von: Reinhard Bachleitner unter Mitarbeit von Wolfgang Aschauer und Thomas Steinmaurer
Image Band 192, Transcript Verlag, Bielefeld, 2021, ISBN 978-3-8376-5677-0, 198 Seiten, 1 s/w-Abbildung, 8 Farbabbildungen, kartoniert,Dispersionsbindung, Format 22,5 x 14,8 cm, € 38,00
Wer regelmäßig Ausstellungen besucht oder selbst Ausstellungen organisiert und eröffnet, kennt die Spielregeln der Vernissage und ihre zentrale Rolle im System Kunst im Effeff. Und er weiß aus Gesprächen, was sie für die Besucher, Sammler, Galeristen, Museumsdirektoren, Kuratoren, Künstlern, Eröffnungsredner und Kulturpolitiker bedeuten kann. Deshalb verwundert es, wie wenig bisher in der deutschsprachigen Kunstsoziologie über Vernissagen geforscht worden ist. Die jetzt von dem zuletzt an der Universität Salzburg Kultursoziologie, empirische Methoden und Methodologien in der Soziologie und Tourismussoziologie lehrenden Emeritus Reinhard Bachleitner (vergleiche dazu https://www.researchgate.net/profile/Reinhard-Bachleitner) in Verbindung mit Wolfgang Aschauer (vergleiche dazu https://www.plus.ac.at/politikwissenschaft-und-soziologie/abteilung-soziologie-und-kulturwissenschaft/home-2/mitarbeiterinnen-2/aschauer-wolfgang/) und Thomas Steinmauer (vergleiche dazu https://kowi.uni-salzburg.at/ma/thomas-steinmaurer/) vorgelegte empirisch ausgerichtete kultursoziologische Studie schafft mit ihrer Integration von kunsttheoretischen und kunstsoziologischen Inhalten Abhilfe. Sie legt darüber hinaus im Detail dar, welche Methoden zu Bachleitners Annäherung an die Vernissage als Ritual und Inszenierung geführt haben.
Im Ergebnis erweist sich die Vernissage nach Bachleitner als „ein traditionsverbundenes, jedoch zugleich innovatives soziales und gesellschaftsbezogenes Ritual im aktuellen Kunstbetrieb. Der heute globalisierte Kunst- und Kulturbetrieb – insbesondere der von Museen, Galerien und Kunstmessen – setzt die Vernissage aufgrund ihrer Multifunktionalität nach wie vor als bevorzugtes Inszenierungsmittel und Instrument einer Eventisierung ein, da es vielfältige (auch ökonomisch motivierte) Möglichkeiten für die Öffentlichkeitsarbeit sowie für die Kundenbindungsprogramme ermöglicht bzw. diese unterstützt. Eingebettet ist dieser Prozess in gesellschaftliche Ästhetisierungsvorgänge, dem ›Kreativitätspostiv‹, welche für postmoderne Gesellschaften charakteristisch sind … Die Vernissage kann als ein sozial-ästhetisches Ritual aufgefasst werden, welches sich durch die konstituierenden Elemente wie Regelmäßigkeit, rhythmische Wiederholung, Stilisierung, symbolische Handlungen, einem fixen Beginn und Ende etc. auszeichnet. Sie erfüllt dabei vier Funktionen: eine sozial-kommunikative, eine wissensvermittelnde sowie eine breit strukturierte Wirkungsfunktion mit einer deutlichen ökonomischen Akzentuierung. Das ergibt für das soziale Gefüge einer Vernissage eine weitgehend fixe funktionale Dramaturgie mit Introitus und Abschluss“ (Reinhard Bachleitner S. 129 f.).
Die Anlage des Rituals lässt es zu, dass unterschiedlichste Persönlichkeiten ihren Auftritt haben, sich zwanglos begegnen und weitergehende Absprachen treffen können. Für das Gelingen einer Vernissage sind die dort herrschende Atmosphäre und die Fähigkeit des Einführungsredners entscheidend, das in der Kunst wahrnehmbare, aber nicht immer erkannte und erfasste Neue in Worte zu fassen, im Kontext der Kunst-und Kulturgeschichte zu verorten und auf aktuelle Fragestellungen zu beziehen. „Daneben ergeben sich Möglichkeiten für die Erkenntnisfähigkeit, die an das nicht rational Erfahrbare adressiert sind: Die Sinnlichkeit für Weltoffenheit sowie eine ästhetische Welterschließung wird aktiviert, auch wenn dies dem Einzelnen nicht immer in dieser Form bewusst sein dürfte. Affekte ausgelöst durch Wahrnehmung von Kunst werden aktiviert. Für dieses vielfältige sozial-emotionale und kommunikative Geschehen sind auch die Präsentationsästhetik, die Räumlichkeiten, in denen die Kunst selbst auftritt, bestimmend: Räume und Kunstwerke erzeugen Stimmungen, verändern Befindlichkeiten und lösen Affekte aus. Sie werden zur sozialen Bühne und zum Begegnungsort für das Publikum der Vernissage. Ästhetische Wahrnehmungsvorgänge – seien es die Kunstobjekte oder auch die Besucher selbst – sind Bestandteil in diesem Geschehen. Das ästhetische Dispositiv zeigt sich hier in seiner unvermittelbaren Form … Die Vernissage als raumästhetisch inszeniertes sozial-kommunikatives Erlebnis dürfte sich im Kunstbetrieb als unverzichtbar etabliert haben, ist sie doch eines der wenigen Ereignisse in der Kunstwelt, die den kurzzeitigen Zusammenhalt von Interessengruppen in einem gehobenen sozialen Rahmen ermöglicht“ und das Kunstinteresse als eine kollektive Vergewisserung und ästhetische Praxis in den Mittelpunkt rückt (Reinhard Bachleitner S. 130 f.).
Die Macht, die von einer Vernissage ausgeht, besteht wohl darin, dass ihre heterogenen konstitutiven Elemente – Einladungskarte, Plakat, Katalog, mediale Berichterstattung, Kunstpublikum, Organisationsteam, Präsentation des Künstlers, Präsentation der Kunstwerke, Ausstellungsräume, Auftritte der Begrüßungs- und Eröffnungsredner – so aufeinander abgestimmt werden und … gestaltet sind, dass sich spezifische ästhetische Atmosphären bilden, „die emotional faszinieren. Diese Wirkmächtigkeit, die daraus resultiert und die kontingent ausfällt, kann zu keinem anderen Zeitpunkt einer Ausstellung erreicht werden“ (Reinhard Bachleitner S.132).
ham, 28. August 2021