Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg, Halle (Saale), vom 3. Oktober 2021 – 9. Januar 2022, herausgegeben von Christian Philipsen in Verbindung mit Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser

Band 23 der Schriften für das Kunstmuseum Moritzburg, Halle (Saale), herausgegeben von Christian Philipsen

E.A. Seemann Verlag, Leipzig / Kunstmuseum Moritzburg, Halle (Saale), 2021, 536 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 30,5 x 24,5 cm € 45,00

Neben Werner Tübke, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer gilt Willi Sitte als bedeutendster Maler der DDR. Als „Staatsmaler“, Kulturfunktionär und Mitglied des Zentralkomitees der SED war er nach der Wende verrufen. Seine Werke verschwanden im Depot und er wurde nur noch in Westdeutschland ausgestellt. Seine zu seinem 100. Geburtstag im Kunstmuseum Moritzburg Halle eingerichtete Überblicks-ausstellung ist nach ersten Retrospektiven in den Jahren 1971und 1981 und der 1982 von Dieter Ruckhaberle mit knapp 600 Werken in der West-Berliner Kunsthalle organisierten größten Einzelausstellung Willi Sittes schon lange überfällig. An der Rezeption des großteils in Halle entstandenen Werks lässt sich nach Thomas Bauer-Friedrich Sittes Kampf mit der Kulturpolitik der SED, sein Ringen um seine Ansprüche und sein Verständnis von Kunst erkennen.

Der 1921 in Kratzau, Böhmen, in einem kommunistischen Elternhaus geborene Sitte kam über eine Ausbildung als Textilmusterzeichner, die Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei in Kronenburg an der Eifel, seine autodidaktisch erarbeitete Zeichenkunst, seine Desertion aus der Wehrmacht und seinen Anschluss an den Partisanenkampf der Garibaldi-Truppen in Italien in die Laufbahn eines von der SED zeitlebens geförderten bildenden Künstlers (vergleiche dazu etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Willi_Sitte). Der Hochbegabte trat 1947 in die SED ein, wurde Mitarbeiter im Kulturausschuss des Landesverbandes der SED Sachsen-Anhalt und im Sommer 1947 nach Halle (Saale) berufen. Dort erhielt er eine Wohnung in der Von Arnim-Straße und erste Aufträge des SED-Landesverbandes. Am 30. September wurde er in der Kammer der Kunstschaffenden der Provinz Sachsen aufgenommen und zweiter Vorsitzender der Fachgruppe Bildende Künste, Arbeitszirkel für politische Schulung. Am 8. Dezember trat er in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund ein. 1950 und 1951 erhielt er Lehraufträge im „Zeichnen in allen graphischen Techniken“ an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle; 1959 wurde er dort zum Professor für Textilgestaltung berufen. Sein ›Ikarus-Gobelin‹ von 1958 wurde als „formalistisch“ (vergleiche dazu http://www.sepia-institut.eu/wp-content/uploads/2011/11/sepia_kurzdoku_der-hallesche-bildteppich.pdf) und sein ›Arbeiter-Triptychon von 1960 als „modernistisch“ kritisiert (vergleiche dazu https://www.kunstmuseum-moritzburg.de/museum-ausstellungen/sonderausstellungen/sittes-welt/galerie/). 

Am 2. Februar 1963 erschien seine Selbstkritik „Meine ganze Kraft dem sozialistischen Realismus“, in der er sich „voll und ganz zu den Beschlüssen“ seiner „Partei bekennt; denn nur von einem solchen parteilichen Standpunkt aus kann es möglich sein, über noch offene, noch nicht geklärte Probleme zu streiten, aber immer in dem Sinne, die Kunst in der DDR stärken zu helfen. Für die Erfüllung dieser Aufgabe will ich meine ganze Kraft aufwenden, die volle Entfaltung und endgültige Durchsetzung des sozialistischen Realismus in der Kunst mit meinen Möglichkeiten sichern zu helfen“ (Willi Sitte, zitiert nach ›Sittes Welt‹ S. 23). Nach diesem Bekenntnis beginnt sein rasanter Aufstieg: Von 1965 bis 1975 wird er unter dem Decknamen ›Guttoso‹ „Geheimer Informator“ der Stasi, 1969 ordentliches Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1972 Direktor der neu geschaffenen Sektion ›Angewandte Kunst‹ an der Burg Giebichenstein, 1974 –1988 Präsident des Verbands Bildender Künstler der DDR, 1976 Abgeordneter der Volkskammer. 1977 vertritt er gemeinsam mit Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Fritz Cremer und „Jo“ Jastarm die DDR auf der documenta 6 in Kassel. 1986 – 1989 ist er Mitglied des Zentralkomitees der SED.

Sein 1959 entstandenes und seit 1962 verschollenes Gemälde ›Lidice‹ (vergleiche dazu https://www.reimer-mann-verlag.de/controller.php?cmd=detail&titelnummer=101439&verlag=4), sein 1961 fertiggestelltes ›Memento Stalingrad‹, seine 1963 entstandenen ›Die Überlebenden‹ (vergleiche dazu https://www.bildatlas-ddr-kunst.de/item/12703) und sein 1966/67 gemalter ›Höllensturz in Vietnam‹ stehen für Sittes Erneuerung des Historienbildes in der DDR, seine 1959 fertiggestellte ›Arbeitspause‹ (vergleiche dazu http://deroptimiertemensch.de/arbeitspause/) und sein1967-69 konzipiertes ›Leuna 1969‹ für das Ideal sozialistischer Arbeit und ›Liebespaar im Badezimmer‹ von 1970 / 71 für seine Geschlechterkonstruktion. Während der friedlichen Revolution und bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zieht sich Sitte aus dem öffentlichen Leben zurück, sagt zahlreiche Ausstellungen in Ostdeutschland ab und spricht ein Ausstellungsverbot für Ostdeutschland aus. 1993 übergibt er einen Großteil seines schriftlichen Vorlasses an das Deutsche Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Nachdem der Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums einer Ausstellung ablehnend gegenübersteht und diese auf das Jahr 2003 verschiebt, untersagt er sie im Januar 2001 endgültig. Willi Sitte stirbt am 8. Juni 2013 im Alter von 92 Jahren.

Die zu Sittes 100. Geburtstag im Kunstmuseum Moritzburg in Halle gezeigte Retrospektive mit mehr als 200 Werken aus öffentlichen und privaten Sammlungen (vergleiche dazu https://www.kunstmuseum-moritzburg.de/museum-ausstellungen/sonderausstellungen/sittes-welt/hintergrund/ und https://www.kunstmuseum-moritzburg.de/kunst-erleben/digital-entdecken/virtuelle-rundgaenge/#collapseBox-23517) und der zu der Ausstellung erschienene bemerkenswerte wissenschaftliche Katalog (vergleiche dazu https://www.seemann-henschel.de/produkt/sittes-welt/) lassen seine persönliche Entwicklung und die seines Werks im Detail nachvollziehen und verstehen sich darüber hinaus als Beitrag zur Aufarbeitung des Kunst- und Kultursystems der DDR. 

ham, 2. Januar 2022

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