Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 12. November 2019 bis 16. Februar 2020 im Städel Museum, Frankfurt am Main, verfasst von Jenny Graser, herausgegeben von Regina Freyberger, Martin Sonnabend und Philipp Demand

Kerber Verlag, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-7356-0580-1, 328 Seiten, 214 farbige und 14 s/w Abbildungen, Klappenbroschur, Format 28 x 23 cm, € 49,90 / CHF 61,28

Zeichnungen gelten als unmittelbarste künstlerische Äußerung und als Medien des Suchens, Experimentierens und Findens neuer formaler Lösungen. Im 20. Jahrhundert gewinnen sie an Eigenständigkeit und werden zur autonomen Kunstform. In autoritären Systemen und Zeiten entziehen sie sich der staatlichen Überwachung und stehen für die Freiheit der künstlerischen Äußerung und des Denkens. 

Die von Jenny Graser in eineinhalb Jahren aus dem Bestand des Städel Museums erarbeitete Auswahl von rund 100 Zeichnungen von 43 Künstlern (vergleiche dazu auch das Kuratorinneninterview ‚Die Zeichnungen der Zeit‘ unter https://blog.staedelmuseum.de/deutsche-zeichnungen-des-20-jahrhunderts-2/) ermöglicht einen konzentrierten Überblick über die Entwicklung der Zeichnung zwischen ›großer Realistik‹ und ›großer Abstraktion‹ (Wassily Kandinsky 1911). „Diese beiden Pole geben gewissermaßen das Gerüst vor, in dem sich die zahlreichen hier vorgestellten künstlerischen Positionen mit ihren jeweils individuellen Deutungen des Realen bewegen“. Realistik und Abstraktion bilden „den Leitfaden, der die nahezu 1800 Werke deutscher Zeichenkunst des 20. Jahrhunderts, die in der Graphischen Sammlung des Städel Museums bewahrt werden, auch über Generationen hinweg miteinander verknüpft: Immerhin ließ sich Georg Baselitz von den ‚Farbformereignissen‘ der Expressionisten inspirieren, die zu einer Abkehr von der ‚naturalistischen‘ Kunstauffassung und zu einem ganz neuen Umgang mit Farbe und Form führten; Peter Sorge entwickelte wie sein Vorbild Max Beckmann aus einem genauen Studium seiner Gegenwart heraus in einer Bildsprache, die gegenstandsbezogen und abstrahierend zugleich ist, eine zeitgenössische Ikonografie. Dieses dichte Netz an Bezügen […] gewährt eine Fülle von Einsichten und Erkenntnissen in die Entwicklung der Zeichenkunst in Deutschland im vergangenen Jahrhundert“ (Jenny Graser S. 8).

Die ausgewählten Zeichnungen werden im Kontext des Gesamtwerks der Künstler und ihrer Zeit vorgestellt. So ließen Max Beckmanns im Ersten Weltkrieg an der Front gemachten traumatisierenden Erfahrungen eine naturnahe, an Max Liebermann, Lovis Corinth oder Max Slevogt geschulte Malerei nicht mehr zu. Versuchte er sich anfangs noch an einer ins Religiöse verweisende Historiendarstellung (vergleiche dazu http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2015/12/keine-demut-mehr-vor-gott-max-beckmanns.html), „so wandte er sich in den folgenden Jahren eher mythisch-allegorischen Bildinhalten zu und entwickelte eine entschieden zeitgenössische Ikonografie. Parallel wichen die weichen, tonigen Schraffuren […] harten, klaren Linien und Flächen. Dieser ›neue‹ Stil zeigte sich zuallererst in Beckmanns Zeichnungen“ (Jenny Graser S. 14). Seine sich wandelnde Formensprache wird exemplarisch in der Zeichnung ›Landsturmmann Ernst Pflanz, Brustbild‹ vom 6. April 1915 deutlich (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/landsturmmann-ernst-pflanz-brustbild).

Von Georg Baselitz werden ›Oberon‹, 1964 (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/oberon-1) und ›Ohne Titel, 20. August 1978‹ (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/en/work/untitled-11) vorgestellt und erläutert, von Peter Sorge ›Nichts gegen Max‹, 1982/84 (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/en/person/sorge-peter) und von Gerhard Richter ›Ohne Titel‹ vom 2. November 1989 (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/en/work/2111989): Auf Richters Zeichnung vom 2. November 1989 „schieben sich Flächen weich verriebenen Grafits, zarte Schraffuren, markante Lineaturen und scharfe Ritzungen in- und übereinander und bilden ein chaotisch anmutendes, abstraktes Gebilde. Linien von expressiver Gestik werden mit konzentriert ausgeführten Markierungen verschränkt […]. Die Intensität des Strichs variiert zwischen dunklem Anthrazit und hellem Grau und ruft damit den Eindruck einer sich zeigenden und zugleich vergehenden, also permanent wandelnden Materie hervor. Was sich dem Betrachter darbietet, ist eine ungegenständliche und zugleich vielfältige Struktur, die agil und energisch wirkt. Das abstrakte Gefüge gibt dem Betrachter keine eindeutige Lesart vor […]. Die zahlreichen Überlagerungen, die an Richters vielschichtige Gemälde erinnern, und die markante Horizontale lassen […] einen räumlichen Eindruck entstehen. Mit schneller Hand führte der Künstler die Zeichnung aus und erzielte so die Wirkung eines sich dynamisch in einen unendlichen Raum ausbreitenden Gebildes, das auf den Betrachter einzuströmen scheint“ (Jenny Graser S. 300).

Weitere Arbeiten stammen unter anderem von Willi Baumeister, Thomas Bayrle, Karl Bohrmann, Lyonel Feininger, Karl Otto Götz, Erich Heckel, Jörg Immendorf, Anselm Kiefer, Paul Klee, Arnulf Rainer, Fred Thieler, Werner Tübke und WOLS. Die in dem aufwendig erarbeiteten Katalogbuch vorgestellten Zeichnungen können auch in der Digital Collection des Städel Museums unter dem Namen der Künstler aufgerufen und angesehen werden (vergleiche dazu https://sammlung.staedelmuseum.de/en/person).

ham, 12. März 2020

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