Das Kapellenbaugramm der 1960er Jahre in Schleswig-Holstein
Beiträge zur Denkmalpflege in Schleswig-Holstein 2, hrsg. vom Landesamt für Denkmalpflege, dem
Ev.-Luth. Kirchbauverein für Nordelbien und dem Nordelbischen Kirchenamt Kiel mit Beiträgen
unter anderem von Friedrich Gleiß, Friedhelm Grundmann, Wolfgang von Hennigs, Matthias Ludwig
und Fotografien von Friedhelm Schneider und Alexander Voss
Verlag Ludwig, Kiel, 2011, ISBN 978-3-86935-044-8, 270 S., ca. 230 s/w- und Farbabbildungen,
Broschur, Format 27 x 22 cm, € 29,90
Das auf Initiative des „Evangelisch-lutherischen Kirchbauvereins für Schleswig-Holstein e.V.“
aufgelegte landeskirchlich geförderte „Kapellenbauprogramm“ der 1960er Jahre führte zum Bau von
nahezu 100 kleinen Filialkirchen zur Versorgung der verstreut wohnenden Landbevölkerung und der
nach dem Zweiten Weltkrieg in Schleswig-Holstein angesiedelten Flüchtlinge. Der systematische
Neubau von vielen kleinen Kirchen folgte der 1957 bei der Gründungsversammlung des
Kirchbauvereins von Pastor Friedrich Gleiß vorgetragenen Auffassung, dass wenige an zentrale Orten
situierte Kirchen leere Kirchen und viele in Wohnungsnähe gebaute Kirchen volle Kirchen bedeuten.
„Schleswig-Holstein hat deshalb eine so unkirchliche Bevölkerung, weil es zu wenig Kirchen hat…
[Es] wird kirchlicher werden, wenn es mehr Kirchen bekommt“ (Friedrich Gleiß). Kirchenbau wurde
also als volksmissionarische Aufgabe und als eine Möglichkeit des Gemeindeaufbaus begriffen.
Wolfgang von Hennigs, der spätere Leiter des Dezernats Bauwesen des Nordelbischen Kirchenamts
Kiel hat diese Auffassung in den Sitzungen des Arbeitsausschusses des Evangelischen Kirchbautags
immer neu unterstrichen. Deshalb verwundert es nicht, dass er auf die Frage, was aus den Kirchen des
Kapellenbauprogramms angesichts der negativen finanziellen und demografischen Entwicklungen
werden soll, wie folgt antwortet: „Ich bin gegen Aufgabe. Die Frage der Erhaltung unserer Kapellen,
unserer Kirchen überhaupt, gipfelt in zwei Sentenzen. Die erste: Wenn es vor Ort eine Gemeinde gibt,
die ihre Kirche nicht aufgeben will, dann wird sie nicht verloren gehen. Diese Hoffnung habe ich, und
die Erfahrung aus Pommern und Mecklenburg, aus den östlichen Kirchen insgesamt sagt mir eben
dies: Entscheidend ist die Kirche vor Ort. Und zweitens geht es um die Versorgung der Gemeinden
mit Pastoren. Wenn unsere Landeskirche nicht die Kraft aufbringt, den Schwerpunkt ihrer
Bemühungen, auch finanziell, in der Anwerbung von Theologiestudenten und Beschäftigung von
Pastoren zu sehen, dann habe ich um unsere Bauten Sorge. Umgekehrt, wenn es gelingt, um eine
Kapelle Gemeinde zu bilden über die Muttergemeinde hinaus, und wenn diese Gemeinde sie will und
vielleicht sogar die politische Gemeinde mitzieht, dann haben diese Bauten Zukunft“ (Wolfgang von
Hennigs).
Dem „Kapellenbauprogramm“ gingen zwei groß angelegte Wettbewerbe für kleine Kirchen mit 100
bis 150 Plätzen voraus, die wenig mehr als 100.000,– DM kosten sollten. Der von Barbara und
Wolfgang Vogt ausgearbeitete Entwurf einer „Dachkirche“ hat diesen Rahmen auch deutlich
unterschritten: Die reinen Baukosten haben nicht mehr als 25.000,– DM betragen. Der Vogt‘sche
Entwurf hat dann auch über Schleswig-Holstein hinaus internationale Aufmerksamkeit erfahren.
Matthias Ludwig verortet das Kapellenbauprogramm im Kontext vorauslaufender und paralleler
Entwicklungen in Deutschland und Europa und kommt dabei auf den württembergischen Sonderweg
der Entwicklung von „Montagegemeindehäusern“ zu sprechen: „Im Sinne erster Keimzellen sollten
diese einer vollständigen Versorgung neuer Gemeinden und deren Aufbau über das gottesdienstliche
Leben hinaus dienen, ehe man nach einer gewissen Verfestigung neue Kirchen bauen wollte. Die
Gemeinden sollten die Situation bewusst als Provisorium erleben – und ihre Kräfte dann auf die
Errichtung einer endgütigen Kirche lenken“ (Matthias Ludwig). Bis in die 1990er Jahre wurden etwa
50 dieser nach den Plänen von Heinz Rall gebauten Montagegemeindehäuser aufgestellt und teilweise
auch transloziert.
Nach gut 50 Jahren hat die Gleiß’sche Vorstellung von Volksmission durch Kirchbau an Strahlkraft
verloren. Die Evangelische Kirche in Deutschland setzt auf „Leuchtturm-Projekte“ und nicht mehr auf
„viele kleine Kirchen“. Selbst die vergleichsweise reiche Evangelische Gesamtkirchengemeinde
Stuttgart kann nicht mehr allein für den Bau und Erhalt aller Stuttgarter Evangelischen Kirchen
aufkommen. Deshalb setzt man dort unter anderem auf Stiftungen und neu gegründete
Kirchbauvereine und kann so unter anderem das dortige Paul Gerhardt-Gemeindezentrum samt der
Paul Gerhardt-Kirche erhalten. Wie es mit der Berger Kirche und dem in seiner Bausubstanz ungleich
gefährdeteren dazugehörigen Kirchturm weitergeht, ist in Stuttgart seit gut eineinhalb Jahrzehnten
offen.
(ham), 20.03.2013
Download Matthias Ludwig „… viele kleine Kirchen“
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