Verlag C.H. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-74136-4, 384 Seiten, 235 farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 30,2 x 24.6 cm, € 58,00

Ulrich Pfisterers groß angelegte Raffael-Biografie ist rechtzeitig zu seinem 500. Todestag erschienen, der in der Kunstwelt mit Ausstellungen unter anderem in der Scuderie del Quirinale Rom, der National Gallery London, der Gemäldegalerie Alte Meister – Staatliche Kunstsammlungen Dresden und der Gemäldegalerie –Staatliche Museen zu Berlin gefeiert worden sollte. Dann kam es zur Corona-Pandemie und eine Ausstellung um die andere musste geschlossen werden. In Zeitläuften wie den jetzigen steht die fulminante Publikation auch für das Überleben der Kunst.

Der am 6. April 1483 am Karfreitag in Urbino geborene Raffaello Sanzio war während seiner abschließenden Arbeiten an der ›Transfiguration‹ (vergleiche dazu unter anderem https://de.wikipedia.org/wiki/Transfiguration_(Raffael)) um den 28. März 1520 an einem Fieber erkrankt, am Karfreitag 1520 in einer

merkwürdigen Koinzidenz der Tage an seinem 37. Geburtstag verstorben und am nächsten Tag im Pantheon bestattet worden. Am Beginn des 16. Jahrhunderts stand man in seinem achten Lustrum, das heißt in seinem achten Lebensjahrfünft, auf dem Höhepunkt seiner Lebens- und Schaffenskraft. Nach dem 40. Lebensjahr hatte man die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht und galt als alt. Raffael hat den Auftrag von Kardinal Giulio de’Medici für die ›Transfiguration‹ wohl auch deshalb als besondere Herausforderung und bedeutsames Signal verstanden und alles in das Werk gelegt, was er sich bis dahin erarbeitet hatte. Dazu kam, dass er den Auftrag als Paragone zwischen sich und Michelangelo verstehen musste: Giulio hatte Sebastiano del Piombo parallel und im selben Zeitfenster mit einer ›Auferweckung des Lazarus‹ (vergleiche dazu https://www.arthistoricum.net/themen/portale/renaissance/lektion-xiv-die-antiklassische-renaissance-in-oberitalien-und-das-erbe-raffaels/2-sebastiano-del-piombo-und-pordenone/) betraut und dafür Entwurfszeichnungen von Michelangelo erhalten. Damit kam es zum „unmittelbaren künstlerischen Wettstreit der beiden größten Maler Roms, Raffael und Michelangelo“ (Ulrich Pfisterer S. 302).

Was Raffael dann „unter Aufbieten seines ganzen künstlerischen Könnens und mit maximalem Arbeitseinsatz (den erhaltenen Vorzeichnungen nach zu schließen) bis zu seinem überraschenden Tod auf der monumentalen Leinwand fast vollendete, ließ sich tatsächlich als Summe seiner bisherigen Malerei verstehen […]. Ausschlaggebend war zunächst, dass das Bildsujet um die unmittelbar auf die ›Transfiguartion‹ folgende Episode der ›Heilung des mondsüchtigen Knaben‹ erweitert wurde […]: Anstelle der beiden riesigen Bildfiguren Michelangelos und Sebastianos […] konnte Raffael in zwei Registern eine räumlich und chronologisch aufeinander folgende und miteinander verschränkte Erzählung entfalten. Statt der unüberschaubaren, aufgewühlten Volksmenge, die die Auferweckung des Lazarus beobachtet, entwirft Raffael zwei klar geschiedene Gruppen, links die […] emotional bewegten […] Apostel, rechts exemplarische Vertreter aus dem Volk um den (angeblich) von Dämonen besessenen Knaben und seinen […] Vater. Der spektakulären Aktfigur des Lazarus schließlich setzt Raffael nicht nur den halbnackten Knaben mit der künstlerischen Schwierigkeit entgegen, dass dessen Körper sich in einem epileptischen Anfall verkrampft und alle Vorschriften an das Dekorum verletzen muss, sondern im maximalen (rhetorischen) Kontrast auch die idealschöne kniende weibliche Kunstfigur, die zwischen den beiden Gruppen links und rechts vermittelt und die wohl Maria Magdalena darstellen soll“ (Ulrich Pfisterer S. 304 f.).

Die angespannte Situation des Wettstreits wird von den Zeitgenossen wahrgenommen und führt nicht zuletzt dazu, „dass 1518 erstmals schriftlich die beiden unterschiedlichen stilistischen Postionen der Michelangelo- und der Raffael-Anhänger beschrieben wurden, aber auch die Konstellation Raffaels als ⟨dritter Mann⟩“ (Ulrich Pfisterer S. 306). So berichtete Sebastiano del Piombo an Michelangelo, dass er sich keinen größeren Kontrast zu seiner eigenen Kunst vorstellen könne als die Malerei Raffaels. „Dessen Bildfiguren erschienen wie in Rauch gehüllt bzw. würden wie aus Metall glänzen in scharfen Hell-Dunkel-Kontrasten und seien in einer an Leonardo da Vinci erinnernden Art und Weise gezeichnet […]. Michelangelo versus Raffael, der teils auf Leonardo da Vinci rekurriert – diese Dreierkonstellation markiert bereits für die Zeitgenossen die Koordinaten der römischen Kunst der 1510er Jahre […]. Die Gegenüberstellung der (fast) fertigen Konkurrenzgemälde im Vatikanpalast unmittelbar nach Raffaels Tod führte dann nochmals […] die beiden unterschiedlichen Konzepte vor Augen. Ein klarer Sieger dürfte freilich nicht zu ermitteln gewesen sein. Auch Sebastiano, von dem es schon 1517 geheißen hatte, er habe praktisch gewonnen […], sprach am Ende […] davon, dass er sich seiner Leistung ›nicht schämen‹ müsse. In der Folge gelangte […] nur die ›Aufer-

weckung des Lazarus‹ an den Bestimmungsort in Narbonne; die ›Transfiguration‹ wurde in der römischen Kirche S. Pietro in Montorio auf dem Hochaltar aufgestellt. Da damit nur noch Raffaels Werk im Zentrum der Welt und der Kunst zu studieren war, hatte er in letzter Konsequenz doch gewonnen“ (Ulrich Pfisterer S. 306 ff.).

Raffael hat „noch zu seinen Lebzeiten seinen Ruhm und seine künstlerischen Ideen in ganz Europa“ (Ulrich Pfisterer S. 315) verbreiten können und ist als vielfach begabter Ausnahmekünstler, Architekt, Bauleiter des Petersdoms, Retter antiker Skulpturen, einer der ersten Denkmalpfleger und „Gott der Malerei“ gestorben. Rund 30 Jahre nach seinem Tod und in den folgenden Jahrhunderten wurde er immer wieder neu erfunden. Damit sind unter anderem die Umdeutungen seiner Person und seiner Werke in den Jahren 1550 – 1554 durch Giorgio Vasari und Ludivico Dolce gemeint, dann auch der Versuch der beginnenden wissenschaftlichen Kunstgeschichte, Raffaels überirdische Schönheit als Ausdruck reiner Tugend zu erklären und die unnachahmliche Grazie seiner Werke durch die rationalen Regeln des Goldenen Schnitts und schließlich und nicht zuletzt der Aufbau des Raffael-Saals im Orangerie-Schloss der Potsdamer Sanssouci-Parkanlage mit 50 Kopien der Hauptwerke des Meisters unter Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. zwischen 1804 und 1865.

Ulrich Pfisterers Biografie kann aufs Ganze gesehen als der Versuch verstanden werden, aus seinem Werk, seiner Persönlichkeit und den Umständen seiner Zeit nachvollziehbar und plausibel zu erklären, warum Raffael zum neben Michelangelo wichtigsten Künstler in Rom und Italien im frühen 16. Jahrhundert aufsteigen konnte. Im Einzelnen hat Pfisterer drei Ziele verfolgt: „Gezeigt werden soll erstens, wie Raffael in seinem gesamten Schaffen […] stets um die Weiterentwicklung seiner künstlerischen Ergebnisse und Positionen in den hochkompetetiven und -innovativen Kontexten zwischen Urbino, Florenz und Rom bemüht war. Nicht eine ihren eigenen Prinzipien folgende ›Entfaltung des Genies‹ soll nachgezeichnet werden, sondern ein bis zu den letzten Werken unermüdliches Streben nach dauernder Variation, Verbesserung, Neuem im ständigen Wettstreit und Vergleichsblick auf andere, voran Michelangelo. In Verbindung mit größtem Ehrgeiz, ungewöhnlicher Arbeitskraft, Mut zu neuen Aufgaben, Organisationstalent, einem weitgespannten Netzwerk von Freunden und Kollegen, frühem Erkennen des Potentials von Druckgrafik, klugem Taktieren mit Auftraggebern, einem offenbar sehr einnehmenden Wesen und nicht zuletzt glücklichen, die Künste favorisierenden Zeitumständen unter den Pontifikaten Julius’II. und Leos X. entstand Raffaels Erfolg“ (Ulrich Pfisterer S. 11f.). 

Zweitens arbeitet Pfisterer die in die Künstlerviten Vasaris eingeflossenen Projektionen und Fehlinformationen auf und stützt sich dazu auf tatsächlich zeitgenössische Quellen. Drittens liefert das Buch eine Reihe von Werkanalysen. „Mit diesen wird zugleich versucht, leitende Vorstellungen und Veränderungen von Raffaels kunstpraktischem und kunsttheoretischem Denken während der zwei Jahrzehnte seines für uns fassbaren Produzierens, von 1500 bis 1520, zu rekonstruieren und zu kontextualisieren. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, sich der Bedingungen heutiger Vorstellungen etwa von Genie oder Kunst so weit bewusst zu werden, dass eine Annäherung an den historischen Wahrnehmungs- und Bewertungshorizont von Nachahmung, Schönheit, Kopie, Eigenhändigkeit, Wettstreit oder Begabung möglich wird. Zu verstehen gilt es auch, dass der neue Typ von Werkstatt-Zusammenarbeit, den Raffael offenbar um 1511/14 etablierte, nicht nur rein praktisch die überwältigende Produktionsmenge dieser Jahre ermöglichte. Der aus diesem ›vielhändigen‹ Erfindungs- und Produktionsprozess resultierende ›Raffael-Stil‹ sollte den weiteren Gang der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts entscheidend mitprägen“ (Ulrich Pfisterer S. 13).

Letztlich macht Pfisterer plausibel, warum Raffael über 500 Jahre hinweg populär geblieben ist: Er hat in ganz verschiedenen Bereichen in kürzester Zeit wegweisende Lösungen formuliert und eine Form der Selbstdarstellung und des Selbstverständnisses entwickelt, die für spätere Künstler Maßstäbe setzte. „Beides sorgte dafür, dass Raffael nach seinem Tod im Zusammenhang mit Akademien, mit künstlerischer Ausbildung, mit Kunsttheorie, mit Publikumsgeschmack“ auch noch einen posthumen „spektakulären Aufstieg“ hinlegen konnte und bis heute im kollektiven Gedächtnis überlebt hat (vergleiche dazu Ulrich Pfisterer im Interview „Gott der Malerei“ im NDR in https://www.ndr.de/kultur/Gott-der-Malerei-Zum-500-Todestag-von-Raffael,raffael142.html).

ham, 20. April 2020

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