Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 29. September 2023 bis 28. Januar 2024 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Mit Beiträgen von N. Dhawan, D. Diederichsen, O. Elser, G. Gebauer, G. Koch, E. Kraus, New Models, K. Reichert, L.-C. Szacka und Gesprächen mit N. Brody, D. Scott Brown, M. Schularick, J. Vogl und J. Wines
Künstler*innen:
Aldo Rossi, Alessandro Mendini, Andy Warhol, Arata Isozaki, Charles Jencks, Charles Moore, Coop Himmelb(l)au, David Byrne, David Hockney, David Lynch, Denise Scott Brown, Donald Barthelme, Donna Haraway, Ed Ruscha, Ettore Sottsass, Félix Guattari, Frank Gehry, Frederic Jameson, Gaetano Pesce, General Idea, Gilles Deleuze, Gustav Peichl, Hans Hollein, Harumi Yamaguchi, J.G. Ballard, Jacques Derrida, James Stirling, James Wines, Jean-Luc Godard, Jenny Holzer, John Landis, John Portman, Judith Butler, Kraftwerk, Leonard Koren, Leslie Fiedler, Linder Sterling, Louise Lawler, Lucinda Childs, Madelon Vriesendorp, Makato Nakamura, Marshall McLuhan, Martin Margiela, Michel Foucault, Nam June Paik, Neville Brody, Nigel Coates, Óscar Tusquets, Oswald Mathias Ungers, Pedro Almodóvar, Peter Eisenman, Rem Koolhaas, Renzo Piano, Ricardo Bofill, Richard Rogers, Ridley Scott, Robert Venturi, Robert Wilson, Robert Wyatt, Roland Barthes, Sally Potter, Shin Tamakatsu, SITE, Stanley Kubrick, Stanley Tigerman, Stephen King, Stewart Brand, Studio 65, Sturtevant, Terry Farrell, Thomas Gordon Smith, Thomas Pynchon, Trisha Brown, Van Dyke Parks, Walter Pichler, Werner Rösler, Yellow Magic Orchestra, u. v. m.
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn / Hirmer Premium, Hirmer Verlag. München 2023, ISBN: 978-3-7774-4274-7, 288 Seiten, 350 Abbildungen in Farbe, Broschur, Umschlag mit Blindprägung, Format 28 x 24 cm, € 49,90 (D), 51,30 (A)
Wer beim Besuch der noch bis zum 28. Januar 2024 laufende Ausstellung ›Alles auf einmal. Die Postmoderne. 1967 – 1992‹ in der Bundeskunsthalle Bonn von der Überfülle der dort präsentierten Objekte nicht erschlagen werden und die Ausstellung mit Gewinn ansehen will, sollte sich schon vorher über sein Verständnis von Moderne, Postmoderne und zweiter Moderne klar geworden sein (vergleiche dazu https://www.bundeskunsthalle.de/postmoderne).
Am einfachsten wäre es, sich dazu die Redefassung des Vortrags von Wolfgang Welsch vor der Philosophischen Sektion der Görresgesellschaft anläßlich der Generalversammlung
in Bayreuth am 4. Oktober 1988 ›Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst‹ (vergleiche dazu und zum Folgenden http://philosophisches-jahrbuch.de/wp-content/uploads/2019/03/PJ97_S15-37_Welsch_Die-Geburt-der-postmodernen-Philosophie-aus-dem-Geist-der-modernen-Kunst.pdf) und seinen in den Uni-Jena-Papers zugänglichen Beitrag ›Was war die Postmoderne – und was könnte aus ihr werden?‹ (vergleiche dazu und zum Folgenden https://www.welsch.uni-jena.de/papers/W_Welsch_Postmoderne.pdf) zu vergegenwärtigen.
In seinen Beiträgen legt Welsch unter anderem dar, dass der Terminus Postmoderne 1870 in England im Kontext der Malerei zu finden und Jean Dubuffet für ihn ein Postmoderner avant la lettre ist. Er hat den Begriff auf seine Weise gefüllt und schon 1951 vorweggenommen, was Jean-François Lyotard 1975 der Sache nach im philosophischen Kontext aufgegriffen hat: „Unsere Kultur ist ein Kleid, das uns nicht paßt“. In der Kunst und allen möglichen anderen Bereichen vollzieht sich „eine tiefgreifende Wandlung und Neuorientierung“ (Jean Dubuffet). Dieser Wandel zeigt sich nach Dubuffet daran, dass der Mensch nicht mehr länger im Mittelpunkt der Kunst steht, der Primat der Vernunft und der Logik ihren Vorrang verlieren und nicht-rationaler Momente und prärationale Vollzüge wichtiger werden. In der Kunst seien jetzt vieldeutige Werke zu schaffen und bewusst zu initiieren. Und schließlich solle die Kunst nicht mehr nur schöne Objekte mit kunstvoll arrangierten Formen und Farben zum Vergnügen der Augen produzieren und sich an die Augen wenden, sondern an den Geist.
Die eigentliche Diskussion um das Verständnis der Postmoderne beginnt dann 1959 in der amerikanischen Literaturtheorie- und -kritik mit der Feststellung, dass die Literatur der Gegenwart im Vergleich mit der Literatur der Moderne weit weniger stark und innovativ sei. Soziologisch wie semantisch sei die Verbindung von elitärem und populären Geschmack bzw. von Fiktion und Wirklichkeit charakteristisch. Ein postmodernes Werk sei in sich plural und erfülle widersprüchliche Erwartungen. 1975 hat Charles Jencks dieses Verständnis auf die Architektur übertragen: Ein postmoderner Bau muss Jencks zufolge traditionelle und moderne, elitäre und populäre, internationale und regionale Codes in sich vereinen. 1979 verkündet Lyotard den Abschied von den Meta-Erzählungen, denen man nach seiner Meinung keinen Glauben mehr schenken darf. Der postmoderne Gemüts- und Geisteszustand folge keinen Einheitsobsessionen, sondern dem irreduziblen Widerstreit der vielen Sprach-, Denk- und Lebensformen. Dabei gehe es nicht um Beliebigkeit, Relativismus, Eklektizismus, Nostalgie und Indifferenz, sondern um Einheit im Mannigfachen, also um ein prekäres Ganzes.
Dass der jüngst von der Bundeskunsthalle als leitender Kurator an das K21 in Düsseldorf gewechselte Kolja Reichert den Begriff deutlich anders zuspitzt und von einer ›zweiten Postmoderne‹ ausgeht, zeigt, dass immer noch an der Schärfung des Begriffs gearbeitet wird.
„Dass die Postmoderne um 2016 als Begriff wieder so leicht zur Hand war, verdankt sich … nicht nur einem Mottenfänger der Gedanken und Affekte namens Trump. Die Postmoderne lag in der Luft. Vielleicht war es so: Das Ende des Kalten Krieges, dann die Digitalisierung hatten das Nachdenken über die Postmoderne an den Rand gedrängt. Wie einst die Eisenbahn brachte das Internet eine ›Zweite Moderne‹ hervor, standardisierte Strukturen, mit denen sich Utopien eines weltweiten freien Verkehrs der Waren und Ideen verbanden. Seit dem Scheitern von mittels Facebook inszenierten Revolutionen wie dem Arabischen Frühling und Edward Snowden Enthüllung der globalen Massenüberwachung durch die NSA waren die wieder einmal zu universalistischen Illusionen enttäuscht. Wie in den 1970er-Jahren zirkulieren Verschwörungstheorien, psychedelische Drogen florieren. Intellektuelle verlassen die Institutionen. Noch dazu ist die Zeit der Massenmedien vorbei. Die Zweite Moderne zerfällt und droht sich in ein repressives System zu verwandeln.
Damit sind wir in der zweiten Postmoderne. Was im Gegensatz zur ersten fehlt, ist Theorie. War diese in den 70er- und 80er-Jahren als ›ästhetisches Erlebnis‹ szenebildende Kraft, so ist als Intensitätsangebot an ihre Stelle wohl die laufende Sortierung der Welt in den Apps der sozialen Medien getreten. Die Rede von der Postmoderne kündet aber auch von einem aktuellen Bedürfnis: ›Postmoderne‹ heißt jetzt soviel wie Regellosigkeit und ihr Gebrauch als Schimpfwort zeugt von einem gestiegenen Verlangen nach Orientierung mittels Regeln. Dieses Bedürfnis äußert sich explizit auf dem Feld der Familienpolitik, etwa wenn Rechtspopulistinnen … gegen gleichgeschlechtliche Elternschaften vorgehen …
Die Konjunktur postmodernen Denkens, das ausschert aus Vorgaben von Anwendbarkeit, Regelhaftigkeit oder der Verbesserung der Lebensverhältnisse und stattdessen alle möglichen Komplikationen am Wegesrand entdeckt, sich lustvoll in der Entdeckung immer neuer Voraussetzungen verstrickt – ist nicht zu trennen von einer spezifischen historischen Situation: dem Scheitern der Studierendenaufstände und in der Folge des Marxismus-Leninismus in westlichen Ländern; der Verlagerung der produzierenden Industrie in Staaten mit niedrigem Lohnniveau, deren Arbeitsmärkte notfalls durch Militärinterventionen der USA im Wettbewerb miteinander gehalten wurden; einer zunehmenden Akademisierung westlicher Gesellschaften, die sich in der steigenden Zahl von Hochschulabschlüssen ausdrückte; einem enormen Anstieg der kulturellen Produktion und deren Indienstnahme für die wirtschaftliche Entwicklung; einer Privatisierungswelle; und der Deregulierung der Finanzwirtschaft, die eine neue Klasse hervorbrachte, die Investmentbanker, die mit ihren schnellen Gewinnen wiederum den Kunstmarkt anheizten“ (vergleiche dazu den sehens- und lesenswerten Katalog zur Ausstellung: https://www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/alles_auf_einmal-2523/ und Kolja Reichert im Katalog S. 44 f.).
Immerhin ist sich Reichert mit Welsch darin einig, dass die Postmoderne eine Spielart der Moderne ist: „Hinter dem Pappaufsteller der Postmoderne … verbirgt sich der alte Kampf der Moderne (die Suche nach universellen Rahmen für Partikularitäten) gegen Antimoderne (das Beharren auf Unverbrüchlichem, Unhintergehbarem, Unverhandelbarem [Identität]). Auch in der Zweiten Postmoderne ist die Fantasie einer rettenswerten Ursprünglichkeit wirksam, die es zu verteidigen gilt gegen Kontrollverlust etwa durch Einwanderung. Als gäbe es Letztverbindliches außerhalb von Kunst, Literatur, Wissenschaft, Ethik und der jeweiligen Herausforderung der Begegnung. Diese Sehnsucht nach dem Urtümlichen haben David Harvey und andere als Strukturmerkmal der Moderne identifiziert“ (Kolja Reichert S. 47).
Wer sich darüber klar geworden ist, was er unter der Postmoderne verstehen und wie er sich zu ihr verhalten will, kann mit der Überfülle der in der Ausstellung gezeigten und im Katalog zur Ausstellung versammelten Exponate aus Design, Architektur, Kino, Pop, Philosophie, Kunst, Literatur, Kultur, Subkultur, Disco und Punk und ihrem größten und ihrem zentralen Objekt – der Bundeskunsthalle und dem Katalog zur Ausstellung – besser umgehen. Letzterer ist, wie Jörg Scheler zu Recht notiert, in der äußeren Gestaltung einem Grabstein und im Inneren einem Zettelkasten nachempfunden (vergleiche dazu https://www.zeit.de/2023/42/alles-auf-einmal-die-postmoderne-1967-1992-bonner-bundekunsthalle). Die auf den Seiten 266 bis 281 dokumentierte und nach Jahren geordnete vierspaltige Werkliste ist umwerfend. Aber ein Exponat mehr hätte man sich dann doch noch gewünscht: Einen Beleg für den kontroversen Umgang mit der Bestreitung der Wahrheitsansprüche der Metaerzählungen in der Theologie. Er wäre mit Leichtigkeit durch das posthum veröffentlichte Werk von Richard Rorty ›Pragmatismus als Antiautoritarismus‹. Herausgegeben von Eduardo Mendieta. Übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023 (vergleiche dazu https://taz.de/Posthumes-Buch-von-Richard-Rorty/!5912343/) oder durch Heinzpeter Hempelmanns auf vier Bände angelegtes Werk zur Herausforderung des christlichen Wahrheitszeugnisses durch das postmoderne Wahrheitsverständnis (vergleiche dazu https://www.buecherlurch.de/shop/item/9783417295436/wir-haben-den-horizont-weggewischt-von-heinzpeter-hempelmann-kartoniertes-buch) zu repräsentierten gewesen: Rortys Ein- oder Hempelmanns Vierbänder hätte auch noch gut in die sowieso schon überfüllte Bundeskunsthalle und auch sehr gut in den repräsentativen Katalog gepasst.
ham, 24. Januar 2024