Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-048572-1, 845 Seiten, Hardcover gebunden, Format
23,5 x 16,3 cm, € 99,95
In Wohlstandsregionen wie in Deutschland werden Menschen immer älter. Dank der neueren und neuesten
medizinischen Möglichkeiten und der verbesserten Pflege stirbt man nicht mehr einfach wie noch vor einer
oder zwei Generationen. Der genaue Todeszeitpunkt und die Art des Sterbens sind zu einer Variable
menschlicher Entscheidungen geworden. Neben der Hoffnung auf Überleben steht die Angst vor der
Abhängigkeit vor der Apparatemedizin und die Handlungsunsicherheit der Ärzte und Pflegekräfte bei
Entscheidungen und Handlungen, die zum Tod führen oder führen können. Ärzte sind verpflichtet, zum
Leben zu helfen. Dürfen sie aber auch zum Sterben helfen? Im US-Bundesstaat Oregon ist die sogenannte
Sterbehilfe seit 1997 erlaubt. In Belgien ist „Sterbehilfe“ seit 2002 unter der Voraussetzung rechtlich
möglich, dass der Patient im Moment seines Verlangens voll zurechnungsfähig ist und seinen Wunsch
freiwillig, überlegt und ohne äußeren Druck geäußert hat. Außerdem muss er sich in einer medizinisch
ausweglosen Situation befinden, in der ein anhaltendes, unerträgliches physisches oder psychisches Leid
nicht gelindert werden kann. 2013 haben sich 1816 Menschen in Belgien für die sogenannte Sterbehilfe
entschieden. 2014 ist in Belgien das vorher notwendige Kriterium der Volljährigkeit weggefallen.
Am 6. November 2015 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen
Förderung der Selbsttötung beschlossen. Nach dem neu eingeführten § 217 des Strafgesetzbuchs wird mit
einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft, wer in der Absicht, die Selbsttötung
eines anderen zu fördern, geschäftsmäßig diesem die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt.
Straffrei bleibt, wer nicht selbst geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger ist oder dem, der sich
töten will, nahesteht. Auf der anderen Seite hat das in den Paragrafen 1901 a, b und 1904 des
Bundesgesetzbuches geregelte Patientenverfügungsgesetz dazu geführt, dass der Bundesgerichtshof am
25. 06. 2010 in der Strafsache 2 StR 454/09 im Fall einer Wachkomapatientin, deren Tochter entsprechend
dem früher geäußerten Wunsch der Mutter den Schlauch einer Ernährungssonde durchtrennt hatte, um diese
in Würde sterben zu lassen, entschieden, dass der am Patientenwillen orientierte Behandlungsabbruch, der
wahrscheinlich zum Tod führt, aus rechtlicher Sicht als strafloses ›Sterbenlassen‹ und nicht als strafbares
›Töten‹ gelten kann. „Das hat […] weitreichende rechtliche Konsequenzen für die Beteiligten: Der auf dem
Patientenwillen beruhende Abbruch einer lebenserhaltenden medizinischen Behandlung stellt für den Arzt
keine Tötungshandlung i. S. des § 216 des StGB dar. Aber auch ein drohender berufsrechtlicher Nachteil
infolge eines […] geltenden Verbots der ärztlichen Beihilfeleistung zum Suizid kommt nicht in Betracht, da
der Patient sich nicht selbst >tötet<, wenn er eine lebenserhaltende Behandlung nicht (mehr) will. Suizid
begeht, wer absichtlich in seinen Lebensprozess eingreift oder aktiv eingreifen lässt, um sein Leben zu
beenden, im Falle eines Behandlungsabbruchs überlässt der Patient sich lediglich dem letztlich tödlich
endenden Verlauf seiner Erkrankung, d. h. er […] erliegt seiner Krankheit“ (Ruth Rissing-van Saal S. 666).
Das in sich extrem heterogene Handlungsfeld lebensbeendender Handlungen reicht von unstreitigen
Tötungsdelikten bis zu verschiedenen Formen der Handlungsbegrenzung im Vorfeld des Sterbens. Der
vorliegende interdisziplinäre Sammelband lotet dieses Spannungsfeld in ethischer, rechtlicher und
medizinischer Perspektive aus, um die ethische und rechtliche Grenze zwischen Handlungstypen des
>Tötens< und des >Sterbenlassens< genauer zu fassen und dadurch die Handlungssicherheit insbesondere
der klinischen Akteure zu erhöhen.
Er setzt ein mit Grundlagen der traditionellen philosophischen Handlungstheorie und der Frage, wie sich
Platon, Aristoteles, die Stoa, Thomas von Aquin, Francisco Suárez und Kant zu Töten und Sterbenlassen
geäußert haben oder geäußert haben könnten. Der zweite Teil erschließt die Begründungen zeitgenössischer
Handlungstheorien und fragt, wo die Stärken und Grenzen des Kausalitäts-, Intentitonalitäts-, des Umständeund
des Modalitätsarguments liegen. Im dritten Teil steht die medizinethische Diskussion zur
Entscheidungsfindung am Lebensende im Vordergrund. Der abschließende vierte Teil rekonstruiert die
jüngere Rechtsentwicklung in Deutschland.
Wer nicht alle 42 Beiträge des Bandes in der gewohnten Gründlichkeit lesen kann, sollte zumindest die
Aufsätze von Franz-Josef Bormann (Zur kausalen Differenz von Töten und Sterbenlassen), Eberhard
Schockenhoff (Lebensbeendende Handlungen: Grauzonen mit verfließenden Grenzen oder kategorial
unterschiedliche Handlungstypen? Zur Bedeutung des Intentionalitätsarguments), Matthias Beck (Zur Frage
der Indikation im Kontext von Töten und Sterben zulassen. Ethische Reflexionen), Volker Lipp
(Behandlungsziel und Indikation am Lebensende), Arne Manzeschke / Dörte Anderson (Ökonomische
Anreize und ihre Bedeutung für Lebensbeendende Maßnahmen. Eine ethische Perspektive); Katja
Goudinoudis („Dem Henker ein Gehilfe sein“. Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen aus der Sicht der
Pflege) und Lukas Radbruch / Christoph Ostgathe (Semantische Verschiebungen im Recht und ihre
Beurteilung aus palliativmedizinischer Sicht) genauestens studieren.
ham, 21. August 2018
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