C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2022, ISBN: 978-3-570-10395-1, 526 Seiten, 30 farbige Abbildungen, 2 Karten, Hardcover gebunden, mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 23 x 15,5 cm, € 30,00 / € 30,90 (A) / CHF 41,50

Kleinkinder beginnen in der Regel zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr „Ich“ zu sagen. In der Philosophie dauert es etwas länger. Zwischen den ersten Vorsokratikern (vergleiche dazu https://www.antike-griechische.de/Vorsokratik-1.pdf und https://de.wikipedia.org/wiki/Vorsokratiker) und René Descartes’ „cogito ergo sum“, „ich denke, also bin ich“ liegen gut1000 Jahre und bis zu Schellings Kant- und Fichte Rezeption im Evangelischen Stift in Tübingen sind es noch einmal 150: Der am 27. Januar 1775 in Leonberg geborene Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war 1790 als absoluter Ausnahmefall schon mit knapp sechzehn Jahren in das neben der Alten Burse am Neckar gelegene Evangelische Stift in Tübingen aufgenommen worden und hat dort die Augustinerstube mit den fünf Jahre älteren Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel geteilt. Er galt als Wunderkind und hat schon damals neben Latein, Altgriechisch, Hebräisch und Arabisch auch Französisch gesprochen und war in der Lage, Originaldichtung aus dem Englischen sowie Spanischen und Italienischen zu übersetzen (vergleiche dazu Georg Doerr, Die Entstehung des deutschen Idealismus – Hölderlin, Hegel und Schelling in Tübingen oder: Mythos und Philosophie am Beginn der Moderne. In: https://georgdoerr.files.wordpress.com/2010/01/g-doerr-idealismus.pdf).

Der Tagesablauf im Stift war vorgegeben und streng überwacht. Die Studenten durften nicht rauchen, tanzen, Wirtshäuser besuchen oder gar reiten. Geschlafen wurde in kalten Schlafsälen. Jeder Aspekt des Lebens wurde kontrolliert; die Strafen wurden im stiftseigenen Karzer vollstreckt. Die Tübinger Drei sollen den Ideen der Französischen Revolution angehangen, die Marseillaise gesungen, heimlich französische Zeitungen und Schillers Räuber gelesen haben. Schelling hat die Kant-kritische Vorlesung des Stiftsrepetenten, späteren Superattendenden und Professors Johann Friedrich Flatt (vergleiche dazu https://www.wkgo.de/wkgosrc/pfarrbuch/cms/index/2156) mit dem Titel ›Criticam purae rationis Kantianam‹ besucht, sie tief ungenügend gefunden und deshalb mit ein paar anderen Unzufriedenen einen eigenen Kant-Kreis gegründet, „in dem regelmäßig Kant, Reinhold und Fichte gelesen und diskutiert wurden. Hegel gehörte diesem Kreis allerdings nicht an“ (Georg Doerr a. a. O.).

Schelling „sehnte sich verzweifelt nach dem Moment, ›wenn ich einmal freiere Lüfte atmen‹ werde. Eine politische Revolution allein, so glaubte er, reichte nicht aus. Nicht nur der Staat musste reformiert werden, auch der Geist musste sich radikal ändern. Man müsse weiter gehen, als es Kant je gewagt habe, hatte Schelling zu Hölderlin und Hegel gesagt. Alles musste zerschlagen und neu aufgebaut werden. Junge Männer wie sie mussten sich zusammenschließen. Das Ergebnis war eine Resolution, eine Seite lang, die trotz ihrer Kürze so radikal und visionär war, dass sie alles umfasste, was das Denken des Jenaer Kreises später bestimmen sollte“ (Andrea Wulf S. 219 f.). Gemeint ist das 1796 oder Anfang 1797 mutmaßlich von Schelling verfasste sogenannte ›Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ (vergleiche dazu https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/18Jh/Idealismus/ide_intr.html). Nach dem Programm ist die erste Idee „natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freyen, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts“ (Fragment des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. In: https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/18Jh/Idealismus/ide_frag.html). Was bisher getrennt war, müsse, so die Forderung, vereint werden. Die Philosophie müsse sinnlich sein, die Mythologie philosophisch und die Poesie die Lehrerin der Menschheit. Die Wissenschaften müssten poetisiert werden und die Physik müsste Flügel erhalten.

Als Schelling das Stift 1795 mit zwanzig Jahren verlassen hat, erklärte er in seiner im gleichen Jahr erschienen Schrift ›Vom Ich als Prinzip der Philosophie‹, dass der „Anfang und das Ende aller Philosophie“ die Freiheit ist (vergleiche dazu Andrea Wulf S. 220). Und weiter: „Es ist ein kühnes Wagestück der Vernunft, die Menschheit freizulassen und den Schrecken der objektiven Welt zu entziehen; aber das Wagestück kann nicht fehlschlagen, weil der Mensch in dem Maße größer wird, als er sich selbst und seine Kraft kennen-

lernt. Gebt dem Menschen das Bewußtsein dessen, was er ist, er wird bald auch lernen, zu sein, was er soll: gebt ihm theoretische Achtung vor sich selbst, die praktische wird bald nachfolgen. Vergebens würde man vom guten Willen der Menschen große Fortschritte der Menschheit hoffen, denn um besser zu werden, müßten sie schon vorher gut sein; eben deswegen aber muß die Revolution im Menschen vom Bewußtsein seines Wesens ausgehen, er muß theoretisch gut sein, um es praktisch zu werden, und die sicherste Vorübung auf eine mit sich selbst übereinstimmende Handlungsweise ist die Erkenntnis, daß das Wesen des Menschen selbst nur in der Einheit und durch Einheit bestehe; denn der Mensch, der einmal zu dieser Überzeugung gekommen ist, wird auch einsehen, daß Einheit des Wollens und des Handelns ihm ebenso natürlich und notwendig sein müsse, als Erhaltung seines Daseins: und – dahin soll ja der Mensch kommen, daß Einheit des Wollens und des Handelns ihm so natürlich wird, als der Mechanismus seines Körpers und die Einheit seines Bewußtseins.“ (Schelling im Wiederabdruck der Vorrede zur ersten Auflage im Ersten Band der philosophischen Schriften, Landshut 1809: https://www.projekt-gutenberg.org/schellin/ichprinz/chap001.html).

Schelling geht anders als Fichte davon aus, dass die Natur und das Ich ein zusammenhängendes Ganzes bilden.

In Jena lernt er seinen Landsmann Friedrich Schiller kennen, macht über diesen die Bekanntschaft mit Johann Wolfgang von Goethe und wird 23-jährig 1789 auf eine außerordentliche Professur neben Fichte berufen. Jena hatte damals gerade einmal 4500 Einwohnender, gehörte zum Herzogtum Sachsen-Weimar und wurde „ganz offensichtlich von der Universität dominiert. Die lokale Wirtschaft blühte, es gab Buchbinder, Drucker, Schneider und Wirtshäuser. Dank der rund 800 Studenten wurde hier auch mehr Tee, Kaffee, Bier und Tabak konsumiert als in jeder anderen deutschen Stadt ähnlicher Größe. Zwar hatte das Essen in den Jenaer Gasthäusern den Ruf, ungenießbar zu sein, doch die Studenten wussten, dass ihr Geist mit feinster Kost gespeist wurde […]. Da es kein Theater, keine Oper, keinen Musiksaal gab, waren die Studenten praktisch gezwungen, zu studieren“ (Andrea Wulf S. 31). Zwar kontrollierten in den 1790er Jahren nicht weniger als vier sächsische Herzöge die Universität mit Herzog Carl August von Sachsen-Anhalt als ihrem nominellen Rektor. Aber in Wirklichkeit hatte keiner das Sagen. „Deshalb genossen die Professoren in Jena weitaus mehr Freiheiten als anderswo in Deutschland. Kein Wunder also, dass die visionären Ideen Immanuel Kants hier auf fruchtbaren Boden fielen […]. ›Die liberale Atmosphäre Jenas zog fortschrittliche Denker aus den anderen eher repressiven deutschen Staaten an. ›Die Profeßoren sind in Jena fast unabhängige Leute‹, bemerkte Schiller, und ein anderer Gelehrter fügte hinzu: ›Hier ist vollkommene Freiheit, zu denken, zu lehren und zu schreiben.‹ […]. Deshalb lebten im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gemessen an der Einwohnerzahl mehr berühmte Dichter, Schriftsteller und Philosophen in Jena als in jeder anderen Stadt davor und danach“ (Andrea Wulf S. 34 f.).

Andrea Wulfs ›Fabelhaften Rebellen‹ gruppieren sich um die 1763 in Göttingen geborene Professorentochter Dorothea Caroline Albertine Michaelis, verwitwete Böhmer, geschiedene Schlegel, verheiratete Schelling, die in Jena „das Herz und der Geist einer Gruppe junger Männer und Frauen wurde, die hofften, die Welt zu verändern. Sie war Muse, Kritikern und Schriftstellerin, die zu den literarischen Werken dieses Kreises beitrug – und ihr Haus war der physische Ort, an dem die Freunde sich trafen, nachdachten, redeten, lachen und schrieben. Zu dieser außergewöhnlichen Gruppe rebellischer Zwanzig- und Dreißigjähriger gehörte der rätselhafte Dichter Novalis, der mit dem Tod und der Dunkelheit spielte, der schroffe Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der das Ich in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte, sowie die genialen Schlegel-Brüder Friedrich und Karl August, beide Schriftsteller und Kritiker, der eine so ungestüm und aufbrausend wie der andere besonnen und ruhig. Sowie Dorothea Veit, eine Schriftstellerin, deren Affäre mit dem viel jüngeren Friedrich Schlegel für einen Skandal in der Berliner High Society sorgte. In Jena lebte auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling […]. Und Friedrich Schiller, Deutschlands revolutionärster Dramatiker, der einerseits die jüngere Generation magnetisch anzog, sie andererseits aber auch spaltete. 

Am Rande dieses Kreises bewegte sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel […] und ein weiteres Brüderpaar – Wilhelm und Alexander von Humboldt, der eine ein begnadeter Sprachwissenschaftler und Gründer der Berliner Universität und der andere ein unerschrockener und visionärer Naturwissenschaftler und Forschungsreisender. Im Zentrum dieser Galaxie brillanter Köpfe stand Johann Wolfgang von Goethe […]. Goethe war älter als die anderen und wurde so etwas wie ein strenger und wohlwollender Pate. Er fungierte oft als Vermittler, ließ sich von ihren radikalen Ideen inspirieren, und die Jüngeren ihrerseits verehrten ihn. Goethe war ihr Gott und sie stellten ihn auf ein Podest. Jeder dieser bedeutenden Intellektuellen lebte ein Leben, des es wert ist, erzählt zu werden. Außergewöhnlicher als ihre individuellen Geschichten ist jedoch die Tatsache, dass sie alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenkamen. Und deshalb als Jenaer Kreis in die Geistesgeschichte eingegangen sind“ (Eva Wulf S. 26 f.).

Die von Wulf auf 526 Seiten erzählte Geschichte dieses Kreises bedient sich der Regeln der angloamerikanischen Historiographie (vergleiche dazu Daniel Fulda, Historiografie als Erzählen. In: https://doi.org/10.1515/9783110410747) und damit der narrativen Verknüpfung des Stoffes durch die Benennung von Verbündeten und Kontrahenten, die Ermittlung und Unterstellung von Absichten der dargestellten Personen sowie die Identifizierung von Widerständen und Faktoren zu deren Überwindung. Zu erzählen gilt als die spezifisch historiografische Form des Erklärens. Die gewählte Form verleiht dem Werk eine bemerkenswerte Anschaulichkeit, Dichte und Leichtigkeit und macht die sonst Bibliotheken füllende Geschichte der frühen Romantik und ihrer Protagonisten an einem Wochenende lesbar. Dass dabei die Grenze zwischen dem vorliegendem Material und seiner Verwertung und damit die Grenze zwischen Fantasie und Empirie Löcher bekommt, durchlässig wird und letztlich ganz verschwindet, steht auf einem anderen Blatt (vergleiche dazu https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article241793785/Neuer-Bestseller-von-Andrea-Wulf-Die-Romantik-Jetzt-auch-als-Sachbuch-Soap.html). Wer nach der Lektüre von Wulfs Bestseller herausfinden will, was an ihrer Darstellung Fiktion und was Realität ist, muss die Primär- und Sekundärliteratur gründlich studieren und sich sein eigenes Urteil bilden.

 ham, 23. Juni 2023

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller