André Butzers N-Bilder
Edition Linn, Heidelberg / VfmK Verlag für moderne Kunst, Wien, 2018, ISBN 978-3-903269-08-8, 104
Seiten, Broschur, Format 20 x 14,5 cm, € 12,00
Lena Tilks Untersuchung gehört zu den sechs besten studentischen Forschungsarbeiten der Ludwig
Maximilian Universität München aus dem Bereich der Kunst- und Geisteswissenschaften, die an der
Vorauswahl für die Nominierung zum LMU Forscherpreis 2018 beteiligt waren. Tilk schlägt vor, André
Butzers N-Bilder auf dem Hintergrund des spannungsreichen Verhältnisses von Abstraktion und
Gegenständlichkeit in der Kunstgeschichte und Kunsttheorie zu betrachten. Hierzu erläutert sie die
antagonistische Beziehung diskursgeschichtlich und versucht, die Begriffe semiotisch zu fassen. Sie geht von
Charles S. Peirces Annahme aus, dass Zeichen eine Stellvertreterfunktion für etwas Abwesendes einnehmen
und fragt dann, wie sich mithilfe der Semiotik klären lässt, ob ein Bild gegenständlich oder ungegenständlich
ist.
„Essentiell für die Beantwortung dieser Frage ist die Kategorie der Ähnlichkeit […]. Gleichzeitig bedarf es
allerdings eines Minimalmaßes an Unterschieden zwischen Zeichen und Objekt, so dass Ersteres im Prozess
der Semiose als Zeichen definierbar bleibt […]. Peirce hat für diese Form des auf Ähnlichkeitsbezügen
basierenden Zeichens den Begriff des >Hypoikon< eingeführt […]. Im Umkehrschluss […] wäre ein
ungegenständliches Bild eine visuelle Struktur, die kein Objekt abbildet, mit welchem es durch die
Relationen der Ähnlichkeit verbunden ist […]. Anders als bei narrativ-gegenständlichen Bildern […] liegt
der autorenintentionale Inhalt außerhalb der Ontologie der gemalten Erscheinung. Bei ungegenständlichen
Bildern tritt somit ein dysfunktionaler Verknüpfungsprozess zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem
zutage. Die Erzeugung von Inhalt und Bedeutung vollzieht sich hier auf einer außerhalb des semiotischen
Prozesses liegenden gedanklichen Ebene, die ihrerseits aber kontextuale, der allgemeinen kausalen Situation
unterworfene Bildimplikationen in den ästhetischen Prozess von Bildwahrnehmung inkludiert“ (Lena Tilk S.
17 f.). Innerhalb der Peirceschen Semiotik würde man von einem >genuinen Ikon< sprechen. Das genuine
Ikon ist Zeichen, weil allein seine eigenen Qualitäten es zu einem solchen machen. „Ungegenständliche
Bilder sind somit selbstreferentielle Zeichenstrukturen, die gleichsam auf sich selbst rekurrieren“ (Lena Tilk
S. 18). Ihr Inhalt und ihre Bedeutung liegen außerhalb der rein strukturellen, semiotisch fassbaren
Bilderscheinung.
Von einem erweiterten Zeichenbegriff aus lassen sich Bilder nach Tilk sowohl als indexikalische als auch
symbolische Zeichen ihres Entstehungskontextes begreifen. „Die durch die parasemiotische Beschaffenheit
abstrakter Bilder ins Bild-Außen verlagerte Inhaltsdimension wird so zu einem Zusammenspiel von
autorintentionalen Bildimplikationen und historischen Bedingtheiten. Der Inhalt besteht demnach auf der
epistemologischen Ebene kulturell kursierender Bedeutungskonzepte und manifestiert sich schlussendlich in
der spezifischen Erscheinung des Bildes. Jedoch ist eine solche Inhaltserfahrung von der spezifischen
kulturellen Prägung, der literarischen Schulung und individuellen Sensibilität des Betrachters
abhängig“ (Lena Tilk S. 21).
Dass André Butzer apodiktisch postuliert, dass es „in der Geschichte der Kunst keine Malerei“ gibt, „die
nicht abstrakt ist“ (André Butzer nach Lena Tilk S. 51), hat Lena Tilk nicht davon abgehalten, seine
zwischen 2010 und 2017 entstandenen N-Bilder (vergleiche dazu https://kunstverein-reutlingen.de/andrebutzer/
und https://www.youtube.com/watch?v=392gtu_0Nrg) „kritisch auf ihre abstrakten und
ungegenständlichen sowie gegenständlichen Dimensionen hin“ (Lena Tilk a. a. O.) zu befragen. „Das, was
die N-Bilder zeigen, sind geometrisch anmutende Strukturen, denen kein spezifisches Objekt der
Lebenswirklichkeit durch Ähnlichkeit entspricht. Oft erinnern die Strukturen in ihrer morphologischen
Anlage an Rechtecke und Linien“ (Lena Tilk S. 52). Aber schon „ihre innere Zugehörigkeit zu einem
übergreifenden Werkzusammenhang lässt eine allgemeinere Inhaltsvorstellung als die bloße Darstellung
geometrischer Strukturen vermuten. So manifestiert sich in der Erscheinung der N-Bilder als >heilvolle
Zukunftsutopie< eine logisch-kohärente Fortführung des künstlerischen Bedeutungskosmos. Butzer
konzipiert die N-Bilder als bildliche Manifestation seiner eigenen Vorstellung von Welt, als einen
metaphysischen Bildort, an dem alle weltlichen Widersprüche vereint werden. Eben dieses Zugeständnis an
geistige oder spirituelle Qualitäten entspricht jenen Implikationen, die als Bestandteile abstrakter
Kunstäußerungen charakterisiert wurden“ (Lena Tilk S. 53 f.).
Der Figuration vergleichbare gegenständliche Aspekte findet Tilk in Butzers N-Bildern im leichten Vibrieren
und Schwingen der malerischen Formsetzung innerhalb der Bildgruppe. „All diese Formschwankungen sind
[…] indexikalische Verweise auf die zitternde Hand des Künstlers“. Sie übertragen „die Abkehr von der
weltlichen Geometrie gleichsam in die formale, optisch erfahrene Bilderscheinung. Auch die formale
Anordnung und die Setzung der einzelnen Formkompartimente im Bild selbst verfügen über das Potenzial,
bedeutungsstiftende Prozesse zu dynamisieren. Entscheidend ist, dass im Bild stets zwei sich in Form und
Farbe unterscheidende Strukturen Anwendung finden, deren elementares Wesen darin gründet, als getrennte
Einzelentitäten innerhalb eines Bildes zu koexistieren. Bestehen zwei Objekte innerhalb einer hermetisch
abgeschlossenen Raumkonzeption, so müssen diese Objekte zwangsläufig miteinander in Relation treten.
Das Gebot einer reziproken Beziehung intensiviert sich in den N-Bildern aber um ein Vielfaches, da die
Einzelstrukturen den zur Verfügung stehenden Raum bis an die äußeren Grenzen ausfüllen. Die gesamte
Bildfläche ist bestimmt durch die Zweiheit der dunklen und hellen Einzelformen. Individual-Distanz sowie
neutraler Raum existieren hier nicht. In absoluter Abhängigkeit bedingt eine Figur unaufhörlich das Maß und
die Erscheinung der anderen. Das, was hier zur Anschauung kommt, ist also bildnerisches Maßnehmen in
reinster Form. Form und Inhalt sind untrennbar miteinander verbunden“ (Lena Tilk S. 56 f.).
Wenn Form und Inhalt sich gegenseitig durchdringen, werden Butzers N-Bilder „zu einem Bildphänomen,
dessen elementar-erkenntnisleitende Kategorien Form und Inhalt koexistieren und in universeller Einheit
gänzlich ineinander aufgehen. Dies erinnert unweigerlich an das Peircesche Konzept des genuinen Ikons
sowie an die formalistische Vorstellung einer reinen Form […]. Das Bild wird in seiner gesamten Präsenz
selbst zum Zeichen und im gleichen Moment zum Objekt der Bezeichnung“ (Lena Tilk S. 59).
Tilk realisiert an dieser Stelle, dass die von ihr versuchte semiotische Betrachtung Bilder möglicherweise
instrumentalisiert und damit Butzers N-Bildern in ihrer existentiellen Fülle nicht wirklich gerecht wird, wenn
ihr Dasein nicht „dem kommunikativen Selbstzweck, sondern einer umfassenderen Form von Präsenz
angerechnet wird. N als außerweltliches Maß manifestiert sich hier im und am Bildort selbst und erfasst
dabei alle Schichten der äußerlichen Form. So überwindet N gleichsam die Ebene der reinen Repräsentation
und offenbart sich demgegenüber in wahrhaftiger Realpräsenz“ (Lena Tilk S. 60).
Mit dem Stichwort Realpräsenz greift Tilk auf die theologische Beschreibung der zeichenhaften Präsenz
Christi in, mit und unter den Elementen von Brot und Wein beim Abendmahl zurück, durch die die
Kommunikanten der ihnen zugesprochenen Barmherzigkeit Gottes gewiss werden: „Nehmet hin und esset!
Das ist der Leib Jesu Christi, für eure Sünden in den Tod gegeben. Nehmet hin und trinket!. Das ist das Blut
Jesu Christi, für eure Sünden vergossen“. Damit schlägt Tilk eine Brücke zur Sonderstellung der N-Bilder im
Gesamtwerk von Butzer: Für Butzer sind diese Bilder keine Zeichen, sondern Ursprungsort und existentiell
„mit der Herkunft des Lebens verknüpft. Die Menschen machen sich Bilder, weil sie von der Herkunft des
Lebens und der Simultanität von Leben und Tod Zeugnis ablegen wollen. Das ist der Bildort. Dort, wo Leben
und Tod eins sind. Das ist von vornherein […] so abstrakt, dass sich die Frage gar nicht stellt, was abstrakt
ist […]. Bilder sind reine Negativität. Das heißt, da wird nichts drauf gebracht. So dass ich eher >wegmale<
als drauf […]. Das hängt zusammen mit dem Begriff der Matrix oder Matrize“ (André Butzer S. 84 f.). Das
lateinische Wort matrix heißt unter anderem Gebärmutter. Damit entspricht es dem althebräischen Wort
rächam, Mutterleib, Mutterschoß, Gebärmutter. Das mit rächäm verwandte Wort rachamim steht in der
Hebräischen Bibel für Gottes Barmherzigkeit. Rachamim abstrahiert, was die Gebärmutter für das
heranwachsende Leben bedeutet; es definiert, was ein ungeborenes Kind im Mutterleib erfährt, ehe es ins
Leben tritt, nämlich göttliche und menschliche Zuwendung, Wärme, Geborgenheit und Schutz.
Jesaja 49,15 f. kleidet Gottes Zuwendung zum Leben in folgendes Bild: „Kann auch eine Frau ihr Kindlein
vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich
doch deiner nicht vergessen. Siehe, in deine Hände habe ich dich gezeichnet“.
Butzer fasst den Sachverhalt für sich so: N-Bilder sind eigentlich Bilder an sich – Negativitäten. „Die Matrix
also von etwas, was sich zeigt […], Zwischenräume. Diese ganzen unkalkulierbaren, irrationalen Größen, die
dazwischen sind und eben nicht deskriptiv oder positiv gesetzte Zeichen. Die Negativität dieser Matrize ist
sozusagen der Grund, auf dem alles ist. Dort ist eigentlich das Geheimnis des Bildes selbst […]. Ein Ort, aus
dem alles kommt und zu dem auch alles wieder zurückkehrt […]. Matrix ist der Ort, wo Tod und Leben
kommen und vergehen. Und die Simultaneität dieser Wege, dieser beiden Bewegungen, ist das Bild. Das ist
der Ort des Bildes“ (André Butzer S. 85).
Nach Butzer kann man sich diesem Ort annähern, muss ihn aber auch wieder verlassen, weil man dort weder
leben noch sterben kann. „Der Mensch ist dafür gedacht, in die Nähe von Wahrheit zu kommen […]. Von
dieser Nähe muss der Mensch zurücktreten, sich also zurücknehmen. Die höchste Kunst der Menschen ist die
Erkenntnis oder die Erleuchtung oder das Erreichen einer Höhe und diese Höhe dann wieder
zurückzunehmen […]. Die große Gabe des Menschen oder des Künstlers ist es, von der Höhe Abstand zu
nehmen […], weil wir nicht Gott sind. Das Bild hat eine Vermittlerfunktion zwischen Gott und Mensch. Das
Bild erzählt von Gott, schon immer, die ganze Menschheitsgeschichte. Das haben die Leute vergessen.
Das Bild erzählt von Gott oder von Göttern und zwar total abstrakt. Es kündet […] von Gottes Wahrheit und
von deren Verhältnismäßigkeit. Das Bild bildet diese Verhältnismäßigkeit in sich ab und zeigt sie dem
Menschen. Du kannst nicht so tun, als könntest du dich dort aufhalten, zumindest nicht länger als sieben
Jahre. Sich in die Nähe zu begeben heißt, dass man auch fähig sein muss, von hier zurückzutreten. Weggehen
ist schwer. Denn wohin geht man? Man geht zurück oder man kehrt wieder […]. Die Erfahrung von N ist das
ein Ende oder ist das ein Anfang?“ Ich „habe mich für den Anfang entschieden, so dass die N-Bilder im
Zentrum des Gesamtwerks stehen“ (André Butzer S. 90 f.).
„Die N-Bilder sind […] utopische Sehbilder. Sie sind aber nicht betretbar. Sie sind nicht der Ort unseres
Aufenthalts. Deswegen konnte ich mich dort nicht mehr länger aufhalten […], sonst wäre ich […]verglüht
im Kontrast. Der Kontrast ist die Verbrennung […]. Die N-Bilder handeln von Vernichtung und Verbrennung
und am Schluss wird die Fuge bei den N-Bildern braun. Die ganzen Bilder werden eher bräunlich. Braun ist
die Farbe der Wiederkehr, weil die Erde braun ist […]. Das Braune ist Demeter, die Gabe der Fruchtbarkeit.
Die Erde, die die Frucht wieder hervorbringt“ (André Butzer S. 92 f.).
ham, 8. November 2018
Download