Mit Beiträgen von Ingolf U. Dalferth, Dirk Evers, Egon Flaig, Stefan S. Jäger, Ulrich H. J. Körtner, Christian Lehnert, Martinos Petzolt, Friedemann Richert, Wolfgang Sander, Thomas A. Seidel, Wolfgang Thierse, Günter Thomas, Annette Weidhas und Henning Wrogemann. Sebastian Kleinschmidt steuert den Prolog bei.
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2024, ISBN 978-3-374-07521-8, 390 Seiten, Broschur, Format 21 x 14 cm, € 35,00
Man kann wie schon der „konservativen Revolutionär“ Platon (Günther Rohrmoser) gegen die von den Sophisten und die von ihnen vertretene Vorstellung der notwendigen Auflösung aller tradierten höheren Wahrheiten anschreiben. Man kann den Zeitgeist auch wie der Philologe Christian Adolph Klotz in seiner 1760 in Altenburg erschienen Schrift ›Genius saeculi‹ in seinen Grundzügen zu fassen versuchen. Und man kann auch wie Hans Magnus Enzensberger gegen ihn polemisieren und davon sprechen, dass es etwas „Bornierteres als den Zeitgeist“ nicht gibt und dass, wer nur die Gegenwart kennt, verblöden muss (vergleiche dazu Matthias Heitmann, Zeitgeisterjagd, Jena 2015 S. 303 f.). Aber man kann die Beliebigkeit, den Relativismus, den Eklektizismus und die Ironisierung aller großen Erzählungen auch wie im Supermarkt-Postmodernismus feiern (vergleiche dazu Wolfang Welsch, Was war die Postmoderne – und was könnte daraus werden? In: https://www.welsch.uni-jena.de/papers/W_Welsch_Postmoderne.pdf).
Der jetzt von Sebastian Kleinschmidt, Friedemann Richert und Thomas A. Seidel herausgegebene Reader ›Bild der Welt und Geist der Zeit. Dem Zerfall von Kirche und Gesellschaft begegnen‹ und seine 15 Beiträge versuchen einen Mittelweg. Man ist sich einig, dass die Verständigung über das Bild der Welt schwierig, ja fast unmöglich geworden ist. Der Geist der Zeit erschwert die diskursive Meinungsbildung und das wechselseitige Verstehen. Ein im Namen von Identität, Antidiskriminierung, Wokeness, Cancel Culture, Antirassismus und Gendergerechtigkeit auftrumpfender Purismus stellt die Vorstellung von universell gültigen Werten und damit die geistigen Grundlagen der abendländischen Kultur und Wissenschaft in Frage.
Der Publizist Sebastian Kleinschmidt fasst die Problemlage so zusammen: „Im Zuge der überall in Westeuropa und den USA von den hohen Schulen aufgerufenen identitätspolitischen Empörungspropaganda, einer hypermoralischen Gut-Böse-Polarisierung, werden auch hierzulande sozialen Zusammenhalt verbürgende gemeinschaftliche Wahrheits- und Wirklichkeitsbezüge akademisch attackiert und epidemisch zerrieben. Und da das nicht ohne emotionale Aufwallung und volkspädagogische Indoktrination geschieht, wird eine nüchterne und ideologisch ungeframte Analyse von Problemlagen immer schwieriger. Die Rede ist von Wert-, Norm- und Zielkonflikten, wie sie sich aus der historisch tiefgreifenden Umwandlung überalterter, national und religiös weitgehend homogener Gesellschaften in postnationale, multikulturelle, multireligiöse und multiethnische Staatswesen zwangsläufig ergeben. Vehemt auf Disruption, Freund-Feind-Markierung und moralische Ächtung gepolte puristische Ideen führen dazu, vernünftig akzentuierte freiheitsfördende Weltsichten nominalistisch aufzulösen. Immer radikaler minoritäts- und opferbezogene Anerkennung fordernde Begriffskonstruktionen bewirken einen schleichenden Ruin von Konvention und Verbindlichkeit – und seine mentale Auszehrung, die das durch Überlieferung gestützte lebensweltliche Terrain mehr und mehr erschöpft: das Bild Gottes, das Bild des Menschen, das Bild der Natur, Geschichte und Gesellschaft“ (Sebastian Kleinschmidt S. 7 f.).
Der seit 2010 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Systematische Theologie und Dogmatik lehrende Dirk Evers erinnert in den gegenwärtigen Debatten um ein angemessenes Wirklichkeits- und Naturverständnis, die sich im Dreieck zwischen Naturalismus, idealistisch-humanistischem Traditio-nalismus und dekonstruktivistischer Diskurspolitik bewegen, an die theologische Perspektive der Natur als Schöpfung. „In der Perspektive des christlichen Glaubens sind Menschen als leibliche biologische Lebe-wesen Gottes Geschöpfe und damit selbst ein Ineinander von empfangender Passivität und sich äußernder Aktivität, von Bestimmtwerden und Selbstbestimmung, von Notwendigkeit und Freiheit. Man kann das Be-sondere des Menschen […] als natürliche Künstlichkeit oder auch als kulturgeformte Natürlichkeit bezeich-nen. Die Stilisierungen naturalistischer Anthropologien, die den Menschen als rein biologisches Naturwesen mit einem etwas schlampig programmierten Apparat zur Steigerung der Fitness verstehen wollen, sind eben-so falsch wie kulturalistische Vorstellungen, wir könnten unsere Natur nach Belieben formen und über-schreiten … Nur wenn wir Natur verstehen in ihrem Eigensinn und auch als uns Möglichkeiten und Sinnperspektiven zuspielende Ressource, in die wir mit unserer Leibhaftigkeit, unserer Wahrnehmung und unseren Praktiken, ja mit unseren ganzen Lebensvollzügen und letztlich unserem Sterben eingebunden sind, mit der wir interagieren, weil wir auch immer zu ihr gehören, kann sich ein angemessenes Naturverhältnis einstellen“ (Dirk Evers S. 27 f.).
Nach dem seit 2004 in Bochum Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie lehrenden Günter Thomas verführt die im Raum der Ökumene und in den evangelischen Kirchen zum Programmkonsens ge-hörende Doppelformel ›Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung‹ dazu, sowohl im Raum der politischen Friedenssuche als auch im Raum des ökologischen Handelns illusionär zu hoffen. „Sie blendete die unausweichlich […] konflikthaften und unentrinnbar zweideutigen Konstellationen im Raum der Ökologie und der Politik illusionär aus und blockiert damit den notwendigen Realismus […] Ohne eine kritische Revision dieser Doppelformel […] wird die öffentliche Theologie der Kirchen in Sachen Ökologie nicht dem Zirkel von Selbstradikalisierung und Empörungsgestus entkommen können. Und im politischen Raum gewaltsamer internationaler Konflikte werden Theologie und Kirche ohne einen realistischen Blick auf die Konflikte zwischen Gerechtigkeit und Frieden keinen Beitrag zu Konfliktlösungen leisten können … Dass die biblischen Leittexte der Doppelformel (Ps 85,11; 1. Mose 1,31; 1. Mose 2,15) bei genauer Lektüre einen solchen Realismus fordern, spricht für sich“ (Günter Thomas S. 31 f.).
Annette Weidhas, Programm- und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, vertritt die Auffassung, dass erst die vergebende Rechtfertigung des Sünders den Menschen zum Menschen macht. „Zur Menschlich-keit des Menschen haben die evolutionsphilosophischen Perspektiven nichts zu sagen, geschweige denn der posthumanistische Ansatz. Aber auch die humanistisch-aufklärerische Perspektive auf den Menschen und in ihrem Gefolge die moralistisch-weltverbessernde haben nicht das Menschliche im Menschen befördert, sondern oft genug seine Unmenschlichkeit. Im Zusammenhang damit stand immer der Versuch, das Geschöpfsein des Menschen und damit den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf zu negieren. Das aber ist Sünde, verstanden als Unglaube. In der Perspektive des Ethischen Naturalismus wird erst einmal bescheiden vom Menschen gedacht und moralistische Überhöhung vermieden, letztlich aber die Natur an die Stelle Gottes gesetzt. Die transhumanistische Perspektive minimiert ebenfalls den Moralismus, sieht aber gerade in der Überwindung der Menschlichkeit des Menschen die Zukunft und proklamiert einen algorithmisch gesteuerten und selbststeuernden emotionsfreien amoralischen Übermenschen, in dem der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf durch die Unsterblichkeit der Mensch-Maschine verschwindet. Das Wesen dieses Götzen bzw. Dämons wäre das gerade Gegenteil von Liebe, also des christlichen Gottes“ (Anette Weihers S. 107 f.).
Für den zuletzt in Zürich und Claremont lehrenden Systematiken und Religionsphilosophen Ingolf Udo Dalferth geht es im Diskurs um das Bild der Welt und den Geist der Zeit nicht um das Aburteilen des Überkommenen im Licht einer selbststilisierten Avantgarde oder progressiven Moderne, sondern um das Selbstdenken als Herausforderung auf dem Weg zur aufgeklärten Mündigkeit und Selbstwerdung. „Niemand ist selbst verantwortlich dafür, dass er ein Mensch ist und dass er existiert. Für unser Dasein als Menschen tragen wir keine Verantwortung, wohl aber für unser Sosein als Individuen. Jeder Mensch ist verantwortlich dafür, wie er lebt und ob er die Möglichkeit, verantwortlich zu leben, ergreift oder missachtet. Während aber jeder Mensch von Geburt an ein Mensch und Mitglied einer Gruppe ist und damit die Möglichkeit hat, verantwortlich zu leben, muss er ein eigenverantwortliches Selbst immer erst werden. Wie wird man das?
Dadurch, dass man sich zu anderen und sich selbst zu seinem Dasein und anderen Daseienden und zu seinem Menschsein unter anderen Menschen verhält, indem man sich so darauf bezieht, dass man nicht nur zwischen sich und anderen, sondern im Hinblick auf sich selbst zwischen sich als Körper (auf den man sich bezieht, wenn man sich zu sich selbst verhält) und sich als Geist (als der und durch den man sich auf sich bezieht) unterscheidet […] Die Unterscheidung zwischen Körper und Geist ist keine ontologische oder epistemolo-gische, sondern eine phänomenologische Unterscheidung: Körper ist das, was uns Hier und Jetzt im sinnlich-materiellen Leben verankert, Geist das, wodurch wir uns vom Hier und jetzt distanzieren und mental und emotional in die Position anderer versetzen können, und Selbst der Akt der Unterscheidung von Körper und Geist und damit unsere Einbindung in die sinnliche Körperwelt und soziale Sinnwelt, den es nur im konkre-ten Vollzug gibt. Durch diese Unterscheidung wird eine Differenz zwischen Menschsein und Selbstwertung etabliert, die einen befähigt, sich selbst als Körper und als Geist unter Geistern kritisch gegenüberzutreten und sein Leben konkret zu gestalten“ (Ingolf Udo Dalferth s. 182 f.). Ein Selbst wird man je an seinem Ort und auf seine Weise. Selbstwerdung gelingt nicht in der Abgrenzung gegen andere. Der Kern der Selbst-Identität besteht darin, ein Du zu sein wie alle anderen auch und deshalb ein Ich oder Selbst im Unterschied zu einem Dritten werden zu können. Man wird ein wahres und nicht nur selbstzentriertes Selbst, wenn man sich in seinem Selbstwerden an einem Dritten orientiert und sich und alle anderen von ihm her als Du versteht und behandelt. Man ist dann keine ›Kopie von Anderen‹.
Die Gleichheit vor Gott hebt „in keiner Weise die irreduzible Verschiedenheit und Vielfalt unserer Identitäten im Verhältnis zueinander auf, aber sie bleibt auch nicht dabei stehen, sondern eröffnet die Möglichkeit, zugleich ganz und gar gleich vor Gott und ganz und gar verschieden voneinander zu sein. Jeder ist anders als jeder andere, keiner ist identisch mit einem anderen, aber alle sind gleich vor Gott. Menschen haben deshalb nicht nur komplexe Identitäten, sie sind stets auch mehr als das, was andere aus ihnen oder sie selbst aus sich machen. Ihre Gleichheit […] im Dasein hebt in keiner Weise ihre Verschiedenheit im Sosein auf. Zum Ge-schöpf kann sich keiner selbst machen, und deshalb ist es keiner mehr oder weniger als ein anderer. Was beim Recht gilt, gilt vielmehr auch hier: Die Menschen sind nicht alle gleich, aber wenn die Menschenrechte überhaupt gelten, dann gelten sie gleichermaßen für alle Menschen und nicht nur für manche mehr und für andere weniger. Die Menschen glauben auch nicht alle an Gott, aber wenn Gott ihr Schöpfer ist, dann sind sie gleichermaßen seine Geschöpfe, was immer sie glauben und wie immer sie leben. Als Geschöpfe Gottes können sie gottesblind oder gottesoffen leben […]. Wir alle haben komplexe Identitäten. Aber wir stehen und fallen nicht mit ihnen, sondern sind mehr als sie, weil wir Gottes Geschöpfe sind“ (Ingolf Udo Dalferth S. 211 f.).
Hennig Wrogemann, seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theolo-gie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, widerspricht der durch die Assmann-Debatte zu neuer Popu-larität gelangten These, dass monotheistische Religionen per se zu mehr Gewalttätigkeiten neigen als andere religiöse Formationen und der Vorstellung, dass der universale Geltungsanspruch der christlichen Mission per se rassistisch sei. Die wissenschaftlichen Kunstbegriffe Monotheismus und Polytheismus zeigen in ihrer weltweiten Konkretion eine hoch variable Struktur und kein gemeinsames Wesen. Etwa die antiken Religi-onen der Assyrer, Babylonier und Perser waren keineswegs friedfertiger als die monotheistische Religion Israels. Der im Westen als besonders friedlich geltende nicht monotheistische Buddhismus hat etwa in der Zeit der Kriegermönche während der japanischen Tokugawa-Zeit alles andere als eine friedliche Geschichte gehabt und dass die Hindu-Traditionen friedfertiger wären, gehört ins Reich der Mythen. „Schaut man sich
Religionen unter dem Gesichtspunkt ihrer Botschaften, so wird man feststellen, dass sich Christentum und Buddhismus darin ähneln, eine universale Heilsbotschaft zu vertreten, die jedem Menschen als einzelnem Wesen gilt. Zudem wird für alle Menschen ein universaler Unheils-Zusammenhang (buddhistisch: Verblen-dung, christlich: Sünde) angenommen. Das bedeutet, dass im Blick auf die religiöse Heilsbotschaft ethnische, soziale und andere Grenzen keine Bedeutung haben: Jeder Mensch kann des Heils teilhaftig werden, wenn er der Lehre Glauben schenkt und sich dem durch die Religion gewiesenen Weg (buddhistisch: Praktizieren des Achtfachen Pfades, christlich: Glaube an Jesus Christus) anschließt. Dass diese Glaubenslehre und Glau-bensspraxis als eine gegenüber anderen bessere Option angesehen wird, darin stimmen beide überein“ (Hennig Wrogemann S. 350).
Interessant ist nun, dass der universale Anspruch beim Christentum, nicht aber beim Buddhismus und schon gar nicht bei den Menschenrechten als eo ipso übergriffig kritisiert wird. Demgegenüber unterstreicht Wrogemann, dass es erst religiöse wie säkulare universale Geltungsansprüche ermöglichen, „sich über religiöse, kulturelle, ethnische und allgemein weltanschauliche Grenzen hinweg über wichtige Fragen des Lebens auseinanderzusetzen. Damit wird deutlich, dass die Negation universaler Geltungsansprüche nicht zu einer friedlicheren Welt führt, da die ›Welt‹ dann in viele inkommensurable Teilwelten zerfiele […]. Eine plurale, freiheitliche und demokratische Gesellschaft lebt von dem Meinungsstreit der Bürger, um in der diskursiven Auseinandersetzung zu Lösungen zu kommen. Dies erfordert es, eine Vielzahl von Geltungsansprüchen zuzulassen […].“ (Henning Wrogemann S. 359 f.).
ham, 10. Mai 2024