DuMont Buchverlag, Köln, 2020, ISBN 978-3-8321-9986-9, Neuauflage der 2013 erschienen gleichnamigen Erstauflage,184 Seiten, ca. 150 farbige Abbildungen, Hardcover gebunden mit rosafarbigem Vorsatz, Format 18 x 22,8 cm, € 20,00
Im deutschen Bauplanungsrecht regelt das Baugesetzbuch (BauGB) die Gestalt, Struktur und Entwicklung des besiedelten Raums und die „Bewohnbarkeit“ der Städte und Dörfer; Baugenehmigungen werden nach dem Einreichen der Bauanträge durch die unteren Bauaufsichtsbehörden erteilt, wenn den Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Die Einzelheiten des Verfahrens legt die Bauordnung der Länder bis ins einzelne Detail fest. Für Nichtfachleute ist die Vielzahl der Verfahrensregeln kaum zu überschauen. Trotz oder womöglich auch wegen der Vielfalt der im Bundesbaugesetz und in den Landesbauordnungen vorgegebenen Vorschriften kommt es immer wieder zu Bausünden, die in den Medien oftmals als architektonische Katastrophen oder Schandflecken gebrandmarkt werden.
Für die Architekturhistorikerin, Urbanistin, Gründerin der Stadtdenkerei und Baukunstvermittlerin Turit Fröbe ist die klassische deutsche Bausünde gleichwohl besser als ihr Ruf. „Denn Bausünde ist nicht gleich Bausünde. Manches, was landläufig als Bausünde bezeichnet wird, ist nur aus der Mode gekommen, einiges ist bereits als Fehlplanung entstanden, und anderes ist erst nachträglich durch Anbauten, Überformung, Anstrich oder Dekoration in den Stand der Bausünde erhoben worden … Je mehr Ablehnung und Unverständnis sie beim Betrachter auslöst, je größer ihr Störfaktor im Stadtbild, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich entweder um die Spektakelarchitektur eines Stararchitekten oder um eine gute Bausünde handelt. Eine gut gemachte, originelle Bausünde zeichnet sich durch Mut, Einfallsreichtum und eine beherzte Entschlossenheit aus. Sie verfügt über eine herausragende Bildqualität und hebt sich souverän aus dem unendlichen Meer der gesichtslosen, allgegenwärtigen Banalitäten ab, da sie eine gute Wiedererkennbarkeit garantiert und bei genauerer Betrachtung sogar eine gewisse Schönheit und einen ureigenen Charme besitzt“ (Turin Fröbe S. 7 f.).
In ihrem Nachtrag zur Neuausgabe von 2020 zählt Fröbe die „Bushaltestelle für Riesen“ an der Kölner Domplatte (vergleiche dazu das Video „Bushaltestelle Dom/HBF – Trankgasse, Köln“ vom 09.01.2014), die Humboldt-Box am Schlossgarten in Berlin (vergleiche dazu https://www.berlin.de/sehenswuerdigkeiten/3561904-3558930-humboldt-box.html) und die Attrappe von Schinkels Bauakademie (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=schinkel+bauakademie+wiederaufbau&sxsrf=ALeKk00dzqPG-RvdIxH8x4QXZ8sbE68v1g:1604332241323&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwi5xuGqm-TsAhXE_KQKHYD4DsMQ7AkoAXoECAoQCw&biw=1455&bih=917) zu den prominentesten Bausünden, die seit 2013 bedauerlicherweise abgerissen worden sind.
Ein besonderes Anliegen ist es ihr, die Stadt Mönchengladbach zu rehabilitieren: Bei ihrem ersten Besuch hat sie aufgrund des Museums Abteiberg von Hans Hollein besondere Erwartungen an die Stadt geknüpft und sie deshalb besucht. Danach hat sie „leichtfertig als ›vollkommen nichtssagende und gesichtlose Stadt verunglimpft‹“, weil sie sich für sie „als hochgradig bausündenfeindlich“ erwiesen hatte und konsequent im Bereich des unteren Mittelmaßes geblieben ist (vergleiche dazu Turit Fröbe S. 180 und https://www.google.de/search?q=museum+abteiberg+hans+hollein&sxsrf=ALeKk00LBO3ZmFPLHi_q9tMMWW-7PzkHig:1604332720359&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwjqzpePneTsAhWusKQKHTN8DOQQ7AkoAXoECAkQCw&biw=1455&bih=917): Zwischenzeitlich ließ sie sich eines Besseren belehren und berichtet, dass „Mönchengladbach sehr wohl mit Bausünden aufwarten kann … Heute ist mir klar, dass mein Urteil vorschnell und zu hart war. Wie ich ungefähr sechs Jahre später bei Stippvisiten in zwei oder drei Wohngebieten feststellen konnte, haben sich die Bürgerinnen und Bürger der Kritik mit vereinten Kräften entgegengestellt und die Sache selbst in die Hand genommen. Der Effizienz halber hat ein Großteil der Nachbarschaften auf schnell realisierbare Instant-Gestaltungen gesetzt: Schottergärten … von feinkörnig bis grob“ (Turit Fröbe S. 180 f.; vergleiche dazu https://mg-heute.de/vielfalt-statt-schotter/ und https://rp-online.de/nrw/staedte/moenchengladbach/moenchengladbach-bund-protestiert-gegen-schottergaerten-beschluss-bei-bezirksregierung_aid-48611283).
Zu den weiterhin bestehenden guten Bausünden zählt Fröbe das Alexa in Berlin, das an die Art déco erinnern und an die unbeschwerten Zwanzigerjahre anknüpfen soll (vergleiche dazu https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g187323-d4750379-Reviews-Alexa-Berlin.html), und weiter die Karstadt-Filiale in der Poststraße in Braunschweig (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=karstadt+filiale+braunschweig+in+der+Poststra%C3%9Fe&sxsrf=ALeKk005a-OdeSMS5-mz2ElffCGB4-HrOQ:1604334259639&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=eFYVkb_Gpx90HM%252Czq_fK0BqM3JjnM%252C_&vet=1&usg=K_ofl90A2
=eFYVkb_Gpx90HM). Für unverzeihlich hält sie Planungsunfälle wie die Autobahn, die durch ein Wohngebiet geführt wird, den unüberschaubaren Fußgängertunnel in Weimar, der den Bahnhofsvorplatz mit dem Areal hinter der Bahnanlage verbindet und zu dessen Durchquerung man gefühlte zwanzig Minuten braucht und das Außengelände einer Kindertagesstätte in Charlottenburg an einer dreispurigen Durchgangsstraße.
Rätsel geben ihr die sparsam geöffnete Fassade der Ansgar Kirke von 1968 in der Flensburger Nordstadt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ansgar_Kirke_(Flensburg) und der „Bierpinsel in Steglitz“ auf, der einst euphorisch als Pop-Art begrüßt worden ist und heute zu den bildgewaltigsten Bausünden der Stadt zählt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=bierpinsel+in+steglitz&sxsrf=ALeKk00zgCWUBLaP6vSvSha4yTqb67w6Yg:1604335668933&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir
Aus der Mode gekommen ist unter anderem das „Elefantenklo“ in Gießen, ein Relikt der autogerechten Stadt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?sxsrf=ALeKk00u4djiYEY8MBfXQVCeuFRSl7d1sw:1604335862562&source=univ&tbm=isch&q=elefantenklo+in+gie%C3%9Fen&sa=X&
ved=2ahUKEwiTxcDpqOTsAhVD_qQKHT_uCjAQjJkEegQIBBAB&biw=1455&bih=917). Und schließlich können die gelbe Quietschente und die bunten Bauklötzchen von Wolfgang Flatz die nachträgliche Verwüstung der vormals gelungenen Fassadengestaltung eines Einkaufszentrums in Unterhaching nicht mehr wirklich vergessen lassen (vergleiche dazu http://www.artcollector-magazin.de/2015/11/20/kunst-im-kaff/).
Schon die erwähnten Beispiele zeigen, dass es sich lohnt, sich auf Turit Fröbes „Kunst der Bausünde“ einzulassen. Die Lektüre macht Spaß, irritiert und lässt einen danach sehr viel achtsamer durch eigene und fremde Städte und Dörfer gehen.
ham, 2. November 2020