andreas Puff-Trojan, S. 22 f.).

ham, 5. Oktober 2024

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