Jan 24

Robert Longo

Von Helmut A. Müller | In Ausstellung, Kunst

Publikation zu der gleichnamigen Ausstellung in der Albertina, Wien, vom 4. September 2024 bis 26. Januar 2025, herausgegeben von Klaus Albrecht Schröder, Elsy Lahner, Holger Liebs, Cindy Sherman und einem Gespräch zwischen Isabelle Graf und Robert Longo

Hirmer Verlag, München/Albertina, Wien, 2024, ISBN 978-3-7774-4382-9, Format 29,5 × 26,5 cm, Hardcover, gebunden,   € 49,90 (D) / € 51,30 (A )

Der 1953 in Brooklyn, New York, geborene Robert Longo (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Longo) entschied sich Mitte der 1990er-Jahre, ein Jahr lang täglich eine Zeichnung von Bildern anzufertigen, die seiner Meinung nach nicht verschwinden dürfen. „Es konnte etwas sein, das ihm ins Auge sprang, oder das er bewusst suchte: das Bild eines Kindes oder eines Sportlers, ein Foto aus der Zeitung, Szenen auf der Straße wie eine Polizeiaktion oder ein toter Körper auf dem Gehsteig, Werbung oder ein Filmausschnitt. ›Magellan‹ (1996), der Zyklus, der auf diese Weise entstanden ist, umfasst 366 kleinere Zeichnungen. Er enthält bereits viele der Motive aus Longos späterem Bildrepertoire und kann somit als Vokabular dessen betrachtet werden, was dann folgte (vergleiche dazu https://artfacts.net/exhibition/robert-longo:-magellan/27333). Mit diesem Zyklus entwickelte Longo seinen Ansatz, Bilder verstehen und lesen zu lernen, diese buchstäblich aufzuzeichnen und damit gewissermaßen Zeugnis abzulegen. Während die Magellan-Zeichnungen auf Velinpapier mit schwarzen Filzmarkern, Grafit und Kohle umgesetzt sind, fand Longo kurz darauf zu seiner heutigen Technik. Das Foto einer gewaltigen Welle in einem Surfmagazin inspirierte ihn dazu, diese als Großformat auszuführen“ (Elsy Lahner S. 17 f.; vergleiche dazu https://www.metropictures.com/exhibitions/robert-longo11/selected-works?view=slider).

Als er mit seinen Kohlezeichnungen begann, sagte eine Cousine, eine wiedergeborene Christin: „›Deine Serien sind wie die Genesis in der Bibel. Also: Gott schuf den Himmel, er schuf die Erde, das Wasser, die Pflanzen, die Menschen‹. Sie hat recht! Ich schaute in die Bibel. Es war, als würde ich eine Welt erschaffen. Ich interessierte mich dafür, was die Bilder des kollektiven Unbewussten sind. Und rückblickend dachte ich, all diese Bilder sind das vielleicht. Aber als mir klar wurde, dass ich eine Welt erschaffen hatte, musste ich sie plötzlich bevölkern; die Arbeit explodierte regelrecht ab diesem Punkt. In diesem Sinne wurde alles, was ich interessant fand, möglich. Das war der Moment, als die Arbeit förmlich explodierte. Ich meine, Kunst ist eine Balance zwischen Dingen, die höchstpersönlich und gleichzeitig sozial relevant sind. Wie zum Beispiel, dass die Freud-Zeichnungen und die Wellen gleichzeitig entstanden sind“ (Robert Longo im Video zur Ausstellung in der Albertina: https://www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=robert+longo+albertina&ie=UTF-8&oe=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:a126746a,vid:eaEYH0aWvGk,st:0).

Isabelle Graw fällt an Longos Freud-Zeichnungen auf, dass er Relikte auf Freuds Schreibtisch, den Stuhl und die Kissen, die seine Patientinnen und Patienten auf dem Sofa benutzt haben, betont (vergleiche dazu https://www.robertlongo.com/series/freud/). Sie erinnert daran, dass Reliquien uns dem Heiligen näherbringen. Während Freud auf den Zeichnungen abwesend ist, wird er durch diese Objekte lebendig. Es scheint, als sei sein Geist in den Bildern von seiner Wohnung anwesend. Longo erwidert darauf, dass er, als er diese Zeichnungen anfertigte, versucht hat, Abwesenheit zu zeichnen. „Das war eines der Hauptziele. Und ein weiterer wichtiger Aspekt meiner Arbeit ist das Gleichgewicht zwischen dem Sozialen und dem Persönlichen.

 Als ich ein Kind war, war mein Vater sehr alt – als ich geboren wurde, war er bereits in den 50ern.

Als ich aufwuchs, bekam er Herzprobleme, wollte aber nur zu einem einzigen Arzt gehen. Wir lebten auf Long Island und fuhren also einmal im Monat in die South Bronx, um das Herz meines Vaters untersuchen zu lassen. Ich saß dann im Wartezimmer und fragte mich, ob der Arzt rauskommen und mir sagen würde, dass mein Vater morgen sterben wird. Diese Erinnerung an das Wartezimmer kam wieder zurück, als ich die Fotos von Freuds Praxis sah. Es fühlte sich an, als wäre ich dort gewesen, obwohl ich die Räume nie betreten hatte. Schließlich fuhr ich dorthin, nachdem die Serie abgeschlossen war. Es war sehr seltsam, in der Wohnung zu sein, nachdem ich drei Jahre an diesen Zeichnungen gearbeitet hatte. Es gibt eine Zeichnung von Freuds Schreibtisch, Untitled (Freud’s Desk and Chair, Study Room, 1938), bei der ich alle Objekte vom Schreibtisch entfernte, sodass nur noch der Stuhl und ein Schreibtisch zu sehen sind. Die Form des Stuhls ist so bizarr …“ (Isabelle Graw/Robert Longo, Seite 200).

Ein zweiter Schwerpunkt des Gesprächs zwischen Graw und Longo liegt in der Darstellung von Gewalt, die in Bildern wie Longos Reenactment-Versionen von Picassos Guernica (1937; vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Guernica_(Picasso)) – Guernica Redacted (After Picasso’s Guernica, 1937; vergleiche dazu https://www.cahiersdart.com/en/exhibitions/robert-longo-picasso-redacted/) von 2014 und Untitled (After Picasso’s Guernica, 1937) von 2014 (vergleiche dazu https://ropac.net/artists/56-robert-longo/works/9767/) zum Ausdruck kommt. Das erste Bild ist eine strukturelle Analyse von Picassos Gemälde anhand der vertikalen schwarzen Bänder, die Teile des Bildes bedecken. Das zweite scheint näher am Original zu sein. Nach Longo geht es in Amerika immer ums Gewinnen, „leider. Wir sind eher eine Sportmannschaft als ein Land. Für mich war es interessant, diese Gemälde auf eine fast forensische Weise zu sezieren. Ich habe sie fotografiert, gezeichnet und in ihre Einzelteile zerlegt, um sie zu verstehen. Das war eine faszinierende Erfahrung. Ein Werk auf der Grundlage von Guernica zu erschaffen, war, als würde man politische Kunst anhand des bekanntesten politischen Gemäldes machen. Ich habe Abschnitte geschwärzt und das Bild so präsentiert, dass die Betrachtenden sich an diese Teile erinnern können. Die Zeichnung war Teil einer Ausstellung über Picasso, die in Hamburg begann und in die Vereinigten Staaten reiste, wo sie im Wexner Center in Ohio gezeigt wurde. Ein frustrierter Wachmann, der früher in dem Museum gearbeitet hatte, kam in den Ausstellungsraum und begann, auf alle Kunstwerke zu schießen, und erschoss sich anschließend selbst … Daher hat meine Guernica-Zeichnung drei Einschusslöcher. In der Restaurierung wollten Sie das Bild wiederherstellen. Aber ich lehnte ab – ich wollte, dass die Einschusslöcher bleiben“ (Robert Longo, S. 198).

Longo sieht sich als politischer Künstler und fühlt sich verpflichtet, die Bilder unserer dystopischen Gegenwart zu bewahren in der Hoffnung, dass sich eines Tages wieder etwas ändern wird. Deshalb zeichnet er syrische und irakische Flüchtlinge (vergleiche dazu https://www.artbasel.com/catalog/artwork/71482/Robert-Longo-Untitled-Syrian-and-Iraqi-Refugees-wait-in-line-for-documents-at-processing-center-in-Presevo-Serbia-Thursday-August-27th-2015-based-on-a-photograph-by-Sergey-Ponomarev?lang=de),  eine ukrainische und russische Panzerschlacht (vergleiche dazu https://ocula.com/art-galleries/pace-gallery/artworks/robert-longo/untitled-ukrainian-and-russian-tank-battle/), Bootsflüchtlinge (vergleiche dazu https://www.creativeaustria.at/2024/08/07/robert-longo-albertina-wien/robert-longo-refugees-raft-at-sea-3-panels-990×0/) und schmelzende Gletscher (vergleiche dazu https://www.flickr.com/photos/genelabo/40944511011).

Wer sich künftig mit Schlüsselwerken des legendären New Yorker Künstlers auseinandersetzen will, wird auf die großformatigen Abbildungen des jetzt vorliegenden Bands aus verschiedenen Schaffensperioden Longos zurückgreifen.

ham, 23. Januar 2025 

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