Verlag C.H.Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-78446-0, 1102 Seiten, 6 Abbildungen und 30 Karten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, € 48,00
Als ›Mittelalter‹ galt bislang der in universalem Sinnzusammenhang gedachte Ausschnitt aus der west- und mitteleuropäischen Geschichte zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Neuzeit und damit die Zeit zwischen ca. 500 und 1500. Im aufklärerischen Kontext des späten 18. Jahrhunderts hat man sich in Anlehnung an die christliche Heilsgeschichte von der Vorstellung leiten lassen, „dass die Geschichte im Ganzen wenn nicht einen einzigen Ursprung, so doch ein bestimmtes Endziel hatte, das die Menschheit in weltbürgerlicher Einheit“ zusammenführt (Michael Borgolte S. 13).
Setzt man den Begriff ›Mittelalter‹ aber mit ›Globalgeschichte‹ in Beziehung, markiert er nicht mehr die Zwischenzeit, in der die Menschheit zu ihrer weltgeschichtlichen Bestimmung aufsteigen sollte. ›Globalgeschichte‹ bündelt auch nicht wie die Universalgeschichte die Geschichte der ›ganzen Welt‹ und deren Entwicklungsstränge. Der Anspruch auf universale Sinngebung und historische Vollständigkeit hat seine Überzeugungskraft verloren. ›Globalgeschichte‹ geht von der aktuellen Erfahrung einer realen oder möglichen Vernetzung aller Menschen durch Medien und Kommunikation, Austausch von Waren und persönlichen Begegnungen aus, „die zusammenfassend als ›Globalisierung‹ bezeichnet wird. Im Unterschied zu religiösen Endzeiten oder zur säkularen Moderne galt und gilt die Globalisierung gewiss nicht als historische Verheißung; die universalen Verknüpfungen durch eine allgemeine menschliche Mobilisierung und neue Kommunikationstechniken haben sich offenkundig ohne programmatische Zielsetzungen ereignet“ (Michael Borgolte S. 15).
Zwar hat es in dem Jahrtausend zwischen 500 und 1500 noch kein weltumfassendes Netzwerk, aber doch Kommunikationsgemeinschaften in Räumen erheblichen Umfangs gegeben, in die sich der Globus der Vormoderne aufgefächert hat. Borgolte erinnert an die in ersten Weltkarten greifbare, in drei Kontinente und eine imaginierte Fremde geteilte eine Menschenwelt. In Borgoltes Globalgeschichte des Mittelalters rückt die Menschenwelt der drei Kontinente in den Vordergrund. Sie „bildet schon in der mediterranen Antike eine gedachte Einheit und kann als ›trikontinentale Ökumene‹ oder ›Eufrasien‹ bezeichnet werden. Gleiche Aufmerksamkeit gilt den menschlichen Welten in den anderen bewohnten Zonen der Erde, den ›realen‹ Entsprechungen der von den Kartografen imaginierten Fremde“ (Michael Borgolte S. 31).
Als im westlichen Mittelalter nicht bekannten Fremde kommen die beiden Amerikas, die Welten des Pazifik und die Fremde der europäisch-afrikanisch-asiatischen Ökumene in den Blick, in Eufrasien die Kommunikationsräume Afrika als Rand der antiken Ökumene, Asien als politischer Spannungsbogen zwischen Mittelmeer und Gelbem Meer und Europa als Erbe des trikontinentalen Imperium Romanum. Ein eigenes Unterkapitel ist den Beziehungsnetzen der Religionen gewidmet. Unter globalhistorischem Aspekt sind nach Borgolte „vor allem solche Religionen interessant, die menschliche Gemeinschaften über die Grenzen ihrer natürlichen und politischen Lebensräume hinweg gebildet haben. Insbesondere geht es hier um Religionen, deren Radius die großen Reiche übertroffen haben oder sich mit diesen in komplexer Weise verzahnten. Die Forschung hat für sie besonders die Kategorie ›Weltreligion‹ entwickelt“, in denen es immer einen Stifter gab, der eine Reihe gängiger Lehren miteinander synthetisierte und einen neuen Weg gewiesen hat (Michael Borgolte S. 309). „Der universalhistorische Ansatz bei der Analyse der großen Religionen konzentriert sich auf die Masse der Anhänger, den Umfang der Verbreitung und den Anspruch auf allgemeine Geltung. Demgegenüber akzentuiert die Globalgeschichte besonders die ›universelle Nachbarschaft aller Religionen‹“ (Michael Borgolte S. 310). Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist nach den amerikanischen Gelehrten Donald und Jean Elliot die Pluralität der Weltreligionen zum integralen Bestandteil des Alltags aller Menschen geworden – teils durch die Bilder und Geschichten in den Massenmedien, teils durch die Erfahrung im Umfeld und im Zentrum des eigenen Lebens. „Übersetzt man diesen Ansatz ins ›mittelalterliche Jahrtausend‹, dann geht es darum, die Verbreitung und Begegnung der Religionen in der trikontinentalen Welt von Asien, Afrika und Europa und die Wirkung dieser Prozesse auf die Stiftung eines überregionalen Zusammenhangs zu studieren. Deshalb geht die folgende Untersuchung … von den Räumen aus, die sie geprägt haben“ (Michael Borgolte a. a. O.).
Das vierte Kapitel widmet sich dem mittelalterlichen Fernhandel, mit dem die grundlegendste aller Migrationen, die Verbreitung des Menschen vor allem im Pazifik und vielleicht auch in Madagaskar vollendet wurde (vergleiche dazu und zum folgenden Michael Borgolte S. 809). Das ›mittelalterliche Jahrtausend‹ gehört damit noch der Geschichte menschlicher Expansionen über den Globus an. „In diesen Prozessen entstanden von Anfang an weit auseinanderliegende und schwer zugängliche Streusiedlungen, die den Kontakt zu ihren Ursprüngen oder zu anderen ihrer Art nicht wahren konnten. Es gab also in jeder Periode ungezählte ›Welten‹ im Sinne menschlicher Kommunikationsräume, die entkoppelt oder abgeschlossen nach außen für sich existierten; das gilt insbesondere von Nord- und Südamerika und diversen Inseln im Pazifik, wo archäologische Funde menschliche Siedlungsspuren hinterlassen haben, und sicher auch vom mittleren und südlichen Afrika und von der Küste des arktischen Ozeans am Rand der anderen beiden Kontinente Europa und Asien mit ihren schwer entzifferbaren Hinterlassenschaften.
Demgegenüber war die größte und kompakteste Welt des Mittelalters schon ein Erbe der Antike, die Ökumene von Europa, (dem südlichen) Asien und (dem nördlichen) Afrika. Die Gebiete dieser drei Kontinente konnten trockenen Fußes und bei Bedarf auch auf bekannten Seefahrtsrouten erreicht werden. Die global-historische Schlüsselfrage war deshalb für das ›mittelalterliche Jahrtausend‹, in welchem Ausmaß und mit welcher Intensität dieser Großraum tatsächlich erfasst – oder im Sinne des ›spacial turn‹ vielmehr konstruiert – wurde, auch im Vergleich zu den vorangegangenen Zeiten“ (Michael Borgolte S. 869).
Wenn das Mittelalter nicht mehr als abgewertete Zwischenzeit in der Tradition Europas, sondern als Ausschnitt eines Jahrtausends im universalen Kontext verstanden wird, war es „keine vom Christentum allein bestimmte Epoche. Unter einigen weiterverbreiteten Religionen mit globalen Berührungen hat es vor allem der Dualismus von Christentum und Islam bestimmt. Das ›Mittelalter‹ war auch keine Periode, die auf die Bildung der Nationalstaaten zugelaufen wäre; wie die älteren Zeiten, aber noch stärker als diese war es von Reichsbildungen geprägt, die eine Kommunikation über große Entfernungen erleichtert haben. Allerdings lässt sich das vor allem für Eufrasien, die Welt der drei Kontinente Europa, Afrika und Asien, beobachten, darüber hinaus nur in Meso- und Südamerika. Die Welt Eufrasien war keine der isolierten Siedlungsinseln. Vielmehr konnten in der trikolonialen Ökumene tatsächlich alle Menschen in ein umfassendes Netz des Austauschs einbezogen werden, zwar nicht persönlich, aber durch den Austausch der Waren … Am Ende der Epoche fanden die Menschen ›des Mittelalters‹zur Kühnheit der Phönizier zurück, die zweieinhalb Jahrtausende vor ihrer Zeit bei ihren Seefahrten vom Mittelmeer in den Atlantik vorgestoßen waren“ (Michael Borgolte S. 872 f.)
ham, 16. April 2022