Verlag C.H.Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-74235-4, 824 Seiten, 59 Abbildungen, darunter 2 in Farbe, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 22,2 x 15 cm, € 34,00, 2. Auflage 2020
Der bei Hans-Georg Gadamer über ›Hegels Jugendschriften und die Idee der Phänomenologie des Geistes‹ habilitierte Hegel-Kenner Otto Pöggeler hatte Klaus Vieweg schon 1999 ermutigt, sich einer neuen Hegel-Biographie zuzuwenden, aber gleichzeitig angemerkt, dass das eine langwierige Sache werden könnte. Den entscheidenden Anstoß erhielt er dann aber von dem durch seine Arbeiten über den deutschen Idealismus, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Hölderlin bekannten und bei Gadamer promovierten Philosophen Dieter Henrich. Vieweg hat an seiner wohl auf Jahrzehnte hinaus bemerkenswerten Hegel-Biografie nicht weniger als fünf Jahre gesessen. Ihre Erstauflage ist 2019 und damit rechtzeitig zu Hegels 250. Geburtstag am 27. August 1770 erschienen. Sie führt in sein Denken und die geistige Großwetterlage seiner Zeit ein, stellt seinen für heutige Verhältnisse riesigen Freundes- und Bekanntenkreis vor und verschweigt auch nicht sein Interesse an schönen Frauen und seine Vorliebe für guten Wein.
Vieweg setzt mit Hegels Stuttgarter Kindheit und Jugend ein (vergleiche dazu auch https://stuggart.de/2017/12/besuch-im-hegel-haus-in-stuttgart/) und fasst die ersten Jahre in Anlehnung an Hegels spätere Worte so zusammen: „Man sah den jungen Wilhelm zum ersten Kennenlernen des Reiches des Wissens hinausreiten, zunächst sammelnd, gefolgt von der ersten tastenden, aber schon selbstbewussten Orientierung in Wissenschaft, Religion und Kunst und deren Problemlagen. Das Spektrum seiner Interessen reicht von Moralität und Glückseligkeit, über Kultur und Natürlichkeit, Einsamkeit und Geselligkeit bis hin zur Geschichte sowie zum Verhältnis von Bildung und Volksreligion, das ins Zentrum seiner ersten schriftlichen Äußerungen rückt. Aber gerade diese Beziehung zur christlichen Religion gestaltet sich nicht zuletzt aufgrund der Lektüre eines Rousseau als höchst problematisch für den jungen Hegel. Aus seiner Sicht habe der Mensch zwischen Gutem und Bösem zu wählen, der Irrtum der Heiden, die den Zorn der Götter durch Fasten und Opfer zu beschwichtigen suchten, finde sich auch bei vielen Christen […]. Wilhelm schließt das ›Gymnasium Illustre‹ zwar als Klassenerster ab, es wird ihm herausragendes Talent in allen wichtigen Fächern bescheinigt, aber seine Defizite beim Sprechen und Predigen werden unmissverständlich benannt. Diese Einschätzung war natürlichein desillusionierender Dämpfer für den Primus und eine erhebliche Hypothek für den vorgezeichneten Pfarrerberuf“ (Klaus Vieweg S. 55).
Im als ›Pflanzschule‹ der württembergischen Pfarrer und Gelehrten geltenden Evangelischen Stift in Tübingen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelisches_Stift_Tübingen) werden die Studierenden ständig ›lociert‹, das heißt geprüft und nach ihren Leistungen und ihrem Verhalten eingestuft. Promotionsbester in Hegels Studienjahrgang 1788 ist Carl Christoph Renz; Hegel steht im Revolutionsjahr 1789 auf Platz 5, Hölderlin auf Platz 8. Mit Hölderlin und Schelling wird er im Stift die Augustinerstube im östlichen Teil des zweiten Stockwerks teilen. Der souveräne Umgang des Dreigestirns mit den griechischen Klassikern steht für die herausragende Bedeutung der Sprachausbildung; dazu kommen der Erwerb von Wissen über die menschliche Natur, die Vernunft, die Religion, die Philosophie, die Mathematik und die selbstgewählten Studien der Stiftler. Man liest Schillers Dramen und Gedichte, den ›Contrat social‹ von Rousseau, die Schriften Spinozas und Kants, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Zeitungen aus dem Paris der Revolution. Den Freiheitsbaum, den die revolutionsbegeisterten Stiftler aufgestellt und um den sie getanzt haben sollen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheitsbaum, https://georgdoerr.files.wordpress.com/2010/01/g-doerr-idealismus.pdf und https://www.welt.de/wams_print/article776836/Hegels-wilde-Jahre-in-der-Philosophen-WG.html), erwähnt Vieweg nicht, dafür aber, dass Hegel später an jedem 14. Juli mit einem Glas Champagner auf die mit dem Sturm auf die Bastille anhebende ›Morgenröte der Freiheit‹ angestoßen hat. Hegel sieht in dieser „Revolution der Franzosen ein ›echt philosophisches Schauspiel‹, das Schauspiel, wie ein Staat aus der Idee des Staates, aus seinem Begriff in die Welt trete […]. Die Revolution ist sein politisches Grunderlebnis […]. In dem Gedanken, daß Freiheit das Recht für alle Menschen ist, liegt für Hegel der weltgeschichtliche Sinn der Revolution“ (Klaus Viehweg S. 67). „Ein Freund schreibt in Hegels Stammbuch: ›Was schätzt man höher noch als Gold? Die Freiheit!‹“ (Klaus Vieweg a. a. O.). Ein Mitstudent aus dem linksrheinischen Mömpelgard „verewigt sich […] mit dem Spruch: ›Wenn es eine Regierung von Engeln gäbe, dann würden sie sich demokratisch regieren‹. Und er fügt als Motto hinzu; ›Freiheit denken‹“ (Klaus Vieweg S. 69).
Dieses Motto gilt auch für Hegels Umgang mit der am Ende des 18. Jahrhunderts in Tübingen gelehrten supranaturalistschen Theologie. „Gegen die objektive Religion der Kompendientheologie, die Hegel mit dem Naturkabinett aus toten Pflanzen und Tieren vergleicht […], stellt er erstens die natürliche und lebendige Religion nach Rousseau, die sich auf Herz und Gewissen stützt, sowie zweitens die griechische Phantasiereligion. Die Volksreligion, so eine Schlüsselstelle des jungen Intellektuellen, ›geht Hand in Hand mit der Freiheit‹. Die objektive Religion hingegen ›will die Menschen zu Bürgern des Himmels, deren Blik immer aufwärts gerichtet ist, erziehen, und darüber werden ihnen menschliche Empfindungen fremd“ (Hegel nach Klaus Vieweg S. 90). Zur Freiheit gehört für Hegel auch die eingehende Beschäftigung mit dem Skeptizismus und der Notwendigkeit der Trennung von Staat und Kirche.
Nach dem Studium entscheidet sich Hegel nicht für das Predigtamt, sondern für die Wissenschaft und veröffentlicht nach Hauslehrerstellen in Bern und Frankfurt 1801 in Jena seine erste philosophische Publikation zur Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. In einem Fragment hält er im Sommer 1803 erste Konturen des Begriffs des Absoluten Geistes fest, der zum Herzstück seines Theoriegebäudes werden wird: „Der Geist ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn; ein aus dem vernichten herkommen und so in diesem idealen Elemente, dem Nichts, das er sich bereitet hat, sich frey zu bewegen und zu geniessen. Der Geist ist nur das Aufheben seines Andersseyn; diß andere, als er selbst ist, ist die Natur; der Geist ist nur das sich aus diesem Andersseyn zu einem sich selbst gleichen macht […]. Der Geist hebt die Natur oder sein Andersseyn auf, indem er erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist […]. Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder durch diese Befreyung ist er erst Geist […] er ist nur Geist, indem er aus diesem ausser sich gekommenenseyn, zu sich selbst zurückkehrt, und sich selbst findet“ (Hegel nach Klaus Viehweg S. 245).
Am 13. Oktober 1806 sieht Hegel Kaiser Napoleon – diese Weltseele – in Jena „durch die Stadt zum Rekogniszieren hinausreiten“ (Hegel nach Klaus Vieweg S. 257). Am 14. Oktober 1806 stellt er unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena und Auerstedt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=schlacht+bei+jena+und+auerstedt+napoleon&sxsrf=ALeKk034oM-RsKnKh2xu4Jz1E1XqcteBhg:1593877228316&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=5BpzDmbFnsRuFM%252CxyKcVRf-LGJh6M%252C_&vet=1&usg=AI4_-kSSliPJPzLZ4uQygEBb2n_Fvex89Q&sa=X&ved=2ahUKEwjwpomw97PqAhUHO8AKHUL9ARgQ_h0wAXoECAoQBg&biw=1401&bih=
916#imgrc=5BpzDmbFnsRuFM) die letzten Seiten seiner ›Phänomenologie des Geistes‹ fertig und schickt sie zum Druck nach Bamberg. Sie wird „als das faszinierendste und spannendste Werk Hegels angesehen werden“ (Klaus Vieweg S. 464). Auch Hegel ist von der Schlacht betroffen und wird geplündert. Er sieht die grausamen Folgen des Krieges. Er „vergleicht den Krieg mit dem Teufel: ›So hat sich kein Mensch den Krieg vorgestellt, wie wir ihn gesehen haben‹“ (Hegel nach Klaus Vieweg S. 258). Hegel muss seine Wohnung verlassen und geht etwa einen Monat später nach Bamberg, um die Drucklegung seiner Phänomenologie zu überwachen. Die erhoffte Festanstellung in Jena zerschlägt sich. Im Februar 1807 kommt sein unehelicher Sohn Ludwig zur Welt. Er übernimmt in Bamberg die Redaktion der ›Bamberger Zeitung‹. Im November 1808 wird er zum Professor der philosophischen Vorbereitungswissenschaft und Rektor des ersten humanistischen Gymnasiums in Deutschland berufen und zieht nach Nürnberg. Er heirate Marie von Tucher, bekommt mit ihr die Söhne Karl und Immanuel und bringt sein 1812 und 1813 erscheinendes wissenschaftliches Hauptwerk ›Die Wissenschaft der Logik‹ zu Ende.
„Die Logik liefert die Grundlegung von Hegels monistischem Idealismus als Wissenschaft der Vernunft und Freiheit. Im Resultat der Idee steckt die spekulative Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit, die Einheit beider. Die Unmittelbarkeit des Anfangs kann als bewiesene, vermittelte gelten. Der Kreis, keineswegs ein Teufelskreis, schließt sich im Rückgang auf den Anfang. ›Sonderbar ist der Gedanke, […] daß Ich mich des Ich schon bedienen müsse, um von Ich zu urtheilen […] Aber lächerlich ist es wohl, diese Natur des Selbstbewußtseyns, daß Ich sich selbst denkt, daß Ich nicht gedacht werden kann, ohne daß es Ich ist, welches denkt, – eine Unbequemlichkeit und als etwas fehlerhaftes, einen Cirkel zu nennen; – ein Verhältniß, wodurch sich im unmittelbaren empirischen Selbstbewußtseyn, die absolute, ewige Natur desselben und des Begriffs offenbart, deßwegen offenbart, weil das Selbstbewußtseyn eben der daseyende, also empirisch wahrnehmbare, reine Begriff, die absolute Beziehung auf sich selbst ist, welche als trennendes Urtheil sich zum Gegenstand macht und allein diß ist, sich dadurch zum Cirkel zu machen“ (Hegel nach Klaus Vieweg S. 407 f.). Die Begegnung mit den Kunstschätzen und den Kunstkennern von Nürnberg wird in seine Heidelberger Ästhetik einfließen. 1816 tritt Hegel in Heidelberg im Alter von 46 Jahren seine erste ordentliche Professur an; er ist zu einem der Hauptdarsteller der philosophischen Bühne aufgestiegen.
In den vier Heidelberger Semestern bewältigt er ein unglaubliches Pensum. 1817 veröffentlicht er die ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, „den Grundriss seines philosophischen Systems und Kernstück des Heidelberger Programms. Mit diesem Werk, das auch als Leitfaden für Vorlesungen dient, löst Hegel ein Versprechen ein: anstelle einer neuen Mythologie oder alten Metaphysik die Umrisse eines neuen Systems einer Philosophie vorzulegen, um zum Tiefsten der Philosophie vorzudringen, der vernünftigen Erkenntnis, die allein dem Menschen seine Würde geben kann. Hegel hält Vorlesungen mit ungemein nachhaltiger Resonanz und führt die Tradition des legendären Jenaer Conservatoriums in Heidelberg fort […]. Eine immense Ausstrahlung hatten neben der Enzyklopädie-Vorlesung die Kurse zum Naturrecht bzw. zur Rechtsphilosophie zusammen mit den Passagen zum objektiven Geist in der Enzyklopädie und zur Ästhetik. Mit den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst erfüllt Hegel sich einen seit Jena gehegten Wunsch. Obschon er zeitweise 16 Wochenstunden pro Semester liest, ist er an der Universität glücklich. Mit den Monaten in Heidelberg ›beginnen die Flitterwochen und die Blütezeit seiner philosophisch-akademischen Laufbahn‹“ (Klaus Vieweg S. 424 f.). Hegel setzt sich in Heidelberg entschieden für ein Ehrendoktorat der Philosophie und der freien Künste für Jean Paul ein, das dieser am 18. Juni 1817 erhält. Mit diesem Ehrendoktorat möchte er ein Zeichen für die moderne Poesie und eine moderne Kunstphilosophie jenseits von Romantik und Klassizismus setzen.
1818 wird er Professor an der Berliner Universität und 1829 deren Rektor. Auf dem Weg von Heidelberg nach Berlin besucht er in Weimar Johann Wolfgang von Goethe, bezieht in der Leipziger Straße 29 seine erste Wohnung in Berlin, betrachtet das Zeitungslesen als einen weltlichen Morgensegen, testet die Berliner Salons und Teezirkel, kann in der Gesetzlosen Gesellschaft und im Montagsclub Karl Friedrich Schinkel, Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann treffen und verkehrt vorzugsweise in jüdischen Häusern. In den ersten Monaten von 1819 will Hegel seine im Geist von 1789 erarbeiteten ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ fertigstellen.
Aber dieser Plan wird im Sommer durch das Inkrafttreten der Karlsbader Beschlüsse (vergleiche dazu u. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Karlsbader_Beschlüsse und https://www.geschichte-abitur.de/lexikon/uebersicht-restauration-vormaerz/karlsbader-beschluesse) und den damit verbundenen Beginn der Metternichschen Restaurations- und Überwachungspolitik zu gefährlich. Die Fürsten befürchteten den Ausbruch einer Revolution und ließen deshalb liberale Professoren überwachen, Burschenschaften und Turnvereine verbieten und nationale und revolutionäre Kräfte unterdrücken. Unter dem Stichwort „Demagogenverfolgung“ bekämpfte die Restaurationspartei alle demokratischen Reformbewegungen; die Presse- und Meinungsfreiheit wurde massiv eingeschränkt und Publikationen jeglicher Art wurden unter Zensur gestellt. Preußen wurde zu einem Überwachungs- und Polizeistaat. Hegels Angriffe gegen Restaurationsideologen wie Karl Ludwig von Haller (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Ludwig_von_Haller) und seine Spitzen gegen das Religionsverständnis des einflussreichen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Schleiermacher) beantwortete Letzterer mit der Verhinderung von Hegels Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften. Im Herbst 1819 äußert Hegel enttäuscht: „›Ich bin gleich 50 Jahre alt, habe 30 davon in diesen ewig unruhvollen Zeiten des Fürchtens und Hoffens zugebracht und hoffte, es sei einmal mit dem Fürchten und Hoffen aus. [Nun] muß ich sehen, daß es immer fortwährt, ja, meint man in trüben Stunden, immer ärger wird‹“ (Hegel nach Klaus Vieweg S. 456). Der Hegel-Anhänger Gustav Asverus (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Asverus) landet wegen angeblichen Hochverrats in den Fängen der preußischen Willkürjustiz und wird zu sechs Jahren Festungshaft verurteilt, kommt aber nach einem Begnadigungsverfahren, an dem Hegel wesentlichen Anteil hat, wieder frei. In diesem Klima verschiebt Hegel die Drucklegung seiner Rechtsphilosophie, arbeitet sie an einigen Stellen um und fasst die Vorrede neu. Für Vieweg ist sie ein Glanzstück der Täuschung der Restaurationszensur.
„Am 9. Juni 1820 sendet Hegel die erste Hälfte der bearbeiteten Fassung [seiner Rechtsphilosophie] an die Nicolaische Buchhandlung; die Vorrede wird auf den 25. Juni datiert. Obwohl das Titelblatt 1821 angibt, erscheint im Herbst 1820 die Abhandlung, die bis heute die philosophischen Gemüter erhitzt. Das betrifft vor allem den berüchtigten Doppelsatz der Vorrede: ›Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig‹“ (Hegel nach Klaus Vieweg S. 467). Liberale sehen bis heute in dem Doppelsatz die Heiligsprechung alles Bestehenden, die philosophische Einsegnung des Despotismus, der Polizeiwillkür und der Zensur. Dabei trat Hegel für liberal-nationale Ideen ein, für den Gedanken der Einheit Deutschlands und gegen Paternalismus und das Recht des natürlich Stärkeren. „Da Hegel dem Weltbürgerlichen im Sinne von es sei undeutsch, bloß deutsch zu sein, anhing, wurde er später an Brennpunkten der deutschen Geschichte, 1870, 1914 und 1933, als undeutscher Denker abgeurteilt; er habe den undeutschen Ideen von 1789 angehangen. Nicht nur einige Menschen […], sondern der Mensch schlechthin werde als Person anerkannt. Preußens König Friedrich Wilhelm IV. wollte […] die ›Drachensaat‹ des Hegelschen Denkens vernichten; Kaiser Wilhelm II. sah in Fichte und Hegel Personen, die in seinem Reich nichts verloren hätten. Vom NS-Ideologen Rosenberg wurde Hegel als antideutscher, ›unvölkischer‹ Kosmopolit verschimpft. Rosenbergs Nationalismus gründet auf der Vorstellung von der prinzipiellen Verschiedenheit der Nationen […]. Allein dies belegt die Absurdität der These ›Von Hegel zu Hitler‹. Die Rechtsphilosophie steht konsequent gegen jeglichen Nationalismus“ (Klaus Vieweg S. 468)
Auch Heinrich Heine (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Heine), der 1821 bis 1823 bei Hegel studierte, hielt den Doppelsatz zunächst für servil: „›Als ich einst unmutig war über das Wort: >Alles, was ist, ist vernünftig<, lächelte er sonderbar und bemerkte: ›Es könnte auch heißen: >Alles, was vernünftig ist, muß sein<. Hegel habe sich hastig umgesehen; er fürchtete zu Recht die Spitzel der preußischen Geheimpolizei […]. Nicht alles, was existiert, ist wirklich, nur dem vernünftig Gestalteten komme das Attribut ›wirklich‹ zu. Freies Denken bleibe, so die Vorrede, ›nicht bei dem Gegebenen stehen […]. Nicht das Gegebene, das Vorgefundene – wie der preußische Staat –, sondern die Vernunft ist der Maßstab, der Probierstein und der Gerichtshof, vor dem das ›Recht‹ sich rechtfertigen muss. In einer Vorlesungsnachschrift heißt es: ›Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich, was existiert‹“ (Hegel / Klaus Viehweg S. 468 f.). Mit diesem auf vernünftig begründete Veränderung setzenden Rechtsdenken werden Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ zu seiner wirkmächtigsten Schrift. Seine Berliner Vorlesungen unter anderem zur ›Philosophie des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes‹ machen ihn vollends weltbekannt. „Die Philosophie schaut auf das generierte Wissen zurück. Dazu heißt es in der Berliner ›Enzyklopädie‹ von 1530: ›Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen‹, das ›Logische ist das Resultat als das Geistige‹ […]. Der Begriff der Philosophie ist ›die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit‹, das Logische mit der Bedeutung, dass es ›im konkreten Inhalt als seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist […]. In diesem einen Ganzen von Schlüssen sind Subjektivität und Objektivität vereint. Das sich in der letzten Sequenz in der Mitte befindende Logische, das jetzt in der Form des Geistes auftritt, ist diese sich denkende eine Idee, die sich wissende Vernunft, das bewahrheitete, d. h. legitimierte Allgemeine, das Absolut-Allgemeine (G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke Band 20 S. 569) – so der absolute idealistische Monismus Hegels“ (Klaus Vieweg S. 649).
Schon viele Jahre vor dem zu Unrecht skandalisierte Doppelsatz der Vorrede der Rechtsphilosophie über die Vernünftigkeit des Wirklichen und die Wirklichkeit des Vernünftigen hat Hegel in Nürnberg den Satz „›Alles Wirkliche ist eine Idee‹“ formuliert. „Die Bewegung der Philosophie ist vollbracht, indem sie im ›Schluss‹ den eigenen Begriff erfasst – das vollständige Selbstverhältnis als Denken des Denkens“ (Klaus Vieweg a. a. O.). „Vernunft und Freiheit als Inhalt der Idee prägen, so Hegel, diese ›letzte‹ Philosophie […]. Das Ende der Philosophie bedeutet aus Hegels Sicht den Beginn des freien Philosophierens. Vernunft und Freiheit seien ständig neu zu bearbeiten; sie bleiben der rote Faden im denkenden Geisterreich, in der Geschichte des begreifenden Denkens“ (Klaus Vieweg S. 653).
Bald nach Beginn des Wintersemesters 1831, für das Hegel Vorlesungen über die ›Rechtsphilosophie‹ und die ›Geschichte der Philosophie‹ angekündigt hatte, wird er plötzlich schwer krank und verstirbt am 14. November um fünf Uhr am Nachmittag. „Die von seinem Anhänger David Friedrich Strauß notierten letzen Worte der letzten Vorlesung lauten: ›Freyheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, dass der ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt‹“ (Klaus Vieweg S. 672). Hegel wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof (vergleiche dazu etwa https://www.feinschwarz.net/besuch-am-grab-von-hegel/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhof_der_Dorotheenstädtischen_und_Friedrichswerderschen_Gemeinden) neben Johann Gottlieb Fichte und seiner Frau Johanna Marie (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=fichte+grab&sxsrf=ALeKk01ESKUCGFdLvIou43r2OFcIFEkk8w:1593962696418&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=aDdIW8TwUK-1MM%252CtspW-KwqsEb9XM%252C_&vet=1&usg=K_wobBUUAMbCfx196g6dmcoplfQyM%3D&sa=X&ved=2ahUKEwjTobjitbbqAhVKQEEAHXrgCo8
QuqIBMAF6BAgYEAk&biw=1401&bih=916#imgrc=hR_nhl6_mZmkvM) beerdigt.
Der Mitorganisator des Hamburger Fests von 1832, Vormärz-Schriftsteller und Jurist Johann Georg August Wirth (1788 – 1848, vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Georg_August_Wirth) hält fest: „In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“ und Michel Foucault schreibt: „Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muss man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen, muss man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist, und was in unserem Denken vielleicht noch von Hegel stammt; auch muss man ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert, unbewegt und auf uns wartend“ (vergleiche dazu Klaus Vieweg S. 673)
ham 6. Juli 2020