Aus dem Englischen von Susanne Held
Klett-Cotta / J.G.Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 2021, Zweite Auflage, ISBN: 978-3-608-98356-2, 619 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 23,2 x 15,8 cm, € 28,00 (D) / € 28,80 (A)
Es überrascht und irritiert, wie überlegt, flüssig und kenntnisreich der sich heute mutmaßlich als Agnostiker verstehende britische Schriftsteller Tom Holland den bleibenden Einfluss des Christentums auf die Entstehung des Westens in seiner zwischen zeitgenössischer Legenda aurea, informierter Kirchengeschichte und Literatur angesiedelten Historiografie zusammenfasst.
Gegen Ende seiner Darstellung erinnert Holland an seine 2009 verstorbene Patentante Deborah Gillingham, der er die Ernsthaftigkeit und Tiefe seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum verdankt. „Sie war ein engagiertes und frommes Mitglied der Church of England und nahm ihre Pflichten als meine Patentante äußerst ernst. Bei meiner Taufe hatte sie gelobt, darauf zu achten, dass ich im christlichen Glauben und Lebenswandel erzogen werde, und sie gab sich alle Mühe, ihr Wort zu halten. Nie erlaubte sie mir, zu vergessen, dass Ostern viel mehr bedeutet als nur Schokoladeneier … Sie kaufte mir meine erste Kinderbibel … Vor allem aber war sie für mich in ihrer unerschütterlichen Liebenswürdigkeit ein Vorbild dafür, was für einen engagierten Christen die tägliche Ausübung des Glaubens tatsächlich bedeutet … Im Lauf der Jahre …, als ich immer mehr über den eindrucksvollen Verlauf der Geschichte des Christentums las, über Kreuzzüge, Inquisition und Religionskriege, über Päpste mit fetten, juwelenberingten Fingern und Puritaner mit streng gerunzelter Stirn, und all die großen Erschütterungen, die das Christentum in die Welt brachte, da stellte ich fest, wie ich in ihr zunehmend einen Teil eben dieser Geschichte sah. Was bedeutet, dass auch ich ein Teil davon bin …
Ich habe in diesem Buch viel über Kirchen geschrieben, über Klöster und über Universitäten, doch nicht an solchen Stätten wurde die Masse des Christenvolks am einflussreichsten geprägt. In den allermeisten Fällen geschah es zu Hause, dass Kinder mit den revolutionären Lehren vertraut gemacht wurden, die im Lauf von zweitausend Jahren allmählich für so selbstverständlich gehalten wurden, dass man meinen konnte, sie entsprächen eigentlich der Natur des Menschen. Die Revolution des Christentums wurde vor allem auf dem Schoß von Frauen bewirkt … Der Erfolg des einflussreichsten Bezugssystems, dem Leben des Menschen Sinn zu verleihen, das es je gab, hing … immer von Menschen wie meiner Patentante ab: Menschen, die in der Abfolge von einer Generation nach der anderen mehr sahen als einfach nur den Gang des Irdischen. Sie hatte zwar keine eigenen Kinder, doch sie war eine Lehrerin … Als Christin glaubte sie … an etwas viel Größeres. Für die Römer war ein ›saeculum‹ die Grenze lebendiger Erinnerung gewesen: eine kurze, flüchtige Zeitspanne. Ein Baby kann vielleicht noch von seinen Urgroßeltern geherzt werden; letztlich aber muss Asche zu Asche und Staub zu Staub zurückkehren.
Ohne eine Dimension des Himmlischen sind alle Dinge vergänglich. Das wusste meine Patentante. Aber sie glaubte nicht, dass alle Dinge vergänglich sind. Sie hatte die Hoffnung auf das ewige Leben. Es war der Glaube, den sie von ihrer Mutter empfangen hatte, die ihn ihrerseits von ihren Eltern empfangen hatte, und diese ihrerseits wieder von ihren Eltern. Über die Generationen, über Jahrhunderte, über die Jahrtausende wurde dieser Glaube weitergegeben …: eine lebendige Tradition, die in einer ununterbrochenen Linie bis zur längst verschwundenen Zivilisation des römischen Imperiums zurückverfolgt werden konnte. Und diese Tradition hat meine Patentante mir weitergegeben …
Am Anfang war die grundlegende Revolution, die alles auslöste: die Revolution, die Paulus gepredigt hatte. Dann kamen die Nachbeben: im 11. Jahrhundert die Revolution, die das lateinische Christentum auf seinen folgenreichen Kurs brachte; die als Reformation erinnerte Revolution; die Revolution, die Gott tötete. Sie hatten alle ein identisches Merkmal: die Behauptung, mit ihrer Umklammerung jeden anderen möglichen Ansatz, die Welt zu verstehen, mit zu umfassen; den Anspruch auf einen Universalismus … Dass Menschen Rechte haben; dass sie gleich geboren sind; dass sie Lebensunterhalt und Schutz und Zuflucht vor Verfolgung beanspruchen dürfen: all dies waren nie selbstverständliche Wahrheiten.
Den Nazis war das sicherlich klar … Kommunistische Diktatoren waren vielleicht nicht weniger mörderisch als faschistische; doch weil der Kommunismus Ausdruck einer Sorge um die unterdrückten Massen war, wirken sie selten ebenso diabolisch auf die Menschen heutzutage. Von Rassismus motivierter Massenmord wird als sehr viel schrecklicher angesehen als Massenmord, der durch die Zielsetzung motiviert ist, ein klassenloses Paradies zu schaffen. An diesem Umstand kann man ablesen, wie christlich wir als Gesellschaft nach wie vor sind. Liberale glauben wahrscheinlich nicht an die Hölle, aber sie glauben noch an das Böse … Wenn der säkulare Humanismus sich … vom spezifischen Verlauf der Evolution des Christentums [ableitet] – einem Verlauf, in dem … Gott gestorben ist –, wie könnten seine Werte dann irgend etwas anderes sein als der Schatten eines Leichnams? Was sind die Grundlagen seiner Moral anders als ein Mythos?
Aber der Mythos ist ja keine Lüge. Im tiefsten Inneren kann ein Mythos … wahr sein. Christ sein bedeutet zu glauben, dass Gott Mensch wurde und einen so schrecklichen Tod erduldete wie kaum ein anderer Sterblicher. Deshalb bleibt das Kreuz, dieses uralte Folterwerkzeug, was es immer war: das angemessene Symbol der christlichen Revolution. Es ist die Kühnheit, in einem gequälten, zu Tode geschundenen Leichnam die Herrlichkeit des Schöpfers des Universums zu erkennen, die mit größerer Gewissheit als alles andere die schiere Befremdlichkeit des Christentums und der Zivilisation, die aus dem Christentum entstand, erklären kann. Heute ist diese Befremdlichkeit so einflussreich und lebendig wie eh und je. Sie drückt sich in den großen Bekehrungswellen aus, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in Afrika und Asien ausbreitete; in der Überzeugung von Millionen und Abermillionen Menschen, dass der Atem des Heiligen Geistes gleich einem lebendigen Feuer noch immer über der Welt weht; und in Europa und Nordamerika in den Einstellungen vieler weiterer Millionen, die nie auf die Idee kämen, sich als Christen zu bezeichnen. Sie sind alle Erben derselben Revolution: einer Revolution, die als ihr feuerflüssiges Herz das Bild eines am Kreuz zu Tode gefolterten Gottes hat“ (Tom Holland S. 549 ff.).
Deshalb kann Holland unter anderem eine direkte Linie von der Vorstellung, dass Gott Liebe ist, über Augustins Diktum „Liebe und dann tue, was du willst“ bis zu „All you need is love“ der Beatles ziehen (vergleiche dazu Tom Holland S. 503 f.) und von der Inkarnation Christi zu J.R.R. Tolkiens 1948 vollendetem ›Herr der Ringe‹: „Die Geschichte gipfelt im Sieg über Sauron. Im Lauf des Romans hatten dieser und seine Knechte nach einer entsetzlichen Waffe gesucht, einem Ring tödlicher Macht … Natürlich war Saurons größte Furcht, dass seine Feinde – die … den Ring gefunden hatten – diesen gegen ihn einsetzen würden. Doch das taten sie nicht. Stattdessen vernichteten sie den Ring. Wahre Stärke manifestiert sich … in der Bereitschaft, Macht aufzugeben. Daran glaubte Tolkien als Christ. Deshalb hat er im letzten Jahr des Krieges gegen Hitler diesen Krieg als zutiefst üble Angelegenheit beklagt … Auch wenn Tolkien schroff jede Unterstellung von sich wies, er habe ›Der Herr der Ringe‹ nach Ereignissen in seinem Land gestaltet, so hatte er diese Ereignisse doch mit Sicherheit durch die Brille seiner Schöpfung angeschaut. Die Welt der Konzentrationslager und der Atombombe war grundiert mit den Mustern eines fernen Zeitalters: einem Zeitalter, in dem Engel unmittelbar über den Schlachtfeldern geflogen und in Mittelerde Wunder geschehen waren. Es gab nur wenige Stellen im Roman, in denen sein zutiefst christlicher Grundton offen zum Ausdruck kam; wenn das jedoch geschah, dann umso bedeutungsvoller. Tolkien erklärte, der Sturz Mordors habe sich am 25. März ereignet: eben jenem Datum, an dem spätestens seit dem 3. Jahrhundert die Inkarnation Christi im Schoß Marias sowie seine spätere Kreuzigung angesetzt wurde“ (Tom Holland S. 500 f.).
Gleichwohl irritiert, dass Holland in der modernen Freiheitsgeschichte des Westens keinen Bruch mit ihrem Ausgangspunkt konstatiert: Er rechnet allenfalls mit ihrer evolutionären Verwandlung (vergleiche dazu und zum Folgenden Paul M. Zulehner, Die moderne Freiheitsgeschichte als Säkularisierung des Christentums. In: JCSW 18 (1977): 307 – 320; www.jcsw.de und Hermann Lübbe, Säkularisierung: Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 1965). In der ausgefeilten deutschsprachigen Diskussion erscheint die Moderne dagegen als durch und durch säkular, als nicht mehr christlich überwölbt und als nicht mehr mit einem „heiligen Schild“ bewehrt. Man geht zwar auch wie Holland davon aus, dass sich die Freiheits-, Gleichheits-, Gerechtigkeits- und Menschenrechtsvorstellungen der westlichen Moderne aus den Traditionen des Christentums speisen. Aber man stellt nüchtern fest, dass die Privatisierung der Religion die Transzendenzspannweite der Wissenswelt spürbar reduziert und die Welt zur säkularen Gestaltung freigegeben hat. Der 1967 verstorbene evangelische Theologe Friedrich Gogarten hat daraus den Schluss gezogen, dass die Welt Welt bleibt, auch wenn sie noch so mystisch oder religiös erscheint, Gott Gott und Welt und Gott sich nicht vermitteln lassen. Säkularisierung, Verweltlichung ist für ihn dann nichts Böses, sondern der durch den christlichen Glauben bewirkte Befreiungsprozess: Für Gogarten ist die Vernunft durch den Glauben zu sich selbst gekommen. Deshalb kann sie ihre Welt ohne jede religiöse Absicherung in eigener Hoheit gestalten. Und genau dies ist mithilfe der in aller Freiheit entwickelten neuzeitlichen Wissenschaft, Kultur und Technik auch geschehen (vergleiche dazu Friedrich Gogarten in einem Gespräch über die Säkularisierung, Göttingen 1967. In: https://kulturerbe.niedersachsen.de/piresolver?id=isil_DE-89_av-portal_12251 und Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, 1953).
ham, 24. September 2021