Verlag C. H. Beck, München, 2022, ISBN 978-3-406-78174-2, 320 Seiten, 29 Abbildungen, davon 16 auf Farbtafeln, 2 Karten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 26,00
Seit den Funden der Schriftrollen in der ersten von elf Felsenhöhlen bei Qumran im Jahr 1947 ist unendlich viel über diesen Jahrhundertfund geschrieben worden (vergleiche dazu etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Qumran). Fünfzig Jahre später hat der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger die damaligen Ergebnisse der Qumranforschung kompakt zusammengefasst (vergleiche dazu Klaus Berger, Qumran. Funde – Texte – Geschichte. Reclam 1998).
Noch einmal knapp 25 Jahre später legt der an der Georg-August-Universität Göttingen lehrenden Alt- testamentler und Leiter der dortigen Qumran-Forschungsstelle Reinhold Gregor Kratz in seiner Monografie ›Qumran‹ eine Neubewertung der Funde und der in Qumran lebenden Gemeinschaft vor: „Üblicherweise werden Qumran und die Texte vom Toten Meer als ein singuläres historisches Phänomen für sich betrachtet und allenfalls mit dem zeitgenössischen und späteren rabbinischen Judentum sowie dem frühen Christentum in Verbindung gebracht. Dieses Buch beschreitet einen anderen Weg, den der Untertitel ›Die Schriftrollen vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums‹ zum Ausdruck bringt. Da in Qumran Handschriften biblischer und außerbiblischer (parabiblischer und qumranischer) Werke gefunden wurden, setzt die vorliegende Darstellung beides miteinander in Beziehung und erklärt eines aus dem anderen. Die Gemeinschaft von Qumran erweist sich so als ein fortgeschrittenes Entwicklungsstadium des von mir sogenannten ›biblischen Judentums‹, dessen Anfänge sich in der Entstehung der Hebräischen Bibel widerspiegeln“ (Reinhard G. Kratz S. 9 f.).
Demnach sind die einzelnen Schriften der Hebräischen Bibel, die parabiblischen Bücher und die Texte vom Toten Meer keine einheitlichen, statischen Größen, sondern als Ergebnis Zeugnisse eines lebendigen literarischen und theologischen Prozesses, in dem sich das biblische Judentum immer wieder aufs Neue selbst ausgelegt und definiert hat. Der literarische und theologische Prozess nahm nach Kratz seinen Ausgang bei einem Aufruf zur Umkehr und zur Hinwendung zur Tora des Mose. Dazu kam die Aneignung und Reformulierung der heiligen Geschichte des Gottesvolks ›Wir und unsere Väter vor uns‹, die Kommentierung der Propheten, der Diskurs über die Psalmen und die Anbetung Gottes und der weisheitliche Diskurs über das ›Geheimnis des Gewordenen‹ und die Erforschung von Himmel und Erde.
In seinem Schlusskapitel ›»Wir haben uns abgesondert«: Qumran im antiken Judentum‹ fragt Kratz, ob Qumran „eine religiöse Sekte, eine Sondergruppe und Minderheit im Judentum“ ist oder ob „die Gemeinschaft mit ihrer von der Tora auferlegten Absonderung von den Völkern die Mehrheit des Judentums“ repräsentiert, „von dem sich wiederum das frühe Christentum mit seiner vom Apostel Paulus propagierten Öffnung zu allen Völkern signifikant abgesondert hat“ (Reinhard G. Kratz S. 262). Der international renommierte und enorm produktive Forscher (vergleiche dazu https://www.uni-goettingen.de/de/veröffentlichungen/56090.html) kommt zum Ergebnis, dass sein Durchgang durch die Texte vom Toten Meer ein differenzierteres Bild ergeben hat. „Als Erstes wird man davon Abstand nehmen müssen, die Gemeinschaft von Qumran … als eine Einheit und gewissermaßen ein geschlossenes System zu begreifen. Vielmehr scheint sie … im Laufe des dritten bis ersten Jahrhunderts v. Chr. und darüber hinaus bis ins erste Jahrhundert n. Chr. eine historische und intellektuelle Entwicklung durchlaufen zu haben … Was wir in den Texten und ihrem literarischen Wachstum beobachten können, ist das Entstehen einer Gruppe, die aus der im späten vierten und vor allem im dritten Jahrhundert v. Ch. aufgekommenen Bewegung der Frommen‹ (Chasidim) hervorgegangen ist. Aus dieser Bewegung, die sich auch ›die Gerechten‹, ›die Erwählten‹, ›die Armen‹ usw. nennt und gegen andere, ›die Frevler‹, abgrenzt, sind im Laufe des zweiten Jahrhunderts v. Chr. eine Vielzahl ähnlicher, teilweise rivalisierender Gruppen entstanden, darunter auch die Essener und die Pharisäer. Die Verbindung zwischen den diversen Gruppen zeigt sich nicht nur an der Überlieferung der nachmals biblischen Schriften, den intertextuellen Referenzen … oder den konzeptuellen Schnittmengen zwischen den Texten vom Toten Meer und den antiken Berichten über die Essener. Sie lässt sich auch in dem … Statement ›Wir haben uns abgesondert‹ (oder ›wurden abgesondert‹) greifen“ (Reinhard G. Kratz S. 262 f.). Die Bezeichnung ›die Abgesonderten‹ ist wohl eine Fremdbezeichnung, „die die Opposition zu den herrschenden Eliten und eine Abspaltung von ihnen zum Ausdruck bringt“ (Reinhard G. Kratz S. 263).
Offen bleiben muss nach Kratz dagegen, wo und wie die Bewegung der ›Frommen‹ und die aus ihr hervorgegangenen religiösen Gruppen lebten, aus welchen Schichten der Gesellschaft sie stammten, wie sie organisiert waren, wie sie ihren Lebensunterhalt bestritten und woher sie die intellektuellen, finanziellen und materiellen Ressourcen hatten, um sich mit ganzer Hingabe der Überlieferung, Produktion und dem Studium der heiligen Schriften widmen und ein daran orientiertes Leben führen zu können. „Eine mögliche Analogie stellt das griechische Vereinswesen dar: Die Mitglieder der … über das ganze Land verstreuten religiösen Gruppen … führten ihr angestammtes Leben und kamen in privaten Häusern zusammen, um gemeinsam ihren religiösen Überzeugungen und Praktiken nachzugehen. Dieses Modell könnte auch erklären, dass sich unter den Mitgliedern sowohl Vertreter der intellektuellen Elite, Priester und Schreiber, als auch betuchte und weniger betuchte Normalbürger befanden … Ähnlich dürften die Anfänge des frühen Christentums ausgesehen haben … Ob daraus mit der Zeit feste Institutionen wie eigene Siedlungen zum gemeinsamen Leben und Schulen oder Lehrhäuser zum gemeinsamen Lernen und Beten erwuchsen, entzieht sich unserer Kenntnis“ (Reinhard G. Kratz S. 264).
„Die Stellung der Gemeinschaft von Qumran im Rahmen des antiken Judentums ist somit nicht leicht zu bestimmen. Weder handelt es sich … um eine isolierte Sekte, noch repräsentiert Qumran das Judentum, das es so ohnehin nie gegeben hat. In ihrem Selbstverständnis versteht sich die Gemeinschaft von Qumran zwar als das eine Israel oder Judentum, außer dem es kein anderes gibt. Als solches hat sie sich (oder wurde nach Maßgabe der Tora) sowohl von den Völkern als auch von den Teilen des eigenen Volkes ›abgesondert‹, die sich nicht der biblischen Überlieferung bzw. der von der Gemeinschaft daraus abgeleiteten Lehre verpflichtet fühlten … Tatsächlich aber stellte die Gemeinschaft … eine unter mehreren Gruppen einer marginalisierten Elite dar, die nicht zur Elite der samaritanischen oder jüdäischen Provinzverwaltung und ihrer beiden Hauptheiligtümer auf dem Garizim und in Jerusalem gehörte. Seit dem dritten und im zweiten Jahrhundert v. Chr. gelang es ihr, im Volk mehr und mehr an Boden zu gewinnen, bis die biblische Überlieferung … unter den Hasmonäern gewissermaßen zur Staatsdoktrin erhoben wurde und schließlich allgemeine Anerkennung fand … Zu den frühen Richtungen gehörte auch das frühe Christentum, das anfangs noch Teil des Judentums war und das rabbinische Judentum, das nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. die führende Rolle übernahm. Eine direkte Verbindung zwischen diesen beiden Richtungen des antiken Judentums und der Gemeinschaft von Qumran oder der Essener besteht nicht“ (Reinhard G. Kratz S. 268 f.).
Zwischen Jesus, dem frühen Christentum und der Gemeinschaft von Qumran gibt es dagegen viele Berührungspunkte, zu denen unter anderem die apokalyptische Naherwartung, die Hoffnung auf den Messias und den Anbruch des Reiches Gottes gehören. Weiter der Gedanke der Umkehr und Buße angesichts des kommenden Endgerichts und das Verständnis der Gemeinde als Tempel Gottes, in dem der Heilige Geist wohnt. „All diese und viele andere Berührungspunkte zwischen der Gemeinschaft von Qumran, Johannes dem Täufer und den frühen Christen beruhen nicht auf direkter Abhängigkeit, sondern auf strukturellen religionsgeschichtlichen Analogien im selben historischen Kontext des antiken Judentums der hellenistisch-römischen Zeit. Bei allen Gemeinsamkeiten waren die verschiedenen Gruppen, darunter auch Essener, Pharisäer, Sadduzäer und Zeloten Konkurrenten, von denen jeder für sich in Anspruch nahm, das wahre Israel und den richtigen Weg zum Heil zu repräsentieren“ (Reinhard G. Kratz S. 273).
ham, 21. März 2022