Aus dem Englischen von Bettina Vestring. Mit einem Vorwort von General a.D. Klaus Naumann

LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlags GmbH, München, 2022, ISBN 978-3-7844-3579-4, 408 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen, Format 23 x 15,5 cm, € 34,00

Der unter der Regie von Tomoharu Katsumata und Toshio Masuda entstandene, von Toel Animation produzierte und am 30. Oktober 1982 in die japanischen Kinos gekommene Film »FUTURE WAR 198X« imaginiert einen Konflikt zwischen den USA und der UdSSR, der in einem Atomkrieg endet und die ganze Welt zu vernichten droht (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Ende_aller_Tage). Die knapp vierzig Jahre später am 1. Juni 2021 in der Oxford University Press unter dem Titel »Future War and the Defence of Europe« veröffentlichte Studie fragt, ob die Ukraine-Krise nur der Anfang eines von Russland initiierten Angriffs auf das von Covid-19 gebeutelte Europa ist und ob die NATO Europa überhaupt noch verteidigen kann. „In Wahrheit ist das Kerngeschäft der NATO nicht Verteidigung, sondern Abschreckung. Hat die Abschreckung erst versagt, lautet die Antwort wahrscheinlich Nein. Die Corona-Krise hat die Herausforderung, vor der die Nato steht, nur noch deutlicher gemacht“ (John R. Allen, Frederick Ben Hodges, Julian Lindley-French S. 244).

Die Autoren John R. Allen, General a.D und ehemaligen Befehlshaber der ISAF-Truppen in Afghanistan (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/John_R._Allen), Frederick Ben Hodges, Generalleutnant a.D. der United Staates Army und Oberkommandierender der US Army Europe in den Jahren 2014 bis 2017 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Frederick_B._Hodges) und Julian Lindley-French, früherer Eisenhower Professor of Defence Strategy at the Netherlands Defence Akademy, leitendes Mitglieds des Instituts of Statecraft sowie Gründer und Vorsitzender der Alphen Group  (vergleiche dazu https://thealphengroup.home.blog/julian-lindley-french/) bezweifeln, dass die bisherigen Annahmen über die Organisation der Verteidigung Europas noch tragfähig sind. Damit stellen sie indirekt auch die Rolle der transatlantischen Beziehungen, der NATO, der Europäischen Union und ihrer sie konstituierenden Nationalstaaten auf den Prüfstand. Im Mittelpunkt steht eine radikale Vision einer zukünftigen technologiefähigen europäischen Verteidigung, die auf einer neuen Art von Atlantischer Allianz, einer innovativen strategischen öffentlich-privaten Partnerschaft und einer zukünftigen hyperelektronischen europäischen Streitmacht aufgebaut ist. Die Europäer sollten sich keine Illusionen machen: Wenn sie nicht viel mehr und ganz anderes für ihre eigene Verteidigung tun, könnte alles, was sie heute für selbstverständlich halten, in einem Labyrinth aus Hybridkrieg, Cyberkrieg und Hyperkrieg verloren gehen.

Die Studie beginnt mit einem fiktiven Worst-Case-Szenario im Jahr 2029 (vergleiche dazu und zum Folgenden John R. Allen, Frederick Ben Hodges, Julian Lindley-French S. 14 ff.): Europa hat die außenpolitische Lage seit Covid -19 nicht verstanden und seine Verteidigung weiter vernachlässigt. Die USA konzentrieren sich auf die chinesische Herausforderung; sie wissen, dass sie einem gleichzeitigen Konflikt in Europa und Asien nicht gewachsen sind. Der schlimmste aller denkbaren Fälle endet mit der Niederlage der USA in Europa und in Asien, dem Scheitern der Nato und dem Ende des Westens. Die Studie endet mit Vorschlägen zur Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit Europas und einem zweiten fiktiven Szenario: In ihm hat der Westen die richtigen Konsequenzen gezogen und kann deshalb die Krise meistern.

Vorher müssen aber zwei zentrale Fragen geklärt sein: Europa braucht erstens eine Antwort auf die Frage, wie Abschreckung in einer Lage erhalten und wiederhergestellt werden kann, in der der Gegner die »5D-D-Kriegsführung« anwendet, also die gleichzeitige, koordinierte und durchgeplante Nutzung von Desinformation, Deception (Täuschung), Disruption, Destabilisierung, Destruktion und die partielle Zerstörung. Dazu könnte noch ein sechstes D kommen: Disease, also absichtlich herbeigeführte Krankheit.

Die zweite Frage ist, wie ein solcher Krieg in einem Europa verhindert werden kann, in dem viele Europäer – und allen voran Deutsche – glauben, dass ein Krieg nicht mehr möglich und Putin bereit ist, auf eine Pufferzone vor Russland zu verzichten. Mit Putins Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk am 21. Februar 2022, seiner Anordnung einer Sonder-Militäroperation in den Regionen Luhansk und Donezk am 24. Februar 2022 und  Raketenangriffen auf militärische Ziele in der ganzen Ukraine und Angriffen unter anderem auf Kiew ist das von den Autoren vorhergesagte mögliche Negativszenario an der Ostflanke Europas schneller als erwartet Wirklichkeit geworden. Um so dringlicher wird die Frage, wie das westliche Europa in Zukunft an seiner Nord-, Ost- und Südflanke, bei einem Krieg aus dem Weltraum und einem KI-Krieg verteidigt werden kann und wie Terroranschläge wie die vom 11.September 2001, vom 7. Januar 2015 auf die Redaktion des Satiremagazins ›Charlie Hebdo‹ und vom 13. November 2015 auf die Konzerthalle ›Bataclan‹ in Paris › verhindert werden können.

„Die Verteidigungsstrategie im 21. Jahrhundert wird mindestens ebenso sehr von technologischen Entwicklungen bestimmt sein wie von der Politik, den finanziellen Mitteln und dem strategischen Umfeld. Eine glaubwürdige Verteidigung Europas  muss daher durch künstliche Intelligenz unterstützt werden  und das gesamte Konfliktspektrum eines künftigen Mosaikkriegs abdecken. Die Amerikaner bereiten sich bereits seit mehreren Jahren darauf vor. Sowohl die Nationale Verteidigungsstratege der USA von 2018 als auch das US Joint Artificial Intelligence System (JAIC) vom Juni 2018 stellen fest, dass KI den Charakter des Krieges verändern wird.

In Europa werden sich die Veränderungen bereits in zehn Jahren bemerkbar machen. Sollte es dann zu einem großen Krieg kommen, wird es bereits ein Hyperkrieg sein. Das bedeutet eine ultraschnelle Kriegsführung, bei der eine Vielzahl von Systemen kombiniert wird, um in kürzester Zeit Verwüstungen anzurichten. KI wird nicht als eigenständige Technologie eingesetzt, sondern mit maschinellem Lernen, Human Enhancement, genetischer Manipulation, Datenanalyse, Simulation, Verhaltenswissenschaft, Drohnentechnologien, quantenbasierten Sensoren, die die Tiefen des Ozeans und alles, was darin schwimmt, ausmachen können, Cyber-Kriegsführung, synthetischen Technologien und Nanotechnologie in Verbindung mit 3D-Druck, Hyperschallwaffen, intelligenten Waffen und unbemannten Kampfflugzeugen, die in Angriffsschwärmen zusammenwirken. Hinzu kommt dann noch die Nutzung von Big Data zur Schaffung einer synthetischen Realität als Grundlage einer besseren, zum Teil automatisierten Entscheidungsfindung. Einen solchen Krieg, bei dem alle diese Technologien eingesetzt werden, wird es nicht schon morgen geben. Aber Elemente davon werden nach und nach eingesetzt werden, und die Europäer werden sich dagegen wehren müssen“ (John R. Allen, Frederick Ben Hodges, Julian Lindley-French S. 271 f.). 

„Um glaubwürdig zu sein, muss die ganze Hyperabschreckung nachweislich in der Lage sein, das gesamte Mosaik abzudecken: vom hybriden Krieg, der KI, dem Cyberkrieg, der elektronischen Kriegsführung und dem Hyperkrieg bis zu den Domänen der Luft-, See-, Land-, Cyber-, Weltraum-, Nuklear-, Informations- und Wissenskriegsführung. Zugleich muss sie mit der Geschwindigkeit mithalten können, in der umfassende, interoperable Abschreckungseffekte Stufe um Stufe eskalieren. Sie muss die Resilienz verbessern, den Schutz kritischer Infrastrukturen stärken und die militärische Machtprojektion verbessern. Strategische Botschaften und öffentliche Diplomatie sind von zentraler Bedeutung für dieses radikal neue Abschreckungsmodell, das die Schwelle und die Kosten eines ›Erfolgs‹ für einen jeden Gegner erhöht und ihn in die Defensive zwingt“ (John R. Allen, Frederick Ben Hodges, Julian Lindley-French S. 276 f.).

Die Autoren fassen ihre Studie so zusammen: „Die europäische Verteidigung und Abschreckung werden davon abhängen, dass die Europäer eine voll einsatzfähige Streitmacht aufzustellen imstande sein werden, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. Sie muss über alle modernen Fähigkeiten zur Machtprojektion und zur eigenen Verteidigung verfügen und in der Lage sein, den amerikanischen und kanadischen Einsatzkräften einen sicheren Zugang zum und robuste Aufnahmekapazitäten auf dem europäischen Kriegsschauplatz zu bieten. Auch wenn es einem nicht gefällt: Angesichts der vielfältigen Bedrohungen durch Covid-19 und die künftigen Kriege ist dies einer der Momente in der europäischen Geschichte, in denen die Europäer auf die Erfordernisse für ihre Sicherheit und Verteidigung achten und mehr Geld dafür ausgeben müssen.

Europa muss lernen, groß zu denken, im Maßstab des Kriegs der Zukunft. Seine künftige Verteidigung hängt davon ab, denn kein Europäer kann sich mehr sicher sein, dass es in Europa nicht wieder zu einem großen Krieg kommt“ (John R. Allen, Frederick Ben Hodges, Julian Lindley-French S. 341).

Nach der Überzeugung der ökumenischen Christenheit soll Krieg nach Gottes willen nicht sein. Putins 1998 verstorbene Mutter Maria Iwanowna Schelomowa (1911–1998) verstand sich als russisch-orthodoxe Christin (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wladimirowitsch_Putin). Seit Anfang der 1990er Jahre ist Putin Mitglied der Russisch-Orthodoxen Kirche. Als inoffizieller Beichtvater Putins gilt Bischof Tichon ⟨vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Tichon_(Bischof,_1958)⟩. Man kann sich deshalb fragen, wie Putin seinen Krieg gegen die Ukraine und die dort zu erwartenden Toten vor seinem Beichtvater Tichon und vor Gott verantworten kann.

ham, 24. Februar 2022

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