Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House, 2019, ISBN: 978-3-328-60119-7, 76 Seiten, Hardcover, Pappband mit Lesebändchen, Format 19,3 x 12 cm, € 10,00 (D) / € 10,30 (A) / CHF 14,50

In der Generation der 1968er hat man sich lange überlegt, ob man einmal eigene Kinder haben möchte oder ob es nicht besser wäre, Kinder aus Ländern der Dritten Welt zu adoptieren. Wer Fünfzig Jahre später Kinder hat, kann sich wie der Hirnforscher Gerald Hüther und der Musiker, Komponist, Freibildungsexperte und Sohn des Malortgründers Arno Stern André Stern fragen, ob er oder sie die Welt samt ihrer Vielfalt an Lebensformen noch so an seine Kinder übergeben kann, wie er sie einst von seinen Eltern übernommen hat.  „Es reicht nicht, unseren Kindern zu wünschen, dass es ihnen gelingen möge, den von uns erzeugten Müll beseitezuräumen, die durchwühlten und zubetonierten Landschaften wiederzubeleben, die vielen weltweiten Konflikte zu lösen und allen Menschen ein friedliches Zusammenleben ohne Krieg, Not und Elend zu ermöglichen“ (Gerald Hüther, André Stern S. 7). Wir müssten ihnen„dabei helfen und ihnen so viel Kraft und Zuversicht mit auf den Weg geben, damit es ihnen auch wirklich gelingt“ (Gerald Hüther, André Stern a. a. O.).

Hüther und Stern sind davon überzeugt, dass Kinder, wenn sie auf die Welt kommen, schon alles mitbringen, was sie für eine lebensfrohe, selbstbewusste und verantwortungsvolle Gestaltung ihrer Welt brauchen, nämlich die Grunderfahrung der Verbundenheit und die Erfahrung, immer weiter und über sich hinausgewachsen zu sein. Solange sich ein Kind verbunden fühlt, wird es „spielerisch erproben, was alles geht und wie etwas gehen könnte. Dabei erwirbt es immer mehr Wissen und Können und erlebt sich als autonomer Gestalter all dessen, was es macht. Diese beiden miteinander verkoppelten Grunderfahrungen von Verbundenheit einerseits und Autonomie andererseits werden fest im Hirn verankert und bestimmen daher die Erwartungen aller Kinder, überall auf der Welt“ (Gerald Hüther, André Stern S. 13 f.). Wenn man Kinder frei spielen lässt, werden sie all das aus freiem Antrieb lernen, was sie zur autonomen und verantwortlichen Gestaltung ihrer Welt brauchen. Geschenke braucht es dafür nicht. „Ein Kind, das einfach nur geliebt wird, weil es da ist, braucht eigentlich keine Geschenke. Viele Erwachsene […] verteilen […] deshalb Geschenke an ihre Kinder, weil […] sie hoffen, dass die ihnen anvertrauten Kinder ihnen dann besser folgen. Meist sind das Eltern oder Großeltern, die eine sehr klare Vorstellung davon haben, worauf es im Leben ankommt – eine Vorstellung, die sie auf das Kind übertragen […]. Sie sind dann bereit, alles dafür zu tun, dass es das […] Kind später einmal ›besser hat‹ […]. Die Kinder sollen also den Traum erfüllen, den sie selbst zu verwirklichen nicht imstande waren“ (Gerald Hüther, André Stern S. 24 f.).

Was ist dann aber die Alternative zur in Geschenken versteckten Verführung? Kinder brauchen genügend Zeit, Gelegenheiten und Erfahrungsräume, in denen sie Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft entwickeln können. „Damit sie lernen können, welche Begabungen und Talente in ihnen stecken, müssten sie ihre Fähigkeiten spielerisch herausfinden und erproben können. Damit sie Gefahren vermeiden lernen, müssten sie genügend Gelegenheit haben, gefährliche Situationen allein, nur im Notfall mit Unterstützung Erwachsener zu meistern. Damit sie selbst Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen können, müsste ihnen die Möglichkeit geboten werden, sich für etwas oder jemand verantwortlich zu fühlen und dafür einzustehen“ (Gerald Hüther, André Stern S. 26 f.).

Der von Arno Stern entwickelte Malort (vergleiche dazu https://www.arnostern.com/de/malort.htm undhttps://www.youtube.com/watch?v=E9210eQ_dmY) ist für seine Söhne Betrand (vergleiche dazu etwa https://www.youtube.com/watch?v=Bkrfx8jAfcM) und André Stern (vergleiche dazu https://www.youtube.com/watch?v=0GTnh08Ir_U) zum Ausgangs- und Inspirationsort für ihre Vorstellung von freier Entwicklung und Bildung geworden: Ihr Vater versteht sich bei seiner Arbeit im Malort als selbstver-ständlicher und uneigennütziger Diener der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die dort auf unbemalten weißen Blättern ihre Farbspuren ziehen und gleichsam spielerisch ihren eigenen Mal-Weg finden. Wer das Glück hatte, Arno Stern bei seiner Arbeit im Malort zu erleben und zu sehen, wie er den Malenden in großer Selbstverständlichkeit und ohne jede herrschaftliche Attitüde die Farbe weiterreicht, die sie für das Weiter- und Fertigmalen ihrer Bilder brauchen, wird verstehen, was den Unterschied zwischen dem Einräumen von Gestaltungsspielräumen und Verführen ausmacht. Kinder machen ihre wichtigsten Lernerfahrungen nicht, „wenn sie von Erwachsenen unterrichtet, ›gebildet‹ und ›erzogen‹ werden, das heißt, wenn diese ihnen einen genauen Weg vorzeichnen und Handlungsanweisungen mitliefern, sondern indem sie selbst spielerisch ausprobieren, was alles möglich ist und auf welche Weise es funktioniert. Selbst mit dem Mund bestimmte Töne erzeugen, den eigenen Körper so lenken, dass sie von einem Ende des Zimmers an das andere gelangen, mit den Händen einen Turm aus Bauklötzen bauen. Und wenn ihre Freude über das, was ihnen gelingt, auch noch diejenigen freut, die dieses Kind begleiten, versuchen sie es immer wieder. So erlernen Kinder nicht nur das Krabbeln und Laufen, sondern auch die Sprache sprechen, auf Bäume klettern, Dämme bauen, Schwimmen, Flöte spielen, auf Grashalmen pfeifen, Fahrrad fahren, das Smartphone bedienen, etwas zeichnen, mit Pfeil und Bogen schießen, auch lesen, schreiben und rechnen – das alles und noch viel mehr nur dadurch, dass sie es zunächst spielerisch ausprobieren und – wenn es gelingt und sie sich darüber freuen, dass es ihnen gelingt – immer wieder üben, bis sie es schließlich immer besser können“ (Gerald Hüther, André Stern S. 37 f.).

Was Kinder also brauchen ist, dass sie von denen, die sie begleiten, bedingungslos geliebt werden. „So einfach ist das und doch so schwer. Denn was bezeichnen wir nicht alles als Liebe, obwohl es damit nichts zu tun hat […]. Es scheint so, als müssen wir erst noch lernen, was Liebe bedeutet. Liebe ist nicht einfach nur Wertschätzung und Respekt, auch nicht bedingungslose Hingabe. Ein Kind zu lieben heißt auch nicht einfach, es nur so anzunehmen, wie es ist, ohne sich darum zu kümmern, was es macht und ob es sich dabei möglicherweise allzu sehr verrennt. Kinder brauchen liebevolle Begleiter, die ihnen helfen, sich auf dem Weg, den sie für ihr Leben suchen, nicht so sehr zu verirren, dass sie später nicht wieder zurückfinden. Deshalb ist Liebe kein Gefühl, sondern eine innere Einstellung und Haltung, die Entwicklung ermöglicht […]. Um eine Liebende oder ein Liebender zu werden, bedarf es einer vom Herzen getragenen, aber auch gleichzeitig bewusst getroffenen Entscheidung. Und wenn es die Liebe ist, die uns hilft, Verwicklungen zu vermeiden und Entwicklungen zu ermöglichen, dann kann man nicht lieben, ohne alles dafür zu tun, dass genau das auch wirklich geschieht. Kinder, die auf diese Weise erfahren, was es bedeutet, bedingungslos geliebt zu werden, brauchen dann keine Geschenke mehr“ (Gerald Hüther, André Stern S.73 f.). 

Dass man in anderen Kulturen wie zum Beispiel in Indien völlig anders über Geschenke denkt, sei nur noch angemerkt: In Indien ist es in der Mittel- und Oberschicht völlig üblich und normal, dass man dem Kind bei jedem gemeinsamen Einkauf ein Geschenk zukommen lässt und das mutmaßlich nicht deshalb, weil man es sich leisten kann, sondern deshalb, weil dort Geschenke als Ausdruck der Zuwendung und der Liebe gelten.

ham, 22. Oktober 2019

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