Publikation zur gleichnamigen Ausstellung von 15. August bis 25. Oktober 2020, herausgegeben von Frédéric Bußmann, Florin Matzner und Sarah Sigmund mit Texten der Künstler und Ravi Agarwal, Jeanette Brabenetz, Frédéric Bußmann, Regina Dathe, Frank Eckhardt, Florian Matzner, Vanessa Müller, Zeran Osman, Juliane Peil, Friederike Sigler, Sarah Sigmund, Samira Yildirim und Arbeiten der Künstlerinnen, Künstler und Kollektive atelier le balto, Nadja Buttendorf, Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová, Else Gabriel, Shilpa Gupta, Patricia Kaersenhout, Klub Solitaer e. V., Mischa Kuball, Philip Metz, Henrike Naumann, Olaf Nicolai, Observatorium, Ooze Architects & Marjetica Potrč, Lydia Ourahmane, Peng! Collective, Roman Signer, Weltecho, Anna Witt, Tobias Zielony, ZONA D (Eliza Goldox & Sandy Becker, gemeinsam mit: Tita Salina & Irwan Ahmett, Franziska Gerth, Rodrigo Andreolli & Gian Spina, Trakal, Samuel Georgy, Areej Huniti, Anna Zett, Ki Hyun Park, Noor Abed, Felipe Steinberg, Beatrice Schuett Moumdjian, Jafar Al Jabi, Julia Kiehlmann, Yvonne Buchheim, Omnia Sabry)
Die Stadt Chemnitz / Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020, ISBN 978-3-903320-00-0, 288 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe, Broschur, Format 31 x 24 cm, € 38,00
Chemnitz (von 1953 -1990 Karl-Marx-Stadt) hat sich nach der Reichsgründung 1871 durch den Dampfmaschinen- und Lokomotivenbau und die Textilindustrie zu einer der bedeutendsten Industriestädte Deutschlands entwickelt (vergleiche dazu und zum folgenden Chemnitz unter https://de.wikipedia.org/wiki/Chemnitz). Dass die Stadt für seine Textilindustrie, den Maschinen- und den Bergbau bekannt ist, ist kein Geheimnis. „Chemnitz kann und ist aber auch Kunst … So war Edvard Munch der Familienporträtist der Chemnitzer Textildynastie Esche. Die Künstlergruppe Brücke, die als Wegbereiter des deutschen Expressionismus gilt, hatte ihren Ausgangspunkt in Chemnitz, Karl Schmidt-Rottluff ist hier geboren, Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel gingen in Chemnitz zur Schule“ (Barbara Ludwig). Die Kunstsammlungen Chemnitz (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kunstsammlungen_Chemnitz) genießen den allerbesten Ruf. 2003 wurden sie für ihr Museumskonzept und 2010 als Museum des Jahres ausgezeichnet. Die parallel zu »Gegenwarten« gezeigte Ausstellung »Im Morgenlicht der Republik. 100 Jahre Kunstsammlungen Chemnitz« gibt einen profunden Ein- und Überblick über die Sammlung (vergleiche dazu https://www.kunstsammlungen-chemnitz.de/ausstellungen/jubilaeum/). Beide Ausstellungen fallen in den Zeitraum der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2025, die Ende Oktober 2020 zugunsten von Chemnitz entschieden wurde.
Die dem Konzept der »Skulptur Projekte Münster« vergleichbaren »Gegenwarten« unterstreichen mit ihrer inkorrekten Pluralbildung, dass es nicht einen Blick auf die Kunst einer Stadt gibt. Öffentlich ausgestellte Kunst führt in aller Regel zu Kontroversen und unterschiedlichen Deutungen. „In Deutschland gilt dies umso mehr für eine Stadt wie Chemnitz, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur sozialistischen Vorzeigestadt umgebaut werden sollte und nach verschiedenen Phasen des städtebaulichen Wandels als ein Herzstück der öffentlichen Propaganda und Zurschaustellung der Macht der SED an der Brückenstraße ein Ensemble aus Aufmarschstraße. SED-Bezirksregierung und einer monumentalen Büste von Karl Marx nach dem Entwurf des wichtigsten sowjetischen Staatskünstlers Lew Jefimowitsch Kerbel erhielt. Allerdings kam es in Karl-Marx-Stadt, dem späteren Chemnitz, um die Wende 1989/1990 nicht zu einem allumfassenden politischen Ikonoklasmus wie in vielen anderen Städten Europas, sondern man bewahrte die Zeugnisse der Diktatur. So ist in nur wenigen Städten in Deutschland die Bedeutung von Monumenten und Skulpturen, aber auch das Gewicht, die Last der Geschichte bis heute so deutlich zu spüren …“ (Frédéric Bußmann, Florin Matzner, Sarah Sigmund S. 11). Die an die 20 eingeladenen Künstlerinnen, Künstler und Kollektive gestellte Aufgabe war „und ist es, sich mit den Aspekten von Stadt und Gesellschaft in Chemnitz auseinanderzusetzen. Dies können historische, soziale, wirtschaftliche, politische städtebauliche oder kulturelle Fragen sein … Es wurde folglich ein Konzept entwickelt, Orte und Themen vorgeschlagen und damit die Rahmenbedingungen definiert, aber die Künstler❊innen sind frei in der Wahl der Orte und Anliegen auch jenseits der Vorschläge“ (Frédéric Bußmann, Florin Matzner, Sarah Sigmund S. 12).
Unter den Künstler❊innen setzen sich das Duo Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová mit dem über 7 Meter hohen Marxkopf (vergleiche dazu das Karl-Marx-Monument in Chemnitz https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Karl_Marx_memorial.jpg und https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-K1010-0007,_Chemnitz,_Karl-Marx-Denkmal,_FDJ_Versammlung.jpg) auseinander und erinnert mit seiner 15 x 8 x 2,2 Meter großen Fiberglasskulptur ›Der Darm‹ daran, dass es auch ein Bauchhirn gibt (vergleiche dazu https://www.facebook.com/Anetta-Mona-Chisa-Lucia-Tkacova-262597043916125/).
Else (Twin) Gabriel lässt den Marxkopf in der Tradition der Drückfiguren aus dem Erzgebirge wackeln (vergleiche dazu https://www.freiepresse.de/kultur-wissen/kultur/nach-diktat-ur-verreist-artikel11126470). Das Atelier Le Balto reaktiviert neun schon vorhandene Betonkübel, bepflanzt sie neu und schafft dazu vier benutz- und bespielbare Holzplateaus (vergleiche dazu https://www.lebalto-leblog.eu/tag/chemnitz/), Olaf Nicolai gibt Kompositionen für das Glockenspiel im Turm des Neuen Rathauses in Auftrag (vergleiche dazu Glockenturm und https://www.chemnitz.de/chemnitz/de/rathaus/das-chemnitzer-rathaus/carillon/index.html) und Roman Signer lässt einen ausgebeinten dunkelgrauen Skoda im Schlossteich versinken. Die beiden Scheinwerfer bleiben an (vergleiche dazu https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/kritik-zu-freilichtausstellung-gegenwarten-in-chemnitz-16927089.html und https://arttrado.de/news/vandalismus-umstrittenes-werk-von-roman-signer-beschaedigt/).
ham, 12. April 2021