Verlag C.H.Beck, München, 2018, ISBN 978-3-406-7142-3, 442 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag,Format 22 x 14,5 cm, € 24,96 (D) / € 25,70 (A)

Der 1967 in Siegen als Sohn iranischer Eltern geborene und unter anderem mit den Hannah Arendt- und dem
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete deutsche Schriftsteller, Publizist und habilitierte
Orientalist Navid Kermani ist zwischen 2016 und 2017 für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel von Köln
aus über Polen, Litauen, Weißrussland, die Ukraine, die Krim und Russland bis in den Iran nach Isfahan
und damit in die Heimat seiner Eltern gereist, um mit an seiner Reiseroute lebenden Menschen über ihr
persönliches Ergehen, ihre Einschätzung der geopolitischen und ökonomischen Situation ihres Landes und
ihr Verhältnis zu Europa zu sprechen. Wenn es sich ergab, wurden am Weg liegende Gedenkstätten wie die
Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus in Simferopol aufgesucht: Im Simferopol-Massaker im Dezember
1941wurden innerhalb weniger Tage auf Befehl des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS mit
Unterstützung der deutschen Wehrmacht um 11 000 Juden, 1500 Krimtschaken und 1000 Roma erschossen.
Manche sprechen von 13 000, andere von 15 000 Opfern.

Kermani gliedert seine Reise in 54 Tage, verdichtet seine Gespräche in aufschlussreichen Szenen und
unterfüttert diese mit den Lesefrüchten seiner akribischen Reisevorbereitung. Dazu treten das emotional
resonante Nachdenken über andere Lebensmöglichkeiten, Zeiten, Völker und Kulturen und die Schilderung
seiner Versuche, sich an weitgehend undurchlässige Grenzen wie die aserisch-armenische
Waffenstillstandslinie anzunähern und sie zu überwinden. In diesem Kontext kann man sich dann auch mit
der Frage befassen, warum der 1915 beginnende Völkermord an den Armeniern bis heute in der türkischen
Geschichtsschreibung nicht Genozid, sondern „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahme“ genannt wird.

Kermani bleibt bis auf das vorletzte Kapitel in der Rolle des vorbehaltlos zugewandten Beobachters, so etwa,
wenn er die im georgischen Kloster von Nekressi bei der Sonntagsmesse gefeierte orthodoxe Liturgie
nachzeichnet.

„Der georgische Ritus ist einer der frühesten christlichen Riten überhaupt. 1801 vom Zaren durch den
russisch-orthodoxen Ritus ersetzt, ab 1894 verschriftlicht, um das kulturelle Erbe zu bewahren, 1917 mit der
georgischen Unabhängigkeit mühsam wiederhergestellt, wurde er unter Stalin erneut verboten (seltsam, daß
man die Religion für alles Unheil verantwortlich macht, das in ihrem Namen geschieht, aber die
Gottlosigkeit nie). Um so gespannter bin ich, wie sich der Ritus über zweihundert Jahre nach der
Abschaffung der georgischen Autokephalie und nach siebzig Jahren Staatsatheismus erhalten hat […]. Die
orthodoxe Liturgie wird nicht in Seminaren gelehrt, sondern von Generation zu Generation weitergegeben, in
den Klöstern zumal, wo man den Gottesdienst jeden Tag über Stunden einübt […]. Als wir kurz nach acht an
dem Kloster eintreffen, das seit dem sechsten Jahrhundert einsam auf einem Berg der fruchtbaren Ebene von
Kachetien ragt, weist uns der Wärter schroff ab, da wir nicht orthodox getauft sind. Wie würde er uns wohl
anschauen, wenn wir ihm sagten, daß er einen Juden und einen Muslim vor sich hat und im Auto unsere
Fahrerin wartet, weil sie Hosen trägt? Zum Glück hat uns Schwester Mariani die Nummer des Abtes
aufgeschrieben, der auf unseren Anruf hin sogleich aus der Kirche tritt: offenbar telefoniert man hier
während des Gottesdienstes ebenso unbeschwert, wie ich es an der Klagemauer beobachtet habe. Wir seien
herzlich eingeladen, an der Messe teilzunehmen, versichert der Abt […]; nur für die Eucharistie selbst, das
bitte er uns zu verstehen, müßten wir die Kirche verlassen […]. Ja, das versehe ich gut, daß man nach den
siebzig Jahren die Regeln um so ernster nimmt.

Die Aufführung aus Stimme, Licht, Geruch, Gewändern, Bewegungen, Mimik und Architektur kommt mir
weniger komplex und artistisch, bei weitem nicht so ausführlich vor, wie ich es von den serbischen Klöstern
kenne. Weil sich die georgische Liturgie früher herausgebildet hat, daher womöglich schlichter ist? Oder weil
der Ritus nur in vereinfachter Form wiederbelebt werden konnte? Keiner der acht Mönche ist so alt, dass er
bereits in der Sowjetunion Träger der Überlieferung war; die Generation fehlt, von der sie die Tradition
hätten lernen können. Manchen Mönchen unterlaufen Fehler in der Rezitation, mehr als nur Winzigkeiten,
die vom Abt leise korrigiert werden, und ein Meßdiener hält einen Ablaufplan oder vielleicht auch einen
Spickzettel bereit, der in Plastik eingeschweißt ist. Die Fragilität des Vorgangs, die ich zu erkennen meine,
wird seltsam durch die Fragilität des Raums akzentuiert, der sein Alter auf keinem Stein verbirgt, durch die
Zartheit zumal der Fresken, gerade weil sie nicht herausgeputzt sind, sondern nur matt im Kerzenlicht
schimmern, von Rissen durchzogen wie ein uraltes Gesicht, für das siebzig Jahre kaum mehr als ein Blitz
waren, auch wenn sie fast an ihm verbrannt wären.

Mindestens so sehr wie ich ist Dimitrij beeindruckt, der in Weißrussland nicht mit der Religion
aufgewachsen ist. ›Das war ja ein Konzert‹, murmelte er […], ›eine Symphonie – Wahnsinn.‹ ›Sag ich doch‹,
erwidere ich leise triumphierend, weil Dimitrij mir vorher nicht geglaubt hat, wie schön, wirklich: im
alltäglichen Sinne schön, künstlerisch wertvoll und einfach auch überwältigend Gottesdienste sein können:
›Da kannst du doch die ganze Documenta für in die Tonne kloppen‹, gebe ich Reaktionär der
Gegenwartskunst noch einen mit“ (Navid Kermani S. 245 ff.).

Spürbares Bedauern kommt aber auf, als Kermani das Schicksal des Flusses Zâyandehrud beschreibt, der
einst Isfahan und anderen Städten Farbe und blühendes Leben gab und der jetzt ausgetrocknet ist, weil die
heutigen Machthaber sein Wasser anderen Städten zuteilen. „Der Fluß fließt nicht, nicht einmal ein Rinnsal,
das ist das Schlimmste. Der lebensspendende Fluß, Zâyandehrud. Was die iranischen Landschaften und
früher auch die Städte ausgemacht hat: die Farben, die der Wüste abgetrotzt waren, die Platanen, die alle
Hauptstraßen in Alleen verwandelten, die schmalen, auch im Sommer kühlen Kanäle, die sich in die Gassen
einschmiegten, jedes Haus um einen Garten gebaut, in dessen Mitte ein Wasserbecken, somit ein Spiegel des
Himmels lag, rings um die Städte das satte Grün der Felder und Obstplantagen, wie Paradiesblumen auf
einer Wiese verteilt die türkisen und gelben, bunt verzierten Kuppeln der Moscheen. Nirgends berühren
Farben so tief, wie wenn man aus der Wüste kommt. Die ganze fünftausendjährige Zivilisation Irans beruht
auf Techniken, die Wasser von den vier-, fünftausend Meter hohen Bergketten, die das Land durchziehen, so
geschickt zu verteilen, dass die Städte aufblühen und die entferntesten Dörfer sich selbst ernähren können.
Wenn Iran für etwas bewundert, zum Vorbild genommen wurde in der alten Welt, bis nach China, bis nach
Rom, wenn das Land der Weltzivilisation etwas geschenkt hat, dann seine Kunst, die Erde fruchtbar zu
machen. Und am herrlichsten leuchtete Isfahan, durch das der breite, hier bereits handzahme, gleichsam
zivilisierte, aber immer noch Leben spendende Fluß strömt, darüber wie Goldstreifen die zwei anmutigsten
Brücken der Welt.

Dass Isfahan die ›Hälfte der Welt‹ genannt wird […], habe ich nicht nur irdisch verstanden, als Ausdruck der
Vielfalt, des Alters und der Pracht, sondern immer auch so, daß die menschengemachte Stadt für die
paradiesische Hälfte des Universums steht, während die Wüste, das unzugängliche Gebirge, die Naturgewalt
die andere Hälfte ausmacht. Isfahan den Fluß zu nehmen ist – nein, kein Massaker, so viele Wunden sind
Isfahan bereits zugefügt worden in den letzten Jahrzehnten, Abrisse, Schnellstraßen mitten durch die
Altstadt, der Verkehr, all der Trubel, die Hektik, die Überbevölkerung, die Auswanderung oder innere
Migration der Gebildeten, Künstler, Literaten – Isfahan den Fluß zu nehmen ist der Todesstoß – so kommt es
mir vor […]. Sollte die UNESCO drohen, den Titel Weltkulturerbe zu entziehen oder der nächste Führer aus
Isfahan stammen, wird man die Schleusen vielleicht sogar das ganze Jahr aufdrehen, ausgeschlossen ist das
nicht. Aber ich weiß jetzt, wie der Fluß ohne Leben aussieht, das Bild bekomme ich nicht mehr aus dem
Kopf. Ich weiß, daß ich das nächste Mal nicht gern zurückkehren mag“ (Navid Kermani S. 393 f.).

ham, 26. Februar 2018

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