C.H.Beck, München, 2019, ISBN 978-3-406-73141-9, 189 Seiten, 11 Abbildungen, 1 Karte, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,2 cm, € 19,95
Unter den Zeugen der Auferstehung Jesu ist der Völkerapostel Paulus nach seinem um das Jahr 55 geschriebenen Ersten Brief an die Korinther der letzte (1. Korinther 15, 8). Bei Jesu Kreuzigung auf Golgatha war er wohl nicht dabei. Er sieht sich als unzeitige Geburt und als der geringste unter den Aposteln, der es nicht wert ist, Apostel genannt zu werden, weil er die Gemeinde Gottes verfolgt hat. Seine Begegnung mit dem Auferstandenen geht auf seine Christusvision vor Damaskus zurück. Zweifel an der leiblichen Auferstehung Jesu gab es schon damals. „Wenn aber Christus gepredigt wird, dass er von den Toten auferweckt ist, wie sagen dann einige unter euch: Es gibt keine Auferstehung der Toten? Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferweckt worden. Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“ (1. Korinther 15, 12 – 14). Für den international renommierten Mittelalterhistoriker und Pfarrerssohn Johannes Fried erübrigt sich jeder Zweifel. Für ihn ist Jesus nicht auferstanden, sondern aufgestanden. Er hat seine Kreuzigung auf Golgatha überlebt. Jesus war nach Fried wie schon für Friedrich Schleiermacher und etliche andere auch nicht tot, sondern scheintot. Neu ist nur die von Fried vorgetragene Begründung:
Nach Frieds Rekonstruktion war Jesus durch die Folter nach dem Verhör durch Pilatus schon so geschwächt, dass er auf dem Weg nach Golgatha zusammengebrochen ist und ein anderer sein Kreuz tragen musste. „Dieser Schwächeanfall dürfte auf Atemnot infolge innerer Verletzungen der Atmungsorgane durch das Auspeitschen, etwa durch einen Rippenbruch mit Verletzung der Pleura“, des Brustfells, „verweisen, mithin ein erstes Anzeichen für einen Pleuraerguss. Der Stress am Kreuz steigerte die Atemnot. Der Evangelist Johannes registriert den Durst des Gekreuzigten: ›Mich dürstet.‹ Das verweist auf den 68. (69.) Psalm, vor allem aber ist es ein Symptom der durch die Hyperkapnie (Anstieg des Kohlendioxids in der Lunge) hervorgerufenen reflexhaft verstärkten Atmung, um das Kohlendioxid abzuatmen. Essig (saurer Wein) kann tatsächlich für eine kurze Zeit eine gewisse Abhilfe schaffen, eine flache Atmung in Gang halten und das drohende Ersticken hinauszögern. Jesus wurden die Beine nicht […] gebrochen, um den Tod zu beschleunigen. Diese Schonung erleichterte das Überleben und spätere Aufstehen und Fortgehen. Jesus war zunächst in eine tiefe, narkoseähnliche CO2-Ohnmacht gefallen; man konnte ihn für tot halten. Sein Retter aber war nahe, jener römische Soldat nämlich, der ihm zufällig in die betroffene Seite stach. Das war kein Todesstoß […], vielmehr ein Kontrollstich in die Rippen, um zu prüfen, ob der Gekreuzigte tot war. Er war es nach Meinung der Soldaten […]; jener, der gestochen hatte, sah, dass Blut und Wasser aus der Wunde flossen, und bezeugte es […]. Die Wunde […] brachte die Rettung, die Atmung setzte wieder ein. Der Stich in die Seite […] ließ das Wasser-Blut-Sekret abfließen; er wirkte wie eine Entlastungspunktion und linderte die Atemnot. Die verzögerte Sauerstoffzufuhr im Hirn sorgte zwar für eine noch anhaltende Ohnmacht und ließ Jesus noch tot erscheinen; aber eine flache, kaum wahrnehmbare Atmung (vielleicht mit einem Lungenflügel) war nicht verwehrt; das ist der klare Befund heutiger Pathologen mit Erfahrung in der Behandlung eines hämoragischen Pleuraergusses […].
Wegen des bevorstehenden Sabbats wurde Jesus eilig vom Kreuz abgenommen, sein Leib gewaschen und in ein neues Grab gelegt, dessen Kühle den Folterungsstress abklingen ließ und mit Körperzittern die Rückkehr des Lebens verhieß. Kundige Helfer […] hielten einen aus der Ohnmacht Erwachten in ihrem Armen“ (Johannes Fried S. 36 ff.). Verschwiegene Freunde sollen sein Grab geöffnet, ihn aus dem Grab heraus geschleust und gesund gepflegt haben. Danach soll er sich in die Dekapolis, in das heutige Jordanien, später nach Ägypten und danach womöglich nach Ostsyrien zurückgezogen haben, um möglichen Denunziationen zu entgehen.
Fried entwickelt seine Hypothesen im Rahmen seiner als neurokulturelle Geschichtswissenschaft angelegten historischen Memorik. In diesem Denkrahmen ergänzen Forschungsansätze der Psychologie, der Hirnforschung und der Anthropologie die in der Geschichtswissenschaft gängige Auswertung historischer Quellen. Seine Abhandlung „Kein Tod auf Golgatha“ erweitert diesen Denkrahmen um Argumente der Medizin und der Psychopathologie. Sein gedächtniskritischer Forschungsansatz will helfen, den Schleier der Erinnerung zu lüften und ans Licht zu bringen, was historisch gesehen hinter dem christlichen Bekenntnis steht, dass Christus gestorben, begraben und am dritten Tag auferweckt worden ist.
Aber die Antwort auf die Frage, ob die neutestamentlichen Texte vom Tod und der Auferweckung Jesu eher als Zeugnisse des Glaubens oder als Berichte von einem säkularen historischen Ereignis gelesen werden müssen, bleibt bis heute umstritten. Fried weiß das. Deshalb arbeitet er sich in die zweitausendjährige Auseinandersetzung um Tod und Auferstehung Jesu ein und erinnert unter anderen an die Positionen von Markion, Tertullian, an die der Gnosis und des Korans und schließlich auch an die von Hermann Samuel Reimarus, David Friedrich Strauß, Rudolf Bultmann und an die von Gerd Lüdemann. Die Position des durch seine Kritik am säkularen Wirklichkeitsverständnis bekannt gewordenen Theologen Wolfhart Pannenberg lässt er außen vor (vergleiche dazu und zum Folgenden Wolfhart Pannenberg, Die Auferstehung Jesu – Historie und Theologie, ZThK 91, 318.328, http://goettingen.interseth.de/wp-content/uploads/2017/05/Pannenberg-Die-Auferstehung-Jesu.pdf): Wolfram Pannenberg hat vorgeschlagen, Geschichte als Universalgeschichte und als zielgerichteten Prozess zu denken, der nur von seinem möglichen Ende her zu verstehen ist. Geschichte wäre demnach das in das zwischen Verheißung und Erfüllung eingespannte Geschehen, die Wirklichkeit in ihrer Totalität. Alle theologischen Fragen und Antworten hätten ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte, die Gott mit der Menschheit und durch sie mit der Schöpfung hat. Geschichte wäre auf eine Zukunft hin ausgerichtet, die der Welt noch verborgen, aber in Jesu Tod und Auferstehung schon jetzt offenbar ist. In diesem Rahmen wäre die Auferstehung Jesu ein universalhistorisches Ereignis.
Frieds Denkrahmen bleibt der Profangeschichte verhaftet, seine historische Memorik säkular. Aber weil er als säkular argumentierender Historiker glaubt, plausibel dargelegt zu haben, dass Jesus seine Kreuzigung auf Golgatha überlebt hat, wird er wohl gerne auf Pannenbergs universalhistorischen Denkrahmen und die Zustimmung zum christlichen Bekenntnis zu Tod und Auferweckung Jesu verzichtet haben. Ob die Community der Historiker, Theologen und Rezensenten seinem historischen Vorschlag folgt, dass Jesus am Kreuz von Golgatha scheintot war und nach seiner narkoseähnlichen Ohnmacht wieder aufgestanden ist, wird sich zeigen. Erste Reaktionen sprechen eher dagegen (vergleiche dazu unter anderem https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/kein-tod-am-kreuz-warum-die-scheintod-these-nicht-tragt / https://www.radiobremen.de/bremenzwei/rubriken/buchtipps/fried-golgatha100-popup.html / https://www.kirche-und-leben.de/artikel/hat-jesus-das-kreuz-ueberlebt/ / https://www.welt.de/kultur/plus187749144/Renommierter-Historiker-Jesus-ist-nie-auferstanden-weil-er-nicht-starb.html / Peter Dausend, Jesus, Toni und der Dandy. Was ein Historiker über die Kreuzigung auf Golgatha sagt – und wer sonst nach seinem Ableben noch putzmunter ist. In: Die Zeit Nr. 8, 14. Februar 2019, S. 11 / https://www.sueddeutsche.de/kultur/jesus-kreuzigung-katholische-kirche-johannes-fried-kein-tod-auf-golgatha-rezension-1.4324058 / https://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.neues-buch-von-johannes-fried-doch-kein-tod-auf-golgatha.b8430df7-e2cb-486a-95d5-db7f19dcb385.html / http://www.badische-zeitung.de/literatur-und-vortraege/johannes-fried-glaubt-nicht-an-jesu-tod-am-kreuz–166482104.html).
ham, 8. März 2019