C.H.Beck Wissen 2912, Verlag C.H.Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-74960-5, 128 Seiten, Softcover, Broschur, Format 18 x 11,8 cm, € 9,95 (D) / € 10,30 (A)
Günter Zöller gelingt das Kunststück, den geistigen und politischen Kontext von Hegels Leben zwischen dem Ancien Régime, der Französischen Revolution, dem Kaiserreich Napoleon Bonapartes und der Neuordnung des nachrevolutionären Europa im Zeichen von absoluter Monarchie und christlicher Religion mit einer verständlichen Einführung in Hegels Hauptschriften und seine späten Vorlesungen auf 128 kompakten Seiten zu verbinden. Demnach kann Hegels Werk als anhaltende Reflexion auf „die fortgeschrittene Moderne mit ihren rapiden gesellschaftlichen Veränderungen, ihrer rasanten Auflösung überlieferter Ordnungen, ihrem vollmundigen Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit und ihrer enttäuschenden Bilanz in puncto gesellschaftlichem Fortschritt und allgemeiner Wohlstand“ (Günter Zöller S. 7) gelesen werden.
Zwar fasst nach Hegel die Philosophie ihre Zeit in Gedanken; aber sie kommt immer zu spät: „Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (G. F. W. Hegel, Vorrede zur Philosophie des Rechts, 1820). Zöllers Einführung erscheint zur 200. Wiederkehr der Erstveröffentlichung von Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts und zu seinem 250. Geburtstag. Der 1954 geborene Zöller lehrt seit 1999 an der Ludwig-Maximilians-Universität München Philosophie, hat sich schwerpunktmäßig mit Johann Gottlieb Fichte und Immanuel Kant auseinandergesetzt. In seiner Münchener Zeit hat er zu den alternativen Ausprägungen des nachkantianischen Philosophierens bei Schelling und Hegel geforscht. Er hat 35 Bücher und circa 380 Aufsätze verfasst und international in über 350 Vorträgen an Universitäten, auf philosophischen Kongressen und Tagungen vorgetragen.
Der Schwerpunkt von Zöllers Einführung in Hegels Philosophie liegt auf seinen Hauptveröffentlichungen ›Phänomenologie des Geistes‹, ›Wissenschaft der Logik‹, ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹, ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ und auf den Berliner Vorlesungen zur Weltgeschichte, Kunst, Religion und Philosophiegeschichte. Hegel wird als begrifflicher Analytiker und Apologet der modernen Welt vorgestellt, nach dem die Geschichte in seiner Zeit an ihr Ende kommt. In Hegels makroskopischer Perspektive wird „aus den Ruinen und dem Gemetzel, das die Weltgeschichte darbietet […], eine Meistererzählung von Vernunft und Fortschritt, die ohne göttliche Fügung (›Vorsehung‹) auskommt und deren Beurteilung und Bewertung Hegel in die Geschichte selbst verlegt: ›Die Weltgeschichte ist das Weltgericht‹. Getragen wird der Gang der Weltgeschichte von herausragenden Persönlichkeiten […], die für sich zu handeln meinen, dabei aber nur ihre zugewiesene Rolle im welthistorischen Rahmen spielen ⟨›List der Vernunft‹⟩“ (Günter Zöller S. 95 f.).
Selbst der Geist als dynamisches Gestaltungsprinzip von Wirklichkeit unterliegt der Entwicklung. Als absoluter Geist kommt er zu sich selbst. „Als absoluter Geist gilt Hegel der Geist, der sich in gesellschaftlich geprägten, aber individuell vollzogenen Kulturleistungen manifestiert. In den Hervorbringungen von Kunst, Religion und Wissenschaft liegt der Geist, Hegel zufolge, nicht mehr einfach gegenständlich vor, sondern erfasst sich selbst als Geist. Formal gesehen ist der absolute Geist so das Sujektivwerden des objektiven Geistes, der dadurch zum Bewusstsein seiner selbst gelangt“ (Gunter Zöller S. 100), in der Kunst in der sinnlichen Anschauung, in der Religion in der bildlichen Vorstellung und in der Philosophie im spekulativen Denken.
Nach Hegels Rekonstruktion der Philosophiegeschichte aus dem Geist der Moderne sind im 17. und 18. Jahrhundert wichtige Stationen „Descartes mit seiner Entdeckung des reinen Selbstbewusstseins (cogito) als absolut gewisser Ausgangsbasis aller Erkenntnis, Spinoza, bei dem Geist und Natur ebenso entgegengesetzt wie identisch sind (›Denken und Sein‹), und Leibniz, der vom Denken her alles Sein erschließt (›denkende Monade‹). Schließlich gelangt Hegels Darstellung zu Fichtes Einführung des Selbstbewusstseins (›Ich‹) als subjektivem Prinzip von Wirklichkeit und zu Schellings Auflösung des Gegensatzes von Subjektivem und Objektivem in einer absoluten Identität, die den Gegensatz ebenso hervorbringt wie auflöst. Das damit erreichte Wissen von sich (›absolutes Wissen‹) markiert für Hegel den Übergang vom ›endlichen Selbstbewusstsein‹ […] zum nunmehr auch in der Philosophiegeschichte erreichten ›absoluten Selbstbewusstsein‹, durch das sich der Geist immerzu und überall erkennt und wiedererkennt (›Geist als Geist‹). Doch damit sind auch der Geist selbst wie seine philosophische Darstellung zu Ende gekommen […]. Was bleibt, ist die Geschichte, oder – wie man mit Blick auf die beinahe zwei Jahrhunderte seither wird sagen können – die Zukunft“ (Günter Zöller S. 119).
ham, 25. April 2020