Verlag C.H.Beck, München, 1. Auflage 2019, 3. Auflage 2020, ISBN 978-3-406-73946-0, 504 Seiten, 48 s/w-Abbildungen, 4 Karten, Hardcover gebunden mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Format 22,2 x 14,5 cm, 32,00 €
Die christliche Bibel ist in ihren unterschiedlichen konfessionellen Fassungen das meistverbreitete Buch der Welt. Bis ins 21. Jahrhundert sind weltweit etwa fünf Milliarden Exemplare produziert worden. Die Vollbibel liegt derzeit in 694 Sprachen vor, das Neue Testament in weiteren 1542 Sprachen. Damit haben etwa 5,7 Milliarden und schätzungsweise 79 Prozent der Menschen in ihrer Muttersprache Zugang zum Alten und neuen Testament (vergleiche dazu https://www.die-bibel.de/spenden/weltbibelhilfe/zahlen-und-fakten/). Aber die christliche Bibel ist alles andere als ein einheitliches Buch, ohne die jüdische Bibel nicht zu denken, in ihrem Umfang und in ihrer Gestalt in den unterschiedlichen Christentümern deutlich unterschieden und in ihrer Auslegung bis heute erheblich umstritten. Seit der Aufklärung, der kritischen Sichtung ihres literarischen Bestandes und ihrer historisch-kritischen Erforschung wird um die Bedeutung der Einsicht gerungen, dass sie ihren Schreibern nicht von Gott ins Ohr diktiert worden und damit nicht „heilig“, sondern in einem langen Zeitraum entstanden und in wesentlichen Teilen Literatur ist.
Die ältesten Schriften, die später zur hebräischen „Bibel wurden, entstanden in einem Umfeld, in dem Texten keine nennenswerte religiöse Funktion zukam. Die Erzählungen, Sprüche, Lieder und Gebete aus dem 9. und 8. Jahrhundert v. Chr., die auf kritischem Weg aus der Bibel rekonstruiert werden können, waren Literatur, aber nicht Heilige Schrift. Dazu entwickelten sie sich erst in einem längeren Prozess“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 74). Zu den ältesten Texten der Bibel zählt das zuerst mündlich überlieferte und nach der Entwicklung der hebräischen Schriftsprache wohl ab dem 9. vorchristlichen Jahrhundert verschriftlichte sogenannte Debora-Lied in Richter 5 „Lobet den Herrn, dass Führer Israel führten, dass willig sich zeigte das Volk. Hört zu, ihr Könige, merkt auf ihr Fürsten, ich will singen dem Herrn, ich will singen, will spielen dem Herrn, dem Gott Israels“, zu den jüngsten der zweite Petrusbrief aus dem Anfang oder der Mitte des 2. Jahrhundert nach Christus.
„In Israel und Juda pflegte man in der Zeit vor dem babylonischen Exil eine Kultreligion, die zunächst an die lokalen Heiligtümer im Land gebunden war und den Kontakt zur Gottheit mittels Opfern, Gaben und Gebeten herstellte. In spätvorexilischer Zeit, im ausgehenden 7. Jahrhundert v. Chr., wurden die kultischen Aktivitäten in Juda auf den einen Tempel in Jerusalem zentriert. Die Bibel stellt diesen Vorgang als die Kultreform Josias dar (vgl. 2. Könige 22 f.). Natürlich hatten auch religiöse Texte ihren Ort in diesem Kult, doch sie dienten weder zu dessen Grundlegung noch zu dessen Normierung. Vielmehr waren sie, ähnlich wie Tempelgeräte, Teil der kultischen Handlungen. Ein Beispiel findet sich in Psalm 24, 7–10:
›Erhebt, Tore, eure Häupter, und werdet hoch, Eingänge der Ewigkeit, und es ziehe ein der König der Herrlichkeit. Wer ist der König der Herrlichkeit? Jhwh, der starke Held, Jhwh, der Held des Krieges. Erhebt, Tore, eure Häupter, erhebt euch, Eingänge der Ewigkeit, und es ziehe ein der König der Herrlichkeit. Wer ist der König der Herrlichkeit? Jhwh Zebaot, er ist der König der Herrlichkeit‹
Dieser Psalm … beschreibt eine Prozession – den Einzug Gottes in sein Heiligtum –, der von einem kultischen Wechselgesang begleitet wird. Die Bildwelt des Psalms legt nahe, dass Gott in der Form einer Kultstatue vorgestellt ist. Die Frage, ob eine solche Statue für das Jerusalemer Heiligtum wirklich vorauszusetzen ist, ist stark umstritten und wird wohl dauerhaft ungeklärt bleiben“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 74 f.). Dass es Gottesbilder im antiken Israel und im Juda der Königszeit gab, ist dagegen unbestritten.
Wichtige Stationen auf dem Weg der Verschriftlichung der mündlichen Traditionen Israels und Judas waren die Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels im Jahr 587 v. Chr. und die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. „Mit dem Verlust des zentralen Kultorts bildeten sich die Grundlagen einer nicht auf den Kult angewiesenen Religion aus. Die Zeit des sogenannten ›babylonischen Exils‹ war von grundlegender Bedeutung für die Entstehung der Bibel“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 76). Zur Schriftreligion, in deren Zentrum allein das Studium heiliger Texte stand, wurde das Judentum aber „erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. durch die Römer. Mit dem Ende des Opferkultes am Tempel verlagerte die Religion sich ganz in das Studium und das Zelebrieren der Schrift. Erst in dieser Zeit entstand auch die Vorstellungen einer Bibel als einer abgeschlossenen, verbindlichen Schriftensammlung … Zuvor standen ihre Texte, Schriften und Bücher wohl in religiösem Gebrauch, doch neben ihnen gab es auch andere Dokumente. Eine scharfe Trennung zwischen biblischer und nichtbiblischer Literatur war damals nicht vorhanden, denn die Bibel gab es noch nicht“ (Konrad Schmid, Jens Schröter. a. a. O.).
Vergleichbares gilt für das frühe Christentum. „Eine christliche Gemeinde besaß im 2. oder 3. Jahrhundert vielleicht ein Manuskript mit dem ›Evangelium nach Matthäus‹ und dem ›Evangelium nach Lukas‹, ein weiteres mit einer Schrift, die ›Geburt Marias‹ hieß (das später sogenannte ›Protoevangelium des Jakobus‹), die Briefe des Paulus an die Römer, die Korinther und an die Epheser, ein Exemplar des 1. Petrus- und des 1. Johannesbriefes, eines der Apostelgeschichte, eines der Didache und eines des Hirten des Hermas. In einer anderen Gemeinde kann der Bestand anders ausgesehen haben … Das ›Neue Testament‹ war demnach zunächst kein Buch, sondern eine Bezeichnung für solche Schriften, die das verbindliche Zeugnis des Glaubens an Jesus Christus zum Ausdruck bringen. Auf die Frage, welche Schriften genau dies sind, hätte man im 2. Jahrhundert unterschiedliche Antworten erhalten … ›Altes Testament‹ und ›Neues Testament‹ waren … für längere Zeit vor allem inhaltliche Charakterisierungen für die Schriften Israels bzw. für das Zeugnis des Christusglaubens, bevor sie Bezeichnungen für die Sammlungen der entsprechenden Bücher wurden. Dass die vier Evangelien, das Corpus Paulinum, die Apostelgeschichte und die ›katholischen Briefe‹ sowie schließlich die Johannesoffenbarung miteinander das ›Neue Testament‹ bilden sollten, lässt sich also vor allem darauf zurückführen, das in diesen Schriften das für den christlichen Glauben verbindliche Zeugnis über Jesus und die Apostel gesehen wurde. Zur Entstehung des Neuen Testaments gehört deshalb auch eine Vorstellung davon, was der wesentliche Gehalt des christlichen Glaubens sei. Dieser Inhalt wurde in der ›Glaubensregel‹ zusammengefasst, die einen ›Maßstab‹ oder eine Richtschnur bildete, nach der sich das christliche Leben vollzieht“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 349 f.).
Zum Konzept von abgeschlossenen Bücherlisten für die jüdische und die christliche Bibel kommt es in den wechselseitigen Abgrenzungs- und Ausdifferenzierungsprozessen von Judentum und Christentum in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. „Jesus war Jude, die ersten Christen bildeten eine Sondergruppe in einem Judentum, dessen Identität um die Zeitenwende so vielfältig war, dass sich in der angelsächsischen Forschung die Rede von ›Judaisms‹, also ›Judentümern‹ eingebürgert hat. Apokalyptische Schriften wie die Henochliteratur sind von den späteren Grundüberzeugungen des rabbinischen oder klassischen Judentums weit entfernt. Der zentrale Offenbarungsträger ist nicht Mose, sondern Henoch … Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 reduzierte sich die Vielgestaltigkeit des antiken Judentums erheblich … Fragt man nach den maßgeblichen Überlieferungen, die Unterschiede zwischen den Religionen markieren, ist für das Judentum vor allem die Vorstellung einer mündlichen Tora zu nennen: Nur das Judentum kennt neben der schriftlichen Tora auch die mündliche Tora Gottes, die Mose am Sinai gegeben worden war und nun in der Mischna in schriftlicher Form zugänglich ist. Wahrscheinlich hat auch die Betonung dieser Differenz zum Christentum dazu geführt, dass in der religiösen Praxis des Schriftstudiums Mischna und Talmud vor die Bibel treten konnten“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 374 ff.).
Umgekehrt wurde das Alte Testament im Christentum in der Überzeugung gelesen, dass es auf Jesus als den Christus verweist und es deshalb keiner theologischen Überarbeitung bedarf. „Im Christentum herrschte die Überzeugung, dass sich Gott in Jesus Christus in neuer Weise offenbart hat, dass also ein personales Offenbarungsgeschehen im Zentrum steht und nicht ein in Umfang und sprachlicher Gestalt fixierter Text. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass die christliche Bibel nicht in der Weise zu einem Buch mit festem Umfang und bestimmter sprachlicher Gestalt wurde, wie es bei der hebräischen Bibel im rabbinischen Judentum der Fall war. In den christlichen Konfessionen konnten sich vielmehr unterschiedliche Gestalten der Bibel herausbilden, deren Kernbestand zwar deutliche Überschneidungen aufwies, an den ›Rändern‹ aber offen war. Entscheidend war und ist nicht der Text als solcher, sondern sein Verständnis in der Gegenwart“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 376).
Wie kann dann aber ein angemessener Zugang zur Bibel aussehen, der ernst nimmt, dass sie das „Ergebnis vielfältiger jahrhundertelanger Entwicklungen ist; dass sie kein einheitliches Dokument ist, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf den Gott Israels und sein Handeln in der Geschichte widerspiegelt; dass sie schließlich eine reiche Wirkungs- und Auslegungsgeschichte in Gang gesetzt hat, die Juden und Christen im 21. Jahrhundert im Blick haben sollten, wenn sie die Bibel auslegen, verstehen, mit ihr und aus ihr leben wollen? In der Neuzeit gilt als Konsens, dass es nicht den einen festen Sinn ›der Bibel‹ gibt, sondern dass unterschiedliche Interpretationen biblischer Texte nebeneinander stehen, ohne dass immer klar gesagt werden kann, welche ›die richtige‹ ist … Weder die Lehrautoritäten noch die historisch-kritisch arbeitende Bibelwissenschaft können die Bedeutung der biblischen Texte eindeutig festlegen … Die kritische Bibelwissenschaft kann nur zeitbedingte, dem jeweiligen Kenntnisstand sowie der kulturellen und religiösen Sozialisation ihrer Interpreten entsprechende Auslegungen der Bibel hervorbringen keine unumstößlich für alle Zeit geltende …
Eine Konsequenz aus dieser Einsicht lautet, dass die historische Kritik weder den jüdischen noch den christlichen Glauben begründen kann. Aber historisches Wissen … dient dazu, die biblischen Inhalte besser zu verstehen und Vorurteile abzubauen … Somit kommt der historischen Kritik eine aufklärerische und zugleich eine ethische Funktion zu“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 401 ff.). Unter anderem auch deshalb sollte man sich mit diesem neuen Standardwerk der Bibelwissenschaften auf den neuesten Stand der Forschung bringen. Dass biblische Texte von frühester Zeit bis heute von Juden und Christen in ihren Gottesdiensten gesungen, rezitiert, ausgelegt und in rituelle Handlungen eingebunden werden, zeigt eine andere Form der Bibelrezeption. „In dieser Hinsicht stellt die Bibel als ›kanonische Urkunde‹ bis in die Gegenwart hinein die Grundlage von Judentum und Christentum dar, die aus diesen und mit diesen Texten leben und sich in wechselnden historischen Situationen an ihnen orientieren. Das setzt voraus, dass die Bibel nicht mehr als abgeschlossenes Buch der Antike, sondern als eine Sammlung vielfältiger Texte wahrgenommen wird, die immer wieder fortgeschrieben und in verschiedener Weise ausgelegt werden können. So hat sie sich zum ›Buch der Bücher‹ entwickelt“ (Konrad Schmid, Jens Schröter S. 412).
ham, 27. Februar 2021