Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 20.10.2012 – 06.01.2013 in der Städtischen Galerie
Bietigheim-Bissingen. Hrsg. vom Kultur- und Sportamt Bietigheim-Bissingen – Städtische Galerie mit
Texten von Isabell Schenk-Weininger und Petra Lanfermann
Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, 2012, ISBN 978-3-927877-79-5, 80 S., zahlreiche s/w- und
Farbaufnahmen, Hardcover gebunden, Forma 24,5 x 17,4 cm, € 16,–
August Sander und seinen Nachfolgern Stefan Moses, Thomas Bachler und Karen Weinert, Frank
Höhles und Fiona Tan sind mit Porträtserien von Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts fotografische
Gesellschafts- und Zeitbilder gelungen. Der 1876 in Herdorf/Westerwald geborene August Sander hat
seine monumentale Langzeitserie ‚Menschen des 20. Jahrhunderts‘ aus der Vorstellung heraus
entwickelt, so etwas wie ein „Gesellschaftsinventar“ (August Sander) zu schaffen. Im Zentrum der ab
1910 entstehenden Serie stehen aus der Porträtfotografie heraus entwickelte Aufnahmen unter
anderem von Junkern, Handwerksmeistern, Industriellen und Arbeitern wie dem Berliner Kohlenträger
von 1929, der die zuzustellende Kohle auf einem Weidenkorb auf seinem Rücken in die Keller trägt.
Sander reduziert seine Aufnahmen nicht auf das Gesicht der zu porträtierenden Personen, sondern
zeigt auch ihre Körperhaltung und ihre Kleidung und damit ihre soziale Stellung in der jeweiligen
Zeit: „Da der Einzelmensch keine Zeitgeschichte macht, wohl aber den Ausdruck seiner Zeit prägt und
seine Gesinnung ausdrückt, ist es möglich, ein physiognomisches Zeitbild einer ganzen Generation zu
erfassen und zum sprachlichen Ausdruck im Photo zu bringen durch die Physiognomik. Dieses
Zeitbild wird noch verständlicher, wenn wir Photos von Typen der verschiedenen Gruppen der
menschlichen Gesellschaft aneinanderreihen“ (August Sander, 1931). Zum Gesicht und der Kleidung
kommen die aussagekräftige Pose und die jeweils typische Bewegung. So rührt Sanders ‚Konditor‘
„nicht etwa in seiner Schüssel, er macht vielmehr vor, wie man den Teig rührt“ (Isabell Schenk-
Weininger).
Sein ‚Straßenfotograf‘, um 1930 dreht sich vor dem historischen Großstadtmonument in die Pose, in
der er selber andere porträtieren würde. Und sein Arbeitsloser aus dem Jahr 1928 lehnt mit
abgenommenem Hut, überkreuzten Händen und auf die Brust gesenktem Kopf an der Straßenecke.
Stefan Moses knüpft mit seiner Serie ‚Ostdeutsche Porträts‘ (1989/90) an Sander ebenso an wie
Thomas Bachler und Karen Weinert mit ihrer Serie ‚Menschen des 21. Jahrhunderts‘ (seit 2007). Für
Moses kann die Fotografie ‚eine neue Weltsprache sein‘ (Stefan Moses, 1963). Seine vor dem grauen
Tuch des Wanderfotografen aufgenommenen Porträts unter anderem von Facharbeiterinnen für
Gemüseaufbereitung aus Neukirchen-Wyhra, von einer Köchin aus Cottbus und von dem Maler Willi
Sitte in Halle wirken heute bereits anachronistisch. Die 33 bzw. 45 Jahre nach Moses geborenen
Bachler und Weinert lehnen sich wie dieser „ebenfalls formal eng an“ Sanders Typendarstellung an.
„Requisiten und Orte charakterisieren die Personen und illustrieren … die Berufsbezeichnung, die ins
Passepartout geprägt zum integralen Bestandteil der Arbeit wird. Doch trotz dokumentartypisch
ernsthafter Anmutung sind die Fotografien hochgradig inszeniert. Denn es handelt sich bei dem
>>Abrissökonom<<, der >>Massenpsychologin<<, dem >>Geruchsneutralisator<<, der
>>Citytherapeutin<< und allen anderen Dargestellten nicht um existierende, sondern um fiktive
Berufe…“ Frank Höhle, 1975 in Leipzig geboren, verpasst allen in seiner zwischen 2002 und 2004
entstandenen Serie ‚48 Porträts‘ „die gleiche Unisex-Kleidung: eine blaue Jeans mit Gürtel und ein
weißes, feingestreiftes Hemd. Keine individuellen oder soziologisch relevanten Attribute geben
weitere Auskünfte über die Abgebildeten. Für die formal strengen und gleichförmigen Fotografien
wurden alle 48 Personen frontal aufgenommen und jeweils derselbe Bildausschnitt gewählt, der sie bis
zum Oberschenkel zeigt“. Fiona Tan schließlich bringt mit ihren mehrteiligen Video- und
Digitalinstallationen ‚Countenance‘, 2002 und ‚Study for Provenance‘, 2008 die Zeit in die
Aufnahmen zurück. Die Filmsequenzen scheinen zunächst aneinandergereihte Fotografien zu zeigen.
In Wirklichkeit blinzeln die Personen; sie atmen und bewegen sich minimal.
(ham)
Download: Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts – August Sander und seine Nachfolge
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