Helmut K. Seitz, Ingrid Thoms-Hoffmann
Die berauschte Gesellschaft
Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich
Kösel-Verlag, Verlagsgruppe Random House, München, 1. Auflage 2018 / 2. Auflage 2019, ISBN 978-3-466-37222-5, 169 Seiten, Hardcover, Pappband, Format 22 x 14 cm, € 19,00 (D) / € 19,60 (A) / CHF 26,90
Mark Forsyth
Eine kurze Geschichte der Trunkenheit
Der Homo alcoholicus von der Steinzeit bis heute
Aus dem Englischen von Dieter Fuchs
Klett-Cotta, Stuttgart, 1. Auflage 2019 / 2. Auflage 2019, ISBN 978-3-608-96407-3, 272 Seiten, gebunden, bedrucktes Leinen mit Lesebändchen und farbigem Vorsatz, 20,00 € (D) / 20,60 (A)
Das Sachbuch Die berauschte Gesellschaft des Honorarprofessors für Innere Medizin, Gastroenterologie und Alkoholforschung der Universität Heidelberg mit Ordinariatsgleichstellung, Ärztlichen Direktors der Krankenhäuser Salem und St. Vincentius , Heidelberg, Chefarztes der Medizinischen Kliniken Krankenhaus Salem und St. Vincentius, Heidelberg und Direktors des Alkoholforschungszentrums (AFZ) der Universität Heildelberg Helmut K. Seitz und der Journalistin Ingrid Thoms-Hoffmann parallel zur Kurzen Geschichte der Trunkenheit des englischen Literaturwissenschaftlers, Linguisten und Autors Mark Forsyth zu besprechen ist eigentlich schon deshalb nicht möglich, weil sich die nüchterne naturwissenschaftliche Beschreibung der Ursachen der Alkoholabhängigkeit und ihrer Auswirkungen auf die Genese von über 200 Krankheiten, Organschäden, Krebs und auf das ungeborene Kind schwer mit der mit leichter Feder, englischem Humor und Ironie zu Papier gebrachten feucht-fröhlichen Kulturgeschichte der Trunkenheit vergleichen lässt. Zum anderen deshalb, weil der ständige Umgang mit Alkoholkranken zu einem anderen Blick auf Alkohol führt als die Überzeugung, dass Trunkenheit von der Ursuppe an zur evolutionären Vorgeschichte der Menschheit gehört. Und schließlich auch deshalb, weil das Wissen, dass allein in Deutschland 20 000 bis 30 000 Menschen nicht an den Folgen der alkoholischen Lebererkrankung sterben müssten, zu einem völlig anderen Menschenbild führt als die Einsicht, dass Menschen keine Antwort auf die Frage haben, vor was sie davonlaufen, wenn sie trinken:
„Seitdem die Menschheit von den Bäumen gestiegen ist (mit der nützlichen Mutation in den ethanol-aktiven Alkoholdehydrogenasen der Klasse IV), stellen wir uns zwei Fragen: ›Soll das wirklich alles sein?‹ und ›Muss ich wirklich?‹ Jede Gesellschaft ist ein Gebäude aus Regeln“, denen wir ab und zu entfliehen müssen. „Die Menschheit hat die geradezu zwanghafte Angewohnheit, Regeln aufzustellen und sie dann wieder zu brechen. Das macht die Menschheit zwar ein wenig lächerlich, gleichzeitig aber auch ein wenig großartig. Die Antwort auf die andere Frage ist ebenfalls ›alkoholischer‹ Natur. ›Soll das wirklich alles sein?‹ Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber […] Menschen sind niemals zufrieden, und auch das zeugt von ihrer Größe. Ständig suchen wir nach neuen Meeren, die wir überqueren können, aber nicht, weil wir das müssten, sondern einfach, weil uns langweilig ist. Wir reden gerne von ›letzten Wahrheiten‹, aber wenn wir sie denn je fänden, wären wir in Ermangelung weiterer doch maßlos enttäuscht. Wir sehnen uns nach einem Gott, den wir nicht beschreiben können, weil die einzige Beschreibung, zu der wir als Menschen imstande sind, die eines besonders gerissenen Magiers ist, und wir doch genau wissen, dass er mehr als nur das sein muss. Gott kann niemals langweilig sein. Und uns Menschen ist niemals langweilig, wenn wir betrunken sind. William James hat es wohl am besten auf den Punkt gebracht: ›Nüchternheit verkleinert, unterscheidet und sagt Nein. Trunkenheit vergrößert, vereinigt und sagt Ja.‹
Trunkenheit ist eine Anhäufung von Widersprüchen, weil sie zu allem ja sagt. Manchmal stiftet sie Streit, manchmal aber auch Frieden. Sie lässt uns singen und sie lässt uns einschlafen. Für die Griechen war sie ein Prüfstein der Selbstdisziplin, für die Nordländer eine Quelle der Poesie […]. Sie ist die Freude der Könige und gleichermaßen ihr Untergang. Sie ist der Trost der Armen und der Grund ihrer Armut. Für die Regierungen ist sie Auslöser von Revolten und Garant von Steuereinnahmen. Sie ist der Beweis von Männlichkeit, ein Vernichter der Männlichkeit, ein Mittel der Verführung und einer willigen Weiblichkeit. Trunkenheit ist eine Seuche und todbringend, ein Geschenk der Götter. Sie ist ein Muss für den Mönch und das Blut des Messias. Trunkenheit ist eine Möglichkeit, Gott zu erfahren und letzten Endes ist sie ein Gott. Deshalb wird es sie auch immer geben“ (Mark Forsyth S. 257 f.).
Für den Alkoholforscher und Arzt Seitz ist Trunkenheit dagegen eine immer noch völlig unterschätzte Gefahr. Über diese Gefahr will er aufklären und Wege zur Heilung aufzeigen. „Dass auf diesem Weg auch mit alten Märchen wie ›das tägliche Viertel Rotwein tut dem Herzen gut‹ oder ›ein Glas Sekt hat noch keiner Schwangeren geschadet‹ aufgeräumt werden muss, ist zwingend notwendig. Auch sollte sich ins öffentliche Bewusstsein eingraben, dass es nicht der arme Hartz-IV-ler ist, der zu tief ins Glas schaut, sondern es ist in viel stärkerem Maß der erfolgreiche Akademiker, der sich nicht am Teeglas festhält. Mein Patient mit dem höchsten Alkoholkonsum, zumindest, was die Flüssigkeitsmenge anging, war ein Jurist, mit zwei Kästen Bier am Tag […]. Interessant ist, dass trotz der hohen gesundheitlichen Gefahren kaum öffentliche Gelder für die Alkoholforschung in Deutschland fließen und dass zudem das öffentliche wie fachspezifische Interesse der Ärzte zu diesem Thema doch recht begrenzt ist […]. Heute werden etwa
30 % aller Lebertransplantationen an Menschen ausgeführt, die sich noch nie mit den Gefahren des Alkohols ernsthaft auseinandergesetzt haben. Damit liegen wir in Europa an der Spitze. Nur noch übertroffen von einigen osteuropäischen Ländern und weit vor Italien, Spanien oder auch Frankreich“ (Helmut K. Seitz S. 12).
„Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit – und seit 1968 in Deutschland als solche anerkannt. Seitdem übernehmen die Krankenversicherungen und die Rentenversicherungsträger die Kosten einer Behandlung. In der Regel verläuft die Behandlung in vier Schritten: Beratung, Entzugsbehandlung, Entwöhnung und Nachsorge. Die Experten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen die Schritte aus der Sucht und sprechen die Betroffenen direkt an: Die notwendigen Schritte: In der Suchtberatung führen Sie Gespräche mit einer fachkundigen Beraterin oder einem Berater. Über einige Wochen hinweg treffen Sie sich in der Regel einmal in der Woche in der Beratungsstelle. Ziel ist es, das Ausmaß Ihres Alkoholproblems und Ihre Lebensumstände kennenzulernen. Anschließend planen Sie gemeinsam mit Ihrem Berater oder Ihrer Beraterin die nächsten Schritte und beginnen mit der Umsetzung“ (Helmut K. Seitz S. 157).
Gleichwohl ist es über den Vergleich der unterschiedlichen Perspektiven hinaus lohnend, Seitz und Forsyth parallel zu lesen, weil beide von sich sagen, dass sie sich beim Konsum von Alkohol immer zurückgehalten haben. Seitz bekommt nach zwei, drei Gläsern Wein „schreckliche Kopfschmerzen, das ist zwar nicht schön, aber so bin ich wenigstens gegen Alkoholschäden etwas gefeit. Dass ich mich in puncto Alkohol immer etwas zurückgehalten habe, hat, ehrlich zugegeben, ursprünglich damit zu tun. Längst, bevor mich dieses kleine Molekül Ethanol […] nicht mehr losgelassen hat. Bis heute. Denn wir kennen auf diesem Gebiet längst nicht alles, aber wir werden immer ein Stück schlauer“ (Helmut K. Seitz S. 9). Forsyth sagt dagegen schlicht und einfach, dass er leider überhaupt nicht weiß, „was Trunkenheit ist […]. Ich würde aber sagen, dass ich zumindest grob weiß, worum es geht. Seit dem zarten Alter von vierzehn Jahren habe ich ausgiebige empirische Studien zur Trunkenheit betrieben. In vielerlei Hinsicht sehe ich mich daher in der Nachfolge des heiligen Augustinus, der philosophiert hat: ›Was ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, weiß ich es nicht. Man ersetze Zeit durch Trunkenheit, dann versteht man meine heiligmäßige Situation. Ich kenne die grundlegenden medizinischen Fakten. Ein paar Gin Tonics beeinträchtigen deine Reflexe. Ein Dutzend oder mehr bringen dich in erneuten Kontakt mit deinem Mittagessen und erschweren dir das Aufstehen. Eine ungewisse Anzahl, deren Präzisierung ich aber nicht leisten möchte, bedeuten deinen Tod. Nur handelt es sich nicht um das, was unserem Wissen nach die Trunkenheit (im Sinne des Augustinus) ist“ (Mark Forsyth S. 7 f.)
Schließlich sind sich Seitz und Forsyth darin einig, dass ein geregelter Alkoholkonsum und weniger Alkohol mehr sein kann (vergleiche dazu Helmut K. Seitz S. 12 und Mark Forsyth S. 12). Und nicht zuletzt zeigen die ungewöhnlich rasch erfolgten Zweitauflagen beider Publikationen, dass sie einen Nerv gegenwärtigen Nachdenkens über einen sachgemäßeren Umgang mit Alkohol treffen.
ham, 13, Mai 2019