Künstlerbuch mit Texten von Nadine Olonetzky & Franziska Kunze
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2019, ISBN 978-3-85881-62-4, 132 Seiten, 93 großteils ganzseitige Farbtafeln, Hardcover in Leinen gebunden, Format 33,5 x 22,5 cm, € 48,00 / CHF 59,00
›Blossom‹ meint als Substantiv insbesondere die fruchtbildende Blüte, aber als Schmeichelwort auch ›meine Blüte‹: ›(du) Süße‹, als Verb ›blühen‹, ›erblühen‹ und ›sich entfalten‹. Das Aufblühen von Schnittblumen, die Pracht von Blumensträußen und ihr Verblühen fasziniert die 1945 in der Schweiz geborene und seit 1968 in Zürich lebende Fotografin Anna Halm Schudel seit 25 Jahren. Sie fotografiert die Blumen nicht im Garten, sondern holt sie zu sich ins Fotostudio und hält die sich von Tag zu Tag verändernde Farbigkeit ihrer Blüten in hochaufgelösten Farbaufnahmen fest: „Schneeglöckchen, Passionsblumen und elegante Calla; Iris, Tulpen, edle Rosen; Mohn, Sonnenblumen, Gladiolen und üppige Pfingstrosen; Veilchen, Lilien und krause Nelken; Anemonen und Chrysanthemen, fröhliche Dahlien; robuster Eisenzeit, Ranunkeln und Rittersporn; Seerosen, Amaryllis, Hortensien und exzentrische Artischocken. Sie feiert ihre Schönheit, ihre Vielgestaltigkeit. Doch Anna Halm Schudel geht weit darüber hinaus. Mit dem Objektiv ihrer Kamera zoomt sie sich in die Kelche hinein. Zeigt, Pfingstrosen, die ihre Kronblätter lasziv von sich strecken, ihren Kranz Staubblätter offenlegen. Sie schaut auf den haarigen, sich windenden Stängel des Mohns, auf seine wie feinstes Krepppapier geformte Kronblätter, die ein einziges Verlangen auszudrücken scheinen […]. In ihren Bildern geht es um Schoss und Schössling, um Trieb und Triebe. Um Erblühen, Sein. Wir erkennen in ihnen eine Hingabe, ein Sichweitergebenwollen trotz der Bedingungen, die die Welt bietet“ (Nadine Olonetzky). Und wir sehen, dass ihre Pracht vergänglich ist: Wir erkennen das Memento mori.
Halm Schudel legt mit ihrem Künstlerbuch ein auf zentrale Arbeiten ihrer Werkgruppen ›Tableaux‹, ›Alte Tulpen‹, ›Tulpen Fotogramm‹, ›Tulpen‹, ›Blumen‹, ›365 Blumen‹, ›Blumenmeer‹ und ›Trash Flowers‹ (vergleiche dazu http://www.fotoschudelhalm.com/tableaux.php) konzentriertes Kompendium ihres fotografischen Hauptwerks vor. ›Blossom‹ setzt auf minimalistische Gestaltung, unkommentierte Bilderstrecken, die beiden Essays und eine Liste mit angedeuteten Bildtiteln und verzichtet auf jede weitere Erläuterung. Die einander gegenüberliegenden Seiten des Bildteils sind in ihrer Anmutung und Farbwirkung aufeinander abgestimmt. So stehen der gelb aufgeblühten Seerose aus dem Jahr 2005 die Blütenstängel einer blau grundierten Artgenossin von 2002 gegenüber. Zur lila dominierten Artischocke von 2004 treten das Rot und das Grün von von Seifenblasen umspielten Mohnblumen. Einer grün-roten Calla von 2002 ist das dunkle Rot einer aufgeblühten Rose an die Seite gestellt und dem Gelb, Rot und Blau verwelkender Lilien die nahezu weißen Fotogramme von Tulpen.
Das von A wie Allium bis Z wie Zinnie alphabetisch geordnete Verzeichnis listet die Namen der Blumen und die Anzahl ihrer Abbildungen auf. Die Liste kommt ohne weitere Verweise aus und die Bildtableaus ohne Seitenangaben. Deshalb ist man insbesondere bei den Makroaufnahmen vor die Frage gestellt, welche Blumen man vor sich hat. Das ist nicht ohne Reiz, weil man doch meint, man würde die Blumen kennen.
Anna Halm Schudel spricht mit Blick auf ihre Vergangenheit davon, dass die Schönheit der Blumen sie gerettet hat. „›Meine Kindheit war schrecklich. Es gab keine Freude darin. Und als mir mein Vater vorschlug, seine Sinar-Planfilmkamera zu nehmen und Fotografin zu werden, war dies zunächst nur eine Gelegenheit für mich, von zuhause wegzugehen›. Die Idee einer […] Laufbahn im Bereich des Modedesigns […] gab Anna Halm Schudel zugunsten des Fotografiestudiums in Vevey auf. Und so zog sie 1964 […] in die französische Schweiz. Dort erlernte sie das Handwerk insbesondere im Hinblick auf dessen gebrauchsfotografische Anwendung in der Studiofotografie. ›Rückblickend betrachtet, hat sich […] schon früh meine Vorliebe für das Blumenmotiv abgezeichnet. Ich erinnere mich, wie ich hie und da scheinbar beiläufig Blüten in meine Gebrauchsfotografie integrierte, ohne jedoch gross darüber nachzudenken‹. Die bewusste Hinwendung […] erfolgte erst später“. Halm Schudels Aussage, dass die Schönheit der Blumen sie gerettet hat, „bezieht sich […] auf das Buch ›Quand la Beauté nous sauve‹ des französischen Philosophen und Schriftstellers Charles Pépin, den sie tief verehrt“. Für Pépin ist die Schönheit nichts anderes als ästhetische Emotion: „›La beauté? Il faudrait plutôt dire: l’émotion esthéthique‹. ›Er drückt genau das mit Worten aus, was ich mit meinen Fotografien anstrebe‹“ (Franziska Kunze / Anna Halm Schudel).
ham, 30. Juli 2019