Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall

Westend Verlag, Neu-Isenburg, 2024, ISBN 978-3-86489-469-5. 350 Seiten, 11 Karten, 4 Tabellen, 1 Grafik. Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, Format 21,8 x 14,4 cm, € 28,00 (D)/€ 28,80 (A)

Der 1951 geborene französische Anthropologe, Demograf und Historiker Emmanuel Todd ist durch seine Voraussage des Zusammenbruchs der Sowjetunion in seinem Buch La chute final von 1976 aufgrund von Faktoren wie der zunehmenden Kindersterblichkeit und Publikationen über das Schicksal von Einwanderern, den Einfluss von Familienstrukturen, Erbfolge und Religion auf die Gesellschaft und die Ökonomie und  seinen Nachruf auf die Weltmacht USA (2002) weit über Fachkreise hinaus bekannt geworden (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Emmanuel_Todd). 

In seinem jetzt vorgelegten meinungs- und thesenstarken neuesten Buch prognostiziert er den endgültigen Niedergang der westlichen Welt. Amerika erscheint anders als in den Leitmedien als wirtschaftlich und moralisch zerrüttet, die europäischen Länder als Vasallen Amerikas, Russland als stabilisiert und die Ukraine als für die USA und die NATO verloren. Deutschland steht für ihn im Zentrum des Konflikts, weil seine erneute Annäherung an Russland das Ende des US-amerikanischen Einflusses auf Europa bedeuten würde. 

„Von diesem Standpunkt aus betrachtet stellt es für die Vereinigten Staaten einen maßgeblichen Erfolg dar, dass sie die Europäische Union in einen Konflikt mit Russland verwickeln konnten, sogar auf die Gefahr hin, deren Wirtschaft mehr zu schaden als der Russlands. Die energiepolitische und industrielle Verbindung zwischen Deutschland und Russland ist zum aktuellen Zeitpunkt zusammengebrochen. Es bleibt die Tatsache, dass Deutschland, im Gegensatz zum Vereinigten Königreich und Frankreich, die fortschrittlichsten Arten von militärischem Engagement abgelehnt hat. Und vor allem ist der Konflikt natürlich noch nicht vorbei. Die Vereinigten Staaten werden diesen Krieg verlieren, weil ihre industriellen und militärischen Mittel gegen ein wiedererstarktes Russland unzureichend sind. Die bevorstehende Niederlage der Ukraine sowie die Erniedrigung des Pentagons und der NATO werden die Frage nach den künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder aufkommen lassen. Dann wird Deutschland zwischen einem endlosen Konflikt und dem Frieden mit Russland wählen müssen. Für Deutschland ist das ein sehr altes Thema“ (Emmanuel Todd, S. 11 f.).

Todd denkt in der Spur von Max Webers „Protestantischer Ethik und der Geist des Kapitalismus“ weiter und macht den Hauptgrund für den Niedergang des Westens im Niedergang des Protestantismus und seiner Arbeitsethik, seiner Konsumzurückhaltung und seines sexuellen Puritanismus aus. Alle protestantischen Länder waren wirtschaftlich erfolgreich, aber sie entwickelten sich nach Todd ab Mitte des 18. Jahrhunderts von aktiven Protestanten über Zombieprotestanten zu Nullprotestanten. „Während die Hälfte des Katholizismus im Einzugsgebet von Paris um 1730/40 einbrach, um durch Revolution und Republik abgelöst zu werden, durchlief der englische und amerikanische Protestantismus eine Phase der Trägheit, in der sich unter den Höhergebildeten der Epoche eine gewisse Undifferenziertheit entwickelte. So konnte Max Weber Benjamin Franklin als Deist beschrieben. So wie er ihn beschreibt, würde ich gerne einen typischen Zombieprotestanten in ihm sehen, der seine Religion zwar nicht mehr ausübt, aber ihre Ethik mit den Werten der Aufrichtigkeit, der Arbeit und der Ernsthaftigkeit bewahrt, immer in dem Bewusstsein, dass dem Menschen nur eine bestimmte Zeit gegeben ist.

Auch Thomas Peine und Thomas Jefferson können als Deisten betrachtet werden, als der protestantische Pessimismus kurz vor der amerikanischen Revolution abflaute. Ein aus Vernunft hergeleiteter, gar vernünftiger Gott ähnelt kaum noch dem schrecklichen Gott Calvins. Ich wüsste auch nicht, wie man die schottischen Aufklärer mit Denkern wie David Hume, Adam Smith oder Adam Ferguson (die so sehr mit den französischen interagierten) interpretieren sollte, ohne das substantielle Nachlassen des protestantischen Glaubens in der oberen Mittelschicht zu diagnostizieren“ (Emmanuel Todd S. 188). 

In Großbritannien führten die Französische Revolution und die Industrielle Revolution, die sich gegenseitig bestärkten,  zu einer Wiederbelebung des Protestantismus. So besuchten 1851 40 Prozent der Protestanten Londons den Gottesdienst, in den städtischen Distrikten des industriellen Nordens und der Midlands lag der Gottesdienstbesuch zwischen 44 und 50 Prozent, im Mittelwert aller Distrikte Englands bei 66 Prozent und in Wales bei 84 Prozent. Zwischen 1870 und 1930 tauft man zwar noch die Kinder, heiratet und beerdigt kirchlich, aber die Geburtenrate bricht ein und die beiden protestantischen Länder Deutschland und Großbritannien ziehen gegeneinander in den Krieg.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief die gesamte westliche Welt eine leichte Rückkehr zum Religiösen, die ein weitaus massiveres Wiederaufblühen des katholischen und protestantischen Zombiechristentums vertuschte, das heißt Werte des Anstands und des Konformismus, die sich, losgelöst von jedweder religiösen Praxis, aus der Religion entwickelten. Die Schockwellen des nationalsozialistischen Nihilismus breiteten sich in der Tiefe aus. Die entwickelte Welt kam wieder zu Atem. Es ist die Epoche, in der ein maximaler familiärer Konformismus blühte, der die Grundlage für den Baby-Boom bildete […]. Neben oder oberhalb des familiären Konformismus wurde der Welfare State, der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit, zur ultimativen Verkörperung des Zombichristentums, seine Apotheose.

Der Übergang vom Zombi- zum Nullzustand geht ab den Sechzigerjahren vonstatten. Diese Veränderung ist an die Entwicklung der Hochschulbildung und die daraus resultierende  Verschiebung der Bildungsschichten gekoppelt […], also an die soziale Fragmentierung. Die Zahl der Taufen sinkt, die illegitimer Vereinigungen explodiert , genau wie die Zahl der Scheidungen, Wiederverheiratungen und Alleinerziehenden. Die Häufigkeit von Einäscherungen steigt blitzartig an. Im Jahr 1888, ganz zu Beginn der Zombiphase, machten Einäscherungen 0,01 Prozent der Bestattungen aus, 1939 sind es 3,5 Prozent, 1947 10,5 Prozent. Im Jahr 1960, am Vorabend der finalen Revolution, macht die Einäscherung 78,4 Prozent aus. Wie die ‚Ehe für alle‘ signalisiert auch das Übergewicht an Einäscherungen deutlich, dass der Protestantismus einen Nullzustand erreicht hat. Die Einführung der ‚Ehe für alle‘ bietet jedoch den Vorteil, dem Ende des Christentums in einem gegebenen Land ein symbolisches Datum geben zu können. In England ist es das Jahr 2014“ (Emmanuel Todd S. 190 f.). 

Der klassische Liberalismus hatte zwar den Freihandel eingeführt und die Iren an Hunger sterben lassen. Aber der aktive Protestantismus hielt die Gesellschaft zusammen, gab dem einfachen Briten ein Über-Ich und begleitete die industrielle Revolution. „Der Neoliberalismus wiederum hat die Finanzwelt verselbständigt und anschließend den Produktionsapparat zerstört. An seinem reinen, perfekten Markt handeln Menschen ohne Moral, die einfach nur gierig sind. Vom aktiven Protestanten des ersten Liberalismus über den Zombiprotestanten des Welfare State ist der Idealtypus des Thatcherschen Neoliberalismus nun der Nullprotestant“ (Emmanuel Todd S. 191 f.).

Wie in England haben sich auch in Amerika der Nihilismus einer kleinen Herrscherclique von Oligarchen und der Nullprotestantismus durchgesetzt. Für Todds These sprechen der Anstieg der Toten in den USA in den mittleren Lebensjahren durch Alkohol, Drogenmissbrauch und Suizid, die insgesamt sinkende Lebenserwartung, die hohe Kindersterblichkeit, der Rückgang der Geburtenrate und die Einstellung zur Homosexualität. Dazu kommt, dass das an Verdienst und Leistung orientierte Herrschaftssystem des demokratischen Amerika der Nachkriegszeit einer Oligarchie gewichen ist, an deren Spitze die vierhundert reichsten Oligarchen stehen, denen die Schwierigkeiten, mit denen 90 Prozent ihrer Mitbürger kämpfen, gleichgültig sind. Schließlich lebt die amerikanische Wirtschaft von importierten Waren, der Intelligenz importierter Arbeitskräfte, Gas und Big Tuch. Aber es fehlt an Produkten der traditionellen Industrien, Verbrauchsgütern, Technikern, Maschinenbauern und Ingenieuren. Zuallerletzt und zuvorderst verlässt man sich auf die Durchschlagskraft der Weltwährung Dollar und die Potenz der Notenbank: Zwar werden nur fünf Prozent der Geldproduktion von der Zentralbank vorgenommen. Die restlichen 95 Prozent stammen aus Krediten, die Banken an Privatkunden oder untereinander vergeben. „Wenn es jedoch zu einer Krise kommt, gibt die Fed mehr Geld aus, um das System zu retten, wie sie es auch 2008 getan hat, und garantiert damit, dass die Geldschöpfung durch die Banken, Privatpersonen und im Grunde durch den Staat kein Limit kennt. Ebenso wenig gibt es ein Limit für die amerikanische Staatsverschuldung, deren gesetzliche Obergrenze jedes Mal, sobald nötig, vom Kongress angehoben wird“ (Emmanuel Todd S. 248).

Im Ukrainekrieg sind die Hauptkontrahenten Russland und die USA mit ihren Alliierten. Diese  Konfrontation ist in erster Linie eine ökonomische. Die gegen Russland erlassenen Wirtschaftssanktionen, Embargos, Blockaden und Personenbeschränkungen zünden nicht, weil die meisten Länder der Welt diese Zwangsmaßnahmen nicht umgesetzt haben. Das Vorfeld des Krieges gegen die Ukraine kann, wenn man Todd folgt, in groben Zügen so beschreiben werden: 

Nach dem Zusammenbruch der UDSSR akzeptieren die Vereinigten Staaten die Aussicht auf einen allgemeinen Frieden und reduzieren ihre Militärausgaben von 5,9 auf 3,1 Prozent des BIP. Zwischen 1999 und 2010 steigen sie auf 4,9 Prozent. Die Vereinigten Staaten beginnen, von der absoluten Herrschaft über die Welt zu träumen. Unter Barack Obama gehen die Militärausgaben auf 3,3 Prozent des BIPs zurück. Beim Ukraine-Krieg gehen die USA den ukrainischen Nationalisten in die Falle. Die USA waren bei Weitem keine Kriegstreiber, sie hatten die Expansion aufgegeben und suchten auch keine Konfrontation mit Russland, vielmehr war es der nihilistische Traum der ukrainischen Nationalisten, ein verzögertes Produkt aus dem Zerfall der Sowjetunion, der sie köderte. Putin jedoch hatte keinen Grund, Kiew und Washington hierbei zu unterscheiden. Er beschloss in dem Moment, in den Krieg einzutreten, als er es für richtig hielt. Todd ist davon überzeugt, dass der mit dem Engagement der USA in der Ukraine verbundene Versuch, Deutschland und Russland zu trennen, scheitern wird:

Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 kündigte Angela Merkel ohne Rücksprache mit nur einem europäischen Partner im November 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie an. Deutschland war durch seine Finanzkraft de facto zum Chef Europas geworden. Der erste Strang von Nord Stream 1 wird am 8. November 2011 durch Bundeskanzlerin Angela Merkel und den russischen Präsidenten Dimitri Medwedew in Betrieb genommen. 2013 gewährt Russland Edward Snowdon politisches Asyl. 2014 lässt die Orangene Revolution den ukrainischen Nationalismus aufleben; das deutsche Europa zwingt die Ukraine, zwischen Russland und Europa zu wählen und rechnet mit der Arbeitskraft der geflüchteten Ukrainer. Im Sommer 2015 nimmt Deutschland eine Million Flüchtlinge auf. 2016 entscheidet sich das Vereinigte Königreich für den Brexit. 2017 fängt Trump an, die Ukrainer zu bewaffnen und liefert ihnen die Javelin-Panzerabwehrraketen, die es der ukrainischen Armee im Februar und März 2022 erlauben, die russische Offensive auf Kiew zu durchbrechen. 

Aber der „effektive Widerstand Kiews, der die Illusion erschuf, ein westlicher Sieg sei möglich, wird sich für die Vereinigten Staaten als das ultimative Drama herausstellen. Die ersten Erfolge der Ukrainer verdrehten dem Blob, den die Neokonservativen manipuliert hatten, den Kopf. Der Rückzug der Russen aus dem Norden der Ukraine, der Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022 – im Süden bei Cherson, im Osten in der Oblast Charkiw – erlaubten dem Militarismus, mental Einzug ins Weiße Haus zu halten. Die Dynamik des Krieges war unwiderstehlich geworden, denn Krieg ist, immer und überall, eine der Virtualitäten des Nihilismus. Der militärische Rückzug der USA in den Jahren 2008 bis 2016 war vernünftig, aber fragil, weil er in einer Zeit stattfand, als ein Nihilismus aufkeimte, der im Jahr 2022 plötzlich im Gleichklang mit dem ukrainischen Nihilismus schwang.

Die vorübergehenden militärischen Erfolge des ukrainischen Nationalismus haben die Vereinigten Staaten in eine Eskalation gestürzt, aus der sie nicht mehr herauskommen können, wenn sie nicht einen Niedergang erleiden wollen, die nicht nur einfach lokal, sondern umfassend wäre: militärisch, wirtschaftlich und ideologisch. Eine Niederlage hieße jetzt: deutsch-russische Annäherung, die Entdollarisierung der Welt, das Ende der Importe, die von der ‚kollektiven Inlands-Notenpresse‘ bezahlt werden, große Armut“ (Emmanuel Todd S. 317 f.). All dies spricht nach Todd dafür, dass die Zerstörung der beiden Pipelinestränge von Nordstream 1 und einer der beiden Stränge von Nordstream 2 am 26. Februar 2022 auf Amerika, die Mithilfe Norwegens und den Versuch zurückgeht, die durch den Energietransfer entstandene anfängliche Verständigung zwischen Russland und Deutschland aufzubrechen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Nord_Stream, aber auch https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/nord-stream-sabotage-taucher-flucht-polen-ukraine-100.html). 

Todd endet mit dem schon aus dem Peleponesichen Krieg  von Tukydides bekannten Gegenüber eines pazifistisch-demokratischen und eines militärisch-oligarchischen Prinzips, das Völker in Kriege hineinziehen möchte, die nicht enden und Europa um seinen Wohlstand bringen würde.

ham, 25. Oktober 2024

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