Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstraum Innsbruck 2011
Hrsg. vom Kunstraum Innsbruck, Veit Loers mit einem Vorwort des Herausgebers und der
Beschreibung des Gottes- oder Korenhelms in Wikipedia
Kunstraum Innsbruck / Kerber Verlag, Bielefeld, 2011, ISBN 978-3-86678-633-2, 64 S., zahlreiche
s/w- und Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 22,6 x 16,4 cm, € 17,50 (D) / SFR 28,90
Ritalin galt in den Nachkriegsjahren des letzten Jahrhunderts als Mittel der Wahl bei der Behandlung
von Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen. Das Phänomen ist vom Zappelphilipp her
bekannt, der sich niemals ruhig verhalten kann, ständig auf seinem Stuhl herumrutscht, aufsteht,
obwohl er sitzen bleiben müsste, mit Händen und Füßen zappelt, mit dem Stuhl schaukelt und sich am
Tischtuch festhält, als er umzukippen droht. Dass der Patient mitsamt dem Tischtuch und dem
Kaffeegeschirr auf dem Boden landet, hat Wilhelm Busch eindrücklich vor Augen geführt. Volker
Faust, lange Zeit leitender Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie an der Weisenau,
Ravensburg erzählt ein um das andere Mal, welche Erlösung Ritalin gebracht hat. Inzwischen ist es
zusammen mit anderen Neuroleptika ins Gespräch gekommen. Man fragt sich, ob die Diagnose
ADHS/ADS nicht viel zu oft gestellt wird, ob es keine alternativen Therapien gibt und ob es vielleicht
doch einen Zusammenhang zu den mit Ritalin verbundenen ökonomischen Interessen der
Pharmaindustrie gibt.
Wenn der 1966 in Heppenheim geborene und seit 2008 als Professor an der Universität der Künste
Berlin lehrende Künstler Thomas Zipp seine Ausstellung im Kunstraum Innsbruck verfremdend ‚The
World’s most complete Congress of Ritatin Treatments‘ überschreibt und den Kunstraum für die Zeit
der Ausstellung in einen Behandlungsraum umfunktioniert, scheint er diese Diskussion zu kennen. Im
Zentrum des Arrangements steht eine Art Sand- oder Matschkasten voller dunkler Erde, in den die
Akteure steigen und in ihm spielen. Sie leeren Eimer voller Wasser in den Kasten, matschen in der
feuchten Erde und wälzen sich in ihr. Die Spuren dieser Behandlung überziehen die um den zentralen
Behandlungsort herum gruppierten Kirchenbänke, Beichtstühle, Telefonzellen, Hammondorgeln,
Tische, Stühle, Computer und auch den Sessel, in dem die Patienten Platz nehmen sollen, „um mit
Hilfe des Gottes- oder Koren-Helms in höhere Welten einzudringen“ (Veit Loers). Hinter dieser
Behandlungsform steckt die Vorstellung, dass sich in den Schläfenlappen des menschlichen Gehirns
das Zentrum für Religion befinde, dass man dieses Zentrum mit über den Helm induszierten starken
elektrischen Feldern stimulieren und dann in höhere Welten entschwinden kann. Es ist davon
auszugehen, dass Zipp auch die Kritik an diesen Versuchsanordnungen kennt. Deshalb lese ich das
Innsbrucker Arrangement auch als ironischen Kommentar auf die mit Therapie, Medizin und
Hirnforschung verbunden Heilserwartungen, aber auch noch vielmehr als Ausdruck der Suche nach
einem neuen Zugang zum Großen und Ganzen und zu dem, was Menschen und Welt übersteigt.
(ham)
Download: Thomas Zipp – The World’s most complete Congress of Ritatin Treatments
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