Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune,

die 1982 im oberfränkischen Lichtenfels geborenen Franziska Sophie Geissler konnte sich nach einer Ausbildung als Bauzeichnerin an der Royal Akademie of Arts und Design in London über Fragen der Kunst und der Kunstproduktion informieren und hat sich dort entschlossen, Kunst zu studieren. Die ausgeschlagene Alternative wäre Fotografie gewesen. Ihr 2008 angetretenes Diplomstudium an der ABK in Stuttgart hat sie als Meisterschülerin abgeschlossen. Seitdem nimmt sie in Stuttgart einen Lehrauftrag wahr. Heute kann sie sich nichts anderes mehr als Kunst vorstellen. Im Atelier zu arbeiten erfüllt sie mit Glücksgefühlen; Kunst zu schaffen fühlt sich für sie ähnlich an wie eine große Liebe. Farbe ist bei ihr mit Freude assoziiert, etwas herzustellen gelebte Freiheit und etwas weiterzuentwickeln pure Lust. Sie glaubt, dass es sinnvoll sein könnte, die Sicht auf die Welt und die Dinge mit ihren Arbeiten zu erweitern. Ihre Malereien, über die ich vorwiegend spreche, sind nur ein Teil ihrer Produktion. Dazu kommen ihre Skulpturen und ihre Buchprojekte.

Wer sich auf Geißlers Malereien einlässt, ist von ihrer Farbkraft, Frische und Tiefenräumlichkeit fasziniert. Er denkt an die durch die Rosetten und die Architektur mittelalterlicher Dome geschaffene Präsenz und die beherrschende Gegenwärtigkeit von Glasfenstern wie denen in der Bessererkapelle im Ulmer Münster und fragt sich, wie in Malereien eine den Glasfenstern vergleichbare Wirkung entsteht. Er oder sie wird dann wohl mutmaßen, dass diese Wirkung wesentlich an der transluzenten, der partiell lichtdurchlässigen Eigenschaft der von Geissler bevorzugt genutzten Werkstoffe Glasfaser und Epoxidharz liegt. Geissler baut ihre Arbeiten in bis zu sechs Epoxidharzschichten auf Trägermaterialien wie Leinwand, Holz, Alu-Dibond und Glasfasermatten auf. Dazu kommen das Hell und Dunkel der Farben, die Komplementärkontraste ihrer Farbkompositionen und schließlich auch noch die von ihr eingesetzten Linoldruckfarben und Pigmente. Die im Prozess der Bildentstehung gewonnene Tiefenräumlichkeit erlaubt es, dem Bild im Bild auf den Grund zu gehen, den perspektivisch erzeugten Bildraum zu erweitern und den bei der herkömmlichen Bildbetrachtung gewohnten Horizont zu überschreiten.

Franziska Sophie Geissler hat sich bei der Entwicklung ihrer Malerei dafür entschieden, dem narrativen Anspruch den gleichen Rang zuzugestehen wie der Materialität und der formalen Gestalt. Deshalb lassen die in ihren Arbeiten gefundene formale Gestalt, ihr Ausdruck und ihre Atmosphären Rückschlüsse auf einzelne Stationen und Situationen in ihrem Leben zu. Ihre Arbeiten sind in der Folge immer auch Porträts im erweiterten Sinn. Sie machen persönlich Erlebtes öffentlich, verbergen es in ihrer ästhetischen Transformation aber auch zugleich und können dann doch wie archäologische Fundstücke entschlüsselt und gelesen werden. Mit ihren Titeln gibt Geissler Hinweise auf das Gesehene und Fingerzeige auf das, was sie ausdrücken will.

Die mit gelben Rauten überformte Mixed Media-Arbeit auf neon-rotem Grund ›Ich will auch cool sein 2‹ könnte aus einer Serie von Arbeiten stammen, in der Geissler Freunde aus ihrer Lichtenfelser Jugendclique porträtiert. Die blauen Haare, die schwarzen Augen, die grünen Ohren und das schwarz gestrichelte Oberteil stehen für die Minimalform eines herkömmlichen Porträts.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Andere Porträts erscheinen verschlüsselter.So zeigt die ›Black Kettle 1‹ betitelte rotbraune Vase auf schwarzem Grund drei kleine, in der Gesamtkomposition fast unsichtbare Figuren, die offensichtlich mit Pfeil und Bogen einen gehörnten Widder und einen ausgewachsenen Bären jagen. Eine dieser Figuren ist wohl Black Kettle. Der Name geht auf den am 27. November 1868 bei einem Überfall durch des 7. US-Kavallerie-Regiment ermordeten Häuptling der südlichen Cheyenne zurück. Black Kettle ist damals zusammen mit 100 weiteren Cheyenne ums Leben gekommen. Die Ermordeten waren vor allem unbewaffnete Frauen und Kindern. Diese Vase ist wie der rotbraune irdene Topf ›Malibu Cove‹, die goldene Vase ›Mexican Hat Lodge‹, der rotbraune Trinkbecher mit Trinkhalm ›Six Flags Magic Mountain‹, der alluminiumfarbenen Metalltopf ›Coleman‹, der goldene Gaskocher ›Strike a light‹ und die farbenfreudige Puppe ›Bye-Bye American Doll‹ ein Mitbringsel und Erinnerungsstück an die für die Künstlerin bis heute eindrücklichen Amerikareisen ihrer Familie in den 1990ern Jahren. Die Erinnerungsstücke und ungezählte, von der Mutter aufgenommene Dias halten das Erlebte wach. Die Arbeiten ›Malibu Cove‹, ›Six Flags Magic Mountain‹ und ›Mexican Hat Lodge‹ verraten Stationen dieser Reisen an der Malibu-Bucht westlich von LA, im 1971 eröffneten ›Six Flags Magic Mountain‹ Freizeitpark nordwestlich von LA mit seinen weltweit meisten Achterbahnen und im Motel ›Mexican Hat Lodge‹ in der Nähe des San Juan River 22 Meilen nördlich des Monument Valleys in Utah; ›Coleman‹ verweist auf den Namen eines der führenden amerikanischen Outdoor-Herstellers.

In den Kontext der Amerikareisen gehören wohl auch die Skulpturen ›Search Light‹ und ›Bam‹, die Kleinformate ›Unpaarhufer‹, ›Nie wie du‹ und ›Rückkehr der Königin‹, das Mittelformat ›Bye-Bye American Doll 3›, das in seiner Komposition, Ausstrahlung und Einfachheit geniale Großformat ›Hot Dogs‹ und natürlich auch das an der Grenze zur Überkomplexität komponierte Großformat ›Six Flags‹, in dem Geissler zeigt, dass sie auch ästhetische Komplexität auf den Punkt bringen kann. Die Skulpturen ›Search Light‹ und ›Bam‹ lassen an Leuchtreklamen und an die Verbindung von Pop Art und Werbung denken, ›Bam‹ an die Boxhandschuhe in der Werbung für die Biere von Budweiser.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An der Arbeit ›Rückkehr der Königin‹ kann man studieren, wie Geissler mit klassisch komponierten Raumperspektiven umgeht: Die schwarzen und weißen Bodenfliesen laufen auf eine Farbwand zu, in der die Reihenfolge der Farben des für Menschen sichtbaren Lichtspektrums durcheinander geraten ist. Man kann darüber spekulieren, ob Geissler an die in Internetforen heiß diskutierte Frage gedacht hat, ob Ameisen rot sehen können oder nicht und man kann sie das direkt im Anschluss an diese Rede fragen. Jetzt schon ist dagegen klar, dass sie bei ihrem Titel ›Rückkehr der Königin‹ nicht an Tracey Martins gleichnamigen Jugendroman gedacht hat. Franziska hat mir geschrieben, dass sie den Roman gar nicht kennt. Im Hintergrund steht der Besuch bei einer alten Freundin ihrer Mutter in LA, die nur zwei Straßen neben Kevin Costner gewohnt hat. „Alles, was rumflog, wurde mit Insektenspray vernichtet und alles war voll kleiner Ameisen. Ursula, die Freundin ihrer Mutter, schrie damals: ›Ganz Hollywood ist auf einem Ameisenhügel gebaut‹. Ameisen gab es überall auf unserer Reise. Große und kleine. Mein Bruder und ich haben überlegt, wie wir alle Ameisen auf der Welt vernichten könnten. Da ist nun das Bild: ›Rückkehr der Königin‹. Die eine, die wir nicht umbringen konnten …“ (Franziska Sophie Geissler am 2.10.2022 an Helmut A. Müller).

 

 

 

 

 

Am Mittelformat ›Bye-Bye American Doll 3‹ lässt sich studieren, wie die oben angesprochene Tiefenräumlichkeit durch die Komplementärkontraste von rot und blau und Inkarnat und Weiß und Blau entsteht. 

Schließlich zum Schluss noch einige Anmerkungen zu den Arbeiten, die der Ausstellung den Titel geben: Die Wandskulptur ›Imagine Signal Light‹ könnte eine Weiterentwicklung der Bodenskulptur ›Search Light‹ sein. An die Stelle des Leuchtturms ist eine Fackel getreten. ›Imagine‹ könnte an den gleichnamigen Song von John Lennon aus dem Jahr 210 erinnern:

Imagine

Stell dir vor, es gibt kein Himmelreich

Imagine there’s no heaven

Es ist leicht, wenn du es versuchst

It’s easy if you try

Keine Hölle unter uns

No hell below us

Über uns nur Himmel

Above us only sky

Stell dir vor, alle Menschen

Imagine all the people

Leben für das „Heute“

Living for today

Stell dir vor, es gibt keine Länder

Imagine there’s no countries

Es ist nicht schwer, es zu tun

It isn’t hard to do

Nichts wofür man morden oder sterben müsste

Nothing to kill or die for

Und auch keine Religion

And no religion too

Stell dir vor, alle Menschen

Imagine all the people

Leben in Frieden

Living life in peace

Du wirst vielleicht sagen, ich bin ein Träumer

You may say I’m a dreamer

Aber ich bin nicht der Einzige

But I’m not the only one

Ich hoffe, du wirst dich eines Tages uns anschließen,

I hope someday you’ll join us

Und die Welt wird eins sein

And the world will be as one

Stell dir vor, es gibt keinen Besitz

Imagine no possessions

Ich frag mich, ob du das kannst

I wonder if you can

Kein Grund für Gier oder Hunger

No need for greed or hunger

Alle Menschen wären Brüder

A brotherhood of man

Stell dir vor, alle Menschen

Imagine all the people

Teilen sich die Welt

Sharing all the world

Du wirst vielleicht sagen, ich bin ein Träumer

You may say I’m a dreamer

Aber ich bin nicht der Einzige

But I’m not the only one

Ich hoffe, du wirst dich eines Tages uns anschließen

I hope someday you’ll join us

Und die Welt wird eins sein.

And the world will live as one“

Writer(s): John Lennon, Yoko Ono

Lyrics powered by www.musixmatch.co (zitiert nach Musikguru in https://musikguru.de/john-lennon/songtext-imagine-129673.html)

Die Fackel in ›Imagine Signal Light‹ könnte vielleicht mit den in den Olympischen Spielen angedachten Vorstellungen von Vernunft, Freiheit und Friedfertigkeit verbunden sein.

Bei der zentralen Figur der Malerei ›Signal‹ greift Geissler auf die Erstdarstellung der Holzpuppe Pinocchio durch den Illustrator Enrica Mazzanti aus dem Jahr 1883 zurück, der das Titelbild der Buchausgabe der ab 1881 in einer italienischen Zeitung unter dem Titel ›Le Avventure Di Pinocchio: Storia Di Un Burattino‹ veröffentlichten Abenteuer Pinocchios gestaltet hat. Das Titelbild zeigt Pinocchio in kurzen grünen Hosen, einem braun-schwarz gefleckten Überwurf, einer weißen Halskrause, einem grünen Hut und mit seiner überlangen Nase. Im Hintergrund schwimmt der Riesenhai, in dessen Bauch er seinen Vater wiederentdecken wird. Mit vereinten Kräften entkommen sie dem Hai und Pinocchio verspricht, nach all seinem bisherigen Unfug endlich ein ehrliches und verantwortungsbewusstes Leben zur führen. Als er diesen Vorsatz umsetzt und durchhält, wird aus der Puppe Pinocchio ein Junge aus Fleisch und Blut.

In Geißlers ästhetischer Transfiguration ersetzt ein Scheinwerfer Pinocchios Kopf und ein Lichtstrahl seine lange Nase; der Lichtstrahl leuchtet in die Weite des Alls. Das rechte hölzerne Bein von Geissler Figur steht auf einem roten Halbkreis, also wohl der Erde, ihr linkes hinter einem golden hinterleuchteten Horizont. An die Stelle der weißen Halskrause Pinocchios sind die gelben Versalien von ›Signal‹ getreten. Wenn man wie ich den roten Halbkreis als Erde liest, das helle Blau hinter dem Scheinwerfer als Himmel und den schwarzblauen Fond als kosmische Weite, kann einem die Arecibo-Botschaft des Astronomen und Astrophysiker Frank Drake einfallen, die dieser am 16. November 1974 als binär codierte Radiowellenbotschaft mit Informationen über die Biologie des Menschen, die menschliche Population und die Stellung es Planeten Erde im Sonnensystem an den 

25 000 Lichtjahre von der Erde entfernten Kugelsternhaufen M 13 im Sternbild des Herkules gesandt hat. Ob Drakes Botschaft in M 13 angekommen ist und dort decodiert werden konnte, ist ebenso offen wie die Frage, ob Franziska Sophie Geissler diese Zuschreibung mitträgt. Wir können sie ja auch dies gleich im Anschluss an meine Rede fragen.

Meine Rede hat ihr Ziel erreicht, wenn deutlich geworden ist, dass es sich lohnt, sich auf Geißlers Arbeiten einzulassen und sie in aller Freiheit weiterzudenken.

Helmut A. Müller, 22. Oktober 2022

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