Edition Angewandte – Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien, herausgegeben von Gerd Bast. Mit Beiträgen von Khadijah von Zinnenburg Carroll, Byung-Chul Han, Bruno Latour, Udo Marquardt und Micha Payer

Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2023, ISBN 9783111066240, 246 Seiten, 74 s/w und farbige Abbildungen, Broschur, Format 28,5 x 20,6 cm, € 45,00

Enzyklopädien wie die zwischen 1966 und 1976 erschienene siebzehnte Auflage des Großen Brockhaus in zwanzig Bänden und vier Ergänzungsbänden fassen das Wissen ihrer Zeit in konsistent erklärten Lemmata, in kurz erklärten Grundformen von Schlagworten von A bis Z zusammen. So beginnt der erste Band des Großen Brockhaus von 1966 mit dem ersten Buchstaben des Alphabets A mit dem Lautwert a und folgender Erklärung: „Seine Entstehung lässt sich über das Griechische in die semitischen Alphabete zurückverfolgen, wo es den glottalen Okklusivlaut (Stimmritzenverschlußlaut) bezeichnet. Es ist möglich, dass die älteste Form die Hörner des Rindes wiedergibt (‘aleph im Semitischen, daher griechisch alpha); später sah man wohl in dem Zeichen auch den Ochsenkopf“. Der vierundzwanzigste Band von 1976 endet mit den Abkürzungen für „zur Zeit“: ›z. Z.‹ und ›z. Zt‹.

Die von dem Wiener Künstlerpaar Payer Gabriel (Micha Payer, Martin Gabriel) 2023 in Deutsch und Englisch herausgegebene einbändige Enzyklopädie ›A plus minus‹ beginnt auf Seite 7 links mit dem Stichwort ›Abwesenheit von Nichts‹ und ihr gegenüber mit einem Wortbild von Michael Payer zum Stichwort. Sie endet auf Seite 211 mit der englischen Übersetzung der Anmerkung 28 zum Essay ›Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen‹ des Ritter-Schülers Odo Marquard. Payer Gabriel tragen einundvierzig Zeichnungen, Fotografien und Installationen zu ihrer Enzyklopädie bei, darunter nicht weniger als vierundzwanzig Zeichnungen mit dem Titel ›Apologie des Zufälligen‹, sechs Tableaus mit dem Titel ›On Inscriptions‹, vier Fotografien mit dem Titel ›O.T / Subjektposition‹, drei Stillleben mit dem Titel ›The Absence of Nothingness‹, zwei Fotografien mit dem Titel ›This idea is brilliant‹, zwei Blätter mit dem Titel ›Linearperspektive / The intimacy of waiting‹, eine Collage mit dem Titel ›Baum des Wissens‹ nach Ernst 

Haeckels ›Stammbaum des Menschen‹ von 1874 und eine Radierung mit dem Titel ›Last things‹, auf der elf Drohnen dargestellt sind (vergleiche dazu https://christinekoeniggalerie.com/artists/61407/payer-gabriel/works/). 

Micha Payer hat von den 41 für die Enzyklopädie ausgewählten Stichworten unter anderem die Lemmata ›Differenz‹, ›Epistme‹, ›Epistemologie, visuelle‹, ›Gewalt, epistemische‹, ›Vergilbung‹, ›Wahrheit‹, ›Wort‹ und ›Wissen‹ beigetragen. Von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Lorraine_Daston) und dem in Harvard lehrenden Wissenschaftsgeschichtler und Physiker Peter L. Galison (vergleiche dazu https://www.physics.harvard.edu/people/facpages/galison) stammt der Beitrag zum Stichwort ›Angst, epistemische‹. Die italienisch-australische Philosophin, Theoretikerin des Feminismus und Hauptvertreterin der Gender Studies Rosi Braidotti (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Rosi_Braidotti) trägt das Stichwort ›Denken‹ bei, die österreichisch-australische Kolonialgeschichtlerin und Kunsthistorikern Khadijah von Zinnenburg Carroll (vergleiche dazu https://www.kdja.org) eine Variante zu Micha Payers Ausführungen zum Lemma ›Enzyklopädie‹. Der in Berlin lebende koreanisch-deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Byung-Chul_Han) doppelt Micha Payers Beitrag zum Stichwort ›Idiot‹ und von dem 2022 verstorbenen französische Soziologen, Philosophen, Kurator und Begründer der Akteur-Netzwerktheorie (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Akteur-Netzwerk-Theorie) Bruno Latour (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Latour) gehen die Artikel ›Ikonografie des Beweises‹ und ›Inskription / Die Macht der unveränderlichen mobilen Elemente‹ in den Band ein. Schließlich wird auch noch der Beitrag ›Moderne, flüchtige‹ des polnisch-britischen Soziologen Sigmund Baumann abgedruckt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Zygmunt_Bauman).

Bei dieser Zusammenstellung von Bildern, Lemmata und Aufsätzen fragt man sich, was die beiden Herausgeber zu genau dieser Auswahl von Beiträgen und Artikeln bedeutender Denker aus unterschiedlichsten und sich teilweise heftig bekämpfenden Denkschulen und was sie zu Doppelungen von Beiträgen geführt hat. Möglicherweise ist die Antwort im Umfeld des Stichworts Kontingenz zu finden. Nach dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann ist Kontingenz etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist, was also so, wie es ist, war und sein wird, sein kann, aber nicht sein muss, also etwas, was auch anders sein könnte ⟨vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kontingenz_(Soziologie)⟩. In diesem Sinn ist modernes Wissen auch für den von Micha Payer und Peter Gabriel geschätzten Poststrukturalisten Michel Foucault und deshalb wohl auch für sie kontingent (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Foucault). Das in der Enzyklopädie geteilte Wissen kann dann wie die Zeichnungen, Fotografien und Tableaus des Duos jeweils anders gesehen, gelesen und aufgefasst werden. Es kann variieren und sich auch einmal widersprechen. Payer Gabriel greifen damit den Grundgedanken folgender von Theologen gerne im Gedächtnis gehaltenen mittelalterlichen Erzählung auf: 

„Zwei Mönche unterhalten sich auf ihren Spaziergängen immer wieder über den Tod. Sie fragen sich, wie es bei Gott sein wird und malen sich alles genau aus. Manchmal meinen sie, dass sie den Himmel bereits vor sich sehen. Aber dann beschleichen sie wieder Zweifel. Was wäre, wenn sie mit ihren Vorstellungen völlig falsch lägen? So beschließen sie eines Abends, dass, wer zuerst stirbt, dem andern in der Nacht nach seinem Tod erscheinen und nur ein einziges Wort sagen soll: ›Taliter: Es ist so‹ oder ›Aliter: Es ist anders‹.

Kurz darauf stirbt einer der beiden. Er erscheint seinem Freund in der Nacht nach seinem Tod wie abgemacht. ›Taliter?‹ Fragt der ihn. Der Verstorbene schüttelt den Kopf. ›Aliter?‹ Fragt der Freund weiter. Wieder schüttelt er den Kopf. Aber dann sagt er leise und bestimmt: ›Totaliter aliter‹: Es ist vollkommen anders“. 

ham, 28. August 2023

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